Abschreckung muss neue Normalität sein

An der Front
Die Peschmerga kämpfen im Nord­
irak gegen die Mordbanden des
»Islamischen Staats«. Politische
Differenzen mit anderen kurdischen
Organisationen haben kaum prak­
tische Relevanz. Zu Gast bei der Pa­
triotischen Union Kurdistans.
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Sanktionsregime
Lohndumping
Arbeitskampf
Regimewechsel
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Hartz-IV-Reform soll Klarheit für Bezie- Deutsches Rotes Kreuz bezahlt soziale
her schaffen. Leichter wird vor
Arbeit in Flüchtlingsheimen nach
allem das Kürzen und Streichen
Hotel- und Gaststättentarif
Spontaner Ausstand: Belgische Eisenbahner legen Arbeit nieder.
Von Gerrit Hoekman
Chef der »Volksrepublik Donezk«
nennt Bedingungen für eine Reintegration in ukrainischen Staat
Streik auch elektrisch
Erneut Flüchtlingsboot
vor Libyen gekentert
Rom. Unweit der libyschen Küste ist
am Donnerstag erneut ein Flüchtlingsboot mit mindestens 100 Insassen im Mittelmeer gesunken. 20 bis
30 Menschen könnten bei dem Unglück ums Leben gekommen sein,
sagte Rino Gentile, ein Sprecher
des EU-Marineeinsatzes »Eunavfor
Med«. Mehrere Dutzend Menschen
seien von einem spanischen Schiff
gerettet worden. Gleichzeitig seien
aus Flugzeugen den Flüchtlingen
im Wasser, die sich teilweise an das
Holzboot klammerten, Schwimmwesten zugeworfen worden.
Die italienische Küstenwache
wollte die Zahl der Opfer zunächst
nicht bestätigen, erklärte aber, sie sei
mit zwei Schiffen im Einsatz. Der
Sprecher Marco Di Milla sagte, 88
Flüchtlinge seien gerettet worden.
Insgesamt koordiniere die Küstenwache seit Donnerstag morgen etwa 20
Rettungseinsätze, bei denen bereits
1.000 Menschen in Sicherheit gebracht worden seien. (dpa/jW)
Achter Aktionstag gegen Arbeitsrechtsnovelle in Frankreich: Nach den Raffinerien
Ausstände auch in allen Atomkraftwerken. jW-Bericht
EPA/CHRISTOPHE PETIT TESSON
M
Gysi: Die Linke ist
»saft- und kraftlos«
AKW Nogent sur Seine am Donnerstag: Gewerkschafter blockieren die Hauptzufahrt
Das deutsche Auswärtige Amt warnte
Frankreich-Reisende vor »Verteilungsengpässen bei Benzin- und Dieselkraftstoff«. Allerdings entspannte sich die
Lage an den Zapfsäulen langsam: Nach
Angaben des Erdölindustrieverbandes
Ufip hatte gestern noch rund ein Fünftel
der etwa 11.500 französischen Tankstellen Versorgungsschwierigkeiten, zuvor
war es rund ein Drittel.
In dem Streit um die von der EU
unterstützte und an die deutsche »Agenda 2010« angelehnte Verschlechterung
des Schutzes für Beschäftigte fährt die
Regierung von Staatschef François Hollande eine harte Linie: Sie ließ Polizei
auf Demonstranten los und bekräftigte
ein Festhalten an dem Vorhaben, mit
dem unter anderem die Regelungen zur
35-Stunden-Woche gelockert und betriebsbedingte Kündigungen erleichtert
werden sollen. Vorwand ist die hohe
Arbeitslosigkeit. Premier Valls deutete
am Donnerstag gegenüber den Sendern
RMC und BFMTV einen taktischen
Rückzug an: »Es kann immer Veränderungen und Verbesserungen geben.« Er
betonte zugleich: »Es ist ausgeschlossen, den Rahmen zu ändern.« Er erklärte: »Wir werden sehen, aber an der
Philosophie des Textes wird sich nichts
ändern.« Finanzminister Michel Sapin
brachte Änderungen an dem besonders
kritisierten Vorhaben ins Spiel, Be-
triebsvereinbarungen bei Arbeitszeiten
Vorrang vor Branchenvereinbarungen
zu geben. Valls widersprach dem aber
umgehend: Der entsprechende Artikel
zwei der Gesetzesvorlage werde »nicht
angefasst«.
Die französische Regierung hatte
die Arbeitsrechtsnovelle auf Druck der
Gewerkschaften schon in mehreren
Punkten abgeschwächt. Vor zwei Wochen verabschiedete sie die Gesetzesvorlage unter Umgehung der Nationalversammlung. Der französische Senat
wird sich ab Mitte Juni damit befassen.
Am 14. Juni – mitten in der FußballEuropameisterschaft – ist ein weiterer
Aktionstag gegen die Reform geplant.
»Abschreckung muss neue Normalität sein«
Estland: Regierungschef fordert ständige NATO-Präsenz im Baltikum. Steinmeier für Dialog mit Moskau
A
ngesichts einer angeblichen
Bedrohung, die von Russland
für die baltischen Staaten ausgehe, fordert Estland eine ständige Anwesenheit von NATO-Truppen in der
Region. »Wir brauchen die durchgängige Präsenz von jeweils einem Bataillon der NATO in Estland, Lettland und
Litauen«, sagte der estnische Ministerpräsident Taavi Roivas der Zeitung Die
Welt (Donnerstagausgabe). »Abschreckung muss die neue Normalität sein.«
Bundesaußenminister Frank-Walter
Steinmeier (SPD) mahnte vor einem
Besuch der Region unterdessen einen
Dialog mit Moskau an.
Die NATO hat sich verpflichtet, keine Kampftruppen dauerhaft in ihren
osteuropäischen Mitgliedsländern zu
stationieren. Bei seinem Gipfel im Juli in Warschau will das Kriegsbündnis
aber beschließen, dass Truppen der Allianz abwechselnd regelmäßige Übungen in den baltischen Staaten abhalten. Estlands Regierungschef sagte mit
Blick auf diese Pläne einer rotierenden
Truppenpräsenz, es dürfe keine Lücken
geben. Am Mittwoch hatten Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Polen
angekündigt, als Bestandteil der wech-
selnden Truppenverbände im kommenden Jahr jeweils 150 Soldaten ins Baltikum zu schicken.
Steinmeier begrüßte, dass vor dem
Gipfel in Warschau ein Treffen des NATO-Russland-Rates stattfinden werde.
Der Westen müsse mit Moskau in einen
Dialog treten, um verlorengegangenes
Vertrauen wiederherzustellen, forderte der Außenminister. »Wir brauchen
Russland, um die großen internationalen Krisenherde zu bewältigen – in
Syrien und bei unseren Bemühungen
einer Stabilisierung Libyens.« Steinmeier traf am Donnerstag Regierungs-
vertreter in Litauen und Lettland und
will am heutigen Freitag Gespräche in
Estland führen. Zur Frage einer Verlängerung der Sanktionen gegen Russland
sagte Steinmeier, dazu werde es in der
EU schwierige Diskussionen geben. In
einigen Mitgliedsstaaten gibt es Vorbehalte gegen die im Zusammenhang
mit dem Ukraine-Konflikt verlängerten
Strafmaßnahmen . Polen und die baltischen Staaten haben sich wiederholt
dafür ausgesprochen, den Druck auf
Moskau auf diese Weise aufrechtzuerhalten. (AFP/jW)
Siehe Kommentar Seite 8
MICHAEL KAPPELER/DPA-BILDFUNK
it einem neuen Protesttag
und Streiks in Atomkraftwerken haben Frankreichs
Gewerkschaften sowie Studenten- und
Schülerorganisationen im Konflikt um
eine von der sozialistischen Regierung
geplante Verschlechterung des Arbeitsrechts den Druck erhöht. Aktivisten errichteten zahlreiche neue Straßenblockaden, im ganzen Land demonstrierten
Menschen, in Atomkraftwerken wurde
die Stromproduktion gedrosselt. Offenbar beeindruckt von den Protesten stellte Premierminister Manuel Valls den
Gewerkschaften ein Entgegenkommen
in Aussicht, ohne aber konkret zu werden.
Mit dem achten landesweiten Aktionstag rund zwei Wochen vor Beginn
der Fußball-Europameisterschaft wurde der Konflikt endgültig zu einer der
härstesten Auseinandersetzungen der
vergangenen Jahre. »Das Ziel ist eine wirtschaftliche Blockade, denn die
Wirtschaft hat dieses Sozialdumping
angeordnet«, zitierte die Nachrichtenagentur AFP Pascal Busson von der
Gewerkschaft CGT. Bereits in den vergangenen Tagen hatte die Blockade von
Raffinerien und Treibstoffdepots zu
Engpässen bei Benzin und Diesel und
zu langen Schlangen an Tankstellen geführt. Nun nahmen die Gewerkschaften
die Stromversorgung ins Visier: Nach
Angaben der CGT hatten die Belegschaften aller 19 Atomkraftwerke des
Landes für einen Streik am Donnerstag
gestimmt. In einer Reihe der Energiezentralen wurde demnach bereits in der
Nacht die Stromversorgung gedrosselt.
Der Netzbetreiber RTE erklärte am
Mittag, es gebe bislang keine Probleme bei der Stromversorgung. Auch der
Eisenbahnverkehr und der Flughafen
Paris-Orly waren von Streiks betroffen.
Berlin. Der Exfraktionschef von Die
Linke, Gregor Gysi, hat seine Partei
als »saft- und kraftlos« kritisiert.
Offenbar mit Blick auf den für das
Wochenende in Magdeburg angesetzten Bundesparteitag erklärte
der Politiker am Donnerstag, die
Linke sei im Osten nicht mehr die
Protestpartei, eher im Westen. »Das
wäre gar nicht so schlimm«, sagte
er in einem Interview des »Redaktionsnetzwerks Deutschland«. »Aber
man spricht uns auch die Gestaltungskraft ab, weil wir auf Bundesebene den Eindruck vermitteln,
nicht in die Regierung zu wollen.«
Es schockiere ihn, fuhr Gysi fort,
»dass auch Arme, Abgehängte und
Arbeitnehmer die AfD wählen«.
Die Linke hatte bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im März
deutliche Verluste hinnehmen
müssen, zugleich war die AfD mit
gut 24 Prozent zweitstärkste Kraft
geworden. (dpa/jW)
Siehe Interview Seite 2
wird herausgegeben von
1.832 Genossinnen und
Genossen (Stand 29.4.2016)
n www.jungewelt.de/lpg