Es brodelt überall!

Es brodelt überall!
Die „freie“ Welt, in der die sozialen Rechte und die gewerkschaftlichen Freiheiten noch einen Sinn,
eine gewisse Tiefe oder ein wenig demokratischen Inhalt haben, drängt sich auf einem immer enger
werdenden Flecken Erde zusammen. Wird auch Belgien schon bald von dieser Landkarte
verschwinden?
Es ist noch keine zehn Jahre her, dass die internationale Solidarität mit gefangen genommenen
Gewerkschaftern uns weite Reisen abverlangte; z. B. nach Lateinamerika. In den letzten Monaten
haben wir uns dagegen nach Griechenland, Spanien oder ... Frankreich aufgemacht, um unsere
Empörung angesichts der Inhaftierung der Aktivisten von Poem, Airbus oder Goodyear zum Ausdruck
zu bringen. Sobald sie gegen ein Unternehmensmanagement aufbegehren, dessen einziges Ziel in der
Zufriedenstellung der Aktionäre besteht, werden immer mehr Gewerkschafter auf eine Art und
Weise unterdrückt, wie es dies bislang hier in Europa nicht gab.
In Belgien signalisieren die Arbeitgeberschaft und die rechtsliberal/flämisch geprägte Regierung mit
zunehmend autoritärem Auftreten Bereitschaft, der Ausübung des Streikrechts einen Riegel
vorzuschieben. Die Gewerkschaften zu zügeln – zu knechten? – steht auch in England, Italien,
Finnland und anderen Ländern auf der Tagesordnung.
Von der Türkei ganz zu schweigen. Weit davon entfernt, als Beispiel der Sozialdemokratie zu gelten,
hat das Land inzwischen generell kaum noch Modellcharakter. Die Angriffe gegen das kurdische Volk,
die Übernahme staatskritischer Medien oder auch die Verherrlichung Hitler-Deutschlands durch den
Staatspräsidenten sprechen Bände. Ende des letzten Monats kündigte die Geschäftsleitung des
Renault-Werkes in Bursa eine Vereinbarung mit den Arbeitnehmervertretern über die Ausrichtung
von Sozialwahlen ... auf Druck von Ankara. Sie entließ daraufhin ein Dutzend Beschäftigte, darunter
mehrere Gewerkschaftsvertreter. Sie bemühte die Ordnungskräfte, um – mit unerhörter Gewalt –
eine von der Metallerzentrale Birlesik Metal organisierte Solidaritätskundgebung zu zerstreuen. Zum
selben Zeitpunkt wurde im Werk eine Gruppe von Streikenden eingekreist und anschließend von
privaten Wachleuten über mehrere Stunden an der Aufnahme von Nahrung oder Wasser gehindert.
Man bedenke: Das Land, in dem dies geschieht, bewirbt sich um den EU-Beitritt ...
Keine kampflose Ergebung!
Während dieser Zeit versucht die belgische Arbeitgeberschaft, mit Unterstützung und Anleitung der
Michel-Regierung (oder ist es vielleicht umgekehrt?), die Ausübung des Streikrechts zu beschneiden
und die Gewerkschaften vor Gericht verantwortlich zu machen. Der Premierminister droht den
Verhandlungspartnern auf Gewerkschaftsseite damit, die Hunde loszulassen. Angeblich sollen
nämlich in Kürze zwei Gesetzesvorschläge aus der liberalen Küche des Nordens und des Südens dem
Parlament vorgelegt werden. Selbst eine Regierungsinitiative sei im Fall eines Scheiterns der
„Zehnergruppe“ nicht mehr ausgeschlossen.
Diese Drohung zeugt von schuldbewusster Naivität oder auch von wahnsinniger Leichtfertigkeit, gibt
vor allem aber Aufschluss über die abgrundtiefe Kluft zwischen der politischen Macht und der
Realität der Werkshallen, der Büros und der Verwaltungen. Es wäre nicht schlecht, wenn die
Phantasten so langsam auf den Boden der Tatsachen zurückkehrten. Die Beschäftigten werden ihre
Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Wirtschaft niemals kampflos aufgeben. Sie werden
angesichts eines für die Wirtschaft völlig sinnlosen Indexsprungs bei gleichzeitigem Einfrieren der
Arbeitsentgelte, die zu nichts anderem als einem explosionsartigen Anstieg der Kapitalvergütungen
geführt haben, auf anstehende Lohn- und Gehaltsverhandlungen nicht verzichten. Da können die
Rechten ruhig weiterträumen. Sogar in mehreren Farben ...
Eine französische Regierung, die nur dank des Wahlergebnisses der Linken gewählt wurde, macht
gerade die schmerzhafte Erfahrung eines bitteren Erwachens. Bei dem Versuch, eine Änderung des
Arbeitsgesetzes durchzusetzen, mussten Ministerin El Khomri, Valls und Co. dabei zusehen, wie sie
binnen weniger als vierzehn Tagen von einer wahren Rücktritts- und Amtsverzichtswelle überrollt
wurden. Ein regelrechter Aufstand entbrannte auch in den so genannten „sozialen“ Netzwerken
(#Onvautmieuxqueça, wörtlich: „Wir sind mehr wert als das“), wo junge und auch weniger junge
Menschen eine Petition starteten und bis heute (5. März) über eine Million Unterschriften
zusammentrugen, eine Demonstration für den 9. März und eine weitere für das Ende des Monats
ankündigten ... Und bemerkenswerterweise weigern sich die Protestierenden systematisch, die
Gewerkschaften verantwortlich zu machen. Damit hatten El Khamri, Valls und Co. nicht gerechnet.
Michel I. soll getrost weiterträumen. Weder der von den Polizeigewerkschaften angefochtene
„Medusa-Plan“ noch die Schließung der belgisch-französischen Grenze an der „Vlaamse kust“ wird
ausreichen, um die soziale Bewegung jenseits von Quiévrain in sechseckige Schranken zu weisen.
Insofern diese Bewegung überhaupt notwendig ist, um die hiesigen Arbeitnehmer zu mobilisieren ...