Polen: „Mein Körper gehört mir“ Tausende demonstrieren gegen geplantes Abtreibungsverbot ▶ Seite 11 AUSGABE BERLIN | NR. 10990 | 15. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MONTAG, 11. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Geständnis eines Linken Lobbyverein: „Die Quote wirkt“ ESSAY Wer links fühlt, muss die neue Abschottungspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisieren. Oder doch nicht? Der Leiter des taz-Parlamentsbüros bekennt seine Zweifel an den linken Alternativen und seinen eigenen kleinen Seit einem Jahr müssen Aufsichtsräte mehr Frauen benennen TOPJOBS BERLIN taz | Rund 24 Prozent Frauen gibt es laut einer Untersuchung des Vereins FidAR („Frauen in die Aufsichtsräte“) derzeit in den Aufsichtsräten der größten deutschen DAXKonzerne. Vor sechs Jahren waren es knapp 12 Prozent. Das sei eine Folge des sogenannten Quotengesetzes, das seit knapp einem Jahr gilt, ist sich FidARPräsidentin Monika Schulz-Strelow sicher. Das Gesetz schreibt börsennotierten und mit bestimmungspflichtigen Un ter nehmen vor, mindestens 30 Prozent Frauen im Kontrollgremium zu haben. Erreichen die Konzerne diese Zahl nicht, bleibt der „Frauen“-Platz leer. ▶ Schwerpunkt SEITE 4 HAMBURG Wer sie ist? Sagt Haiyti nicht. Was sie macht? Dahingerotzten Rap ▶ SEITE 13 MEXIKO Wo Schriftstel- ler Asyl bekommen? In der Casa Refugio Citlaltépetl ▶ SEITE 15 SARAJEVO Wo Araber urlauben ▶ SEITE 5 BERLIN Evangelische Kirche traut jetzt Lesben und Schwule ▶ SEITE 21 Lesbos, 8. April. Merkels Politik wird exerziert. Ein Frontex-Mitarbeiter begleitet einen Migranten an Bord zur Fahrt in die Türkei Foto: P. Giannakouris/ap Foto: Dustin Janko VON ULRICH SCHULTE VERBOTEN Gute Reise, meine Damen und Herren! Nach den Anschlägen in der Türkei, Ägypten und Tunesien verlagern sich die Fluchtrouten (siehe: taz.de/fluchtrouten). Im westlichen Mittelmeerraum gebe es erhebliche Zuwachs raten, sagte Fritz Joussen, Chef der weltgrößten Schlepper organisation TUI, der Flücht lingspostille Bild am Sonntag. 2016 erwarte man Rekord zahlen in Spanien, man habe dort zusätzlich für 26 Millionen Euro Schlafplätze eingekauft. Dort bleiben Neuankömmlinge bis zu drei Wochen. Dennoch warnte der Schlepperkönig: Ich muss ein Geständnis ablegen. Irgendwo, ganz hinten rechts im Kopf, steckt dieser Zweifel. Er piekst, nervt, ist aber leider nicht totzukriegen, seit Monaten schon. Zweifel sind anstrengend, wenn man Parlamentskorrespondent einer kleinen, linken und sehr meinungsf eudi en Zeitun ist. W der mal mu ein Komm ar gesc ben we n ü er An Me ls htlingsp k. Kl r, f u d po ve si . Wi rk z l d A tung Europas still und leise organisiert hat, das kann nicht gut finden, wer sich linksliberal, progressiv und weltoffen fühlt. Was ist die Vereinbarung der EU mit der Türkei anders als schäbig, schließlich lagert die EU ihr moralisches Dilemma in einen Staat aus, der Menschenrechte mit Füßen tritt. Oder? J tzt flüst rt der Zweif l im K f, mit einem feinen, hohen Stimmchen. Weißt du es besser, du Schlaumeier? Willst du offene Grenzen? Möchtest du, dass noch viele Millionen Flüchtlinge kommen? All die Müden, Armen und Heimatlosen, die Ausgebombten und Verzweifelten aus dem Nahen Osten? Es schmerzt, das zuzugeben. Aber die Antwort auf diese Fragen ist: Nein, lieber nicht. Ich würde ja gern behaupten, dass dieses Land problemlos fünf, zehn oder fünfzehn Millionen Geflüchtete aufnehmen könnte. Aber ich glaube nicht daran. Die aufgeheizte Stimmung in der Republik spricht dagegen. Schon jetzt, mit einer überschaubaren Zahl Geflüchteter, in einer luxuriösen Haushaltsund Wirtschaftssituation, trieft die Hetze aus allen Ecken. Was wäre hier los, wenn es Massenarbeitslosigkeit gäbe – und fünf Millionen Flüchtlinge in den Sozialsystemen? Man will es sich nicht ausmalen. Außerdem meldet sich mein kleiner deutscher Egoismus. Jener fürchtet, etwas könne mit diesem liberalen, sicheren und reichen Land passieren, wenn zu schnell zu viele Fremde aus völlig anderen Kulturkreisen dazukommen. Das ist eine diffuse, wahrscheinlich unbegründete Befürchtung, ich weiß. Trotzdem, der Zweifel bleibt. „Es werden nicht alle nach Mallorca kommen, die nach Mallorca wollen.“ Cameron jetzt durchsichtig Britischer Premier veröffentlicht seine Steuererklärung PANAMA PAPERS LONDON dpa | Der durch die Pa- nama Papers unter Druck geratene britische Premierminister David Cameron hat am Sonntag Daten seiner Steuererklärungen der vergangenen sechs Jahre veröffentlicht. Danach zahlte er 2014–2015 knapp 76.000 Pfund Steuern. Die Offenlegung hatte Cameron am Samstag bei einer Versammlung seiner konservativen Partei versprochen, während Demonstranten seinen Rücktritt forderten. Er war in die Schusslinie geraten, weil er erst nach tagelangem Zögern eingestanden hatte, Geld in einem Offshore-Trust seines Vaters in Panama angelegt zu haben. ▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 8 ▶ Ausland SEITE 10 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.754 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 10615 4 190254 801600 KOMMENTAR VON SIMONE SCHMOLLACK ZUR BERUFUNG VON FRAUEN IN DIE DAX-AUFSICHTSRÄTE W Die Quote lässt hoffen: auf mehr er hätte gedacht, dass fast alle großen DAX-Unternehmen tatsächlich mehr Frauen in ihre Aufsichtsräte berufen? Dass sie das sogenannte Quotengesetz, das am 1. Mai 2015 in Kraft trat, ernst nehmen? So ernst, wie sie sich früher vielfach gegen eine gesetzliche Vorgabe zu mehr Frauen an der Unternehmensspitze gewehrt hatten. Ist doch alles prima, könnte man jetzt sagen. Ziel erreicht. Die Frauen, die für die 30-Prozent-Marke jahrelang knallharte Lobbyarbeit betrieben haben, die sowohl mit Geschlechtergerechtigkeit als auch mit besseren Unternehmensergebnissen argumentierten, können jetzt die Füße hochlegen. Machen sie aber nicht. Denn sie wissen: Aufsichtsrats- und Vorstandsposten sind eine elitäre, exklusive Angelegenheit für wenige, sehr gute und sehr gut ausgebildete Akademikerinnen. Was aber ist mit all den anderen Berufstätigen, die in den Ebenen darunter Außerordentliches leisten? Die ebenfalls sehr viel und sehr hart arbeiten, die auf Privatleben verzichten – der Sache wegen und für den Firmenerfolg? Um die muss es auch gehen. Und um die geht es auch. Im nächsten Schritt beim Engagement der Aktivistinnen für die Quote oder besser: für Geschlechtergerechtigkeit. Dazu zählt eben nicht nur, den Testosteronspiegel in den Spitzen- ämtern aufzuweichen. Dazu zählt auch, in den Unternehmen eine familiengerechte und diverse Unternehmenskultur zu entwickeln: wichtige Absprachen nicht mehr nur für einen ausgewählten Personenkreis abends in der Kneipe, mehr Fachkräfte aus anderen Kulturen, flexiblere Arbeitsmöglichkeiten. Und dazu zählt vor allem, dass Frauen endlich genauso wie Männer bezahlt Pflichtanteil ist das eine, Geschlechtergerechtigkeit das andere. Um die geht es werden, wenn sie die gleiche Arbeit tun. Klassische „Frauenjobs“ also ideell und finanziell aufzuwerten. Würden all die Frauen in der Alten-, Kranken- und Kinderpflege ihre Arbeit verweigern, würden all die Männer, die davon profitieren, ganz schnell andere Tarife einführen. Über all diese Ungerechtigkeiten diskutiert dieses Land schon reichlich lange. Passiert ist allerdings nicht allzu viel. Deshalb ist die Frauenquote so wichtig, denn sie sendet ein Signal: Jetzt ist Schluss mit lustig. Die Quote ist Hoffnung: Mehr Frauen an der Spitze haben mehr Einfluss auf geschlechtergerechte Entscheidungen in allen Ebenen der Unternehmen. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG taz.zahl ich MONTAG, 1 1. APRI L 2016 Die Zukunft des taz-Journalismus braucht die Solidarität seiner LeserInnen Geld ist nicht alles. Aber ohne Geld lesen alle nichts PERSPEKTIVEN Warum ■■ taz.de kostet Geld, dennoch soll niemand dafür bezahlen es wichtiger ist, eigene Wege zu gehen, anstatt einfach nur Entwicklungen aus den USA zu kopieren. Zwölf Gedanken zur digitalen Zukunft müssen. Unsere Inhalte sind deshalb kostenlos für alle lesbar. Mehr als 7.500 LeserInnen ermöglichen dies durch ihren solidarischen Beitrag zu taz.zahl ich. Gemeinsam sichern sie den freien Zugang für alle – auch für die, die sich keinen Beitrag leisten können. Doch damit das so bleiben kann, brauchen wir noch mehr Unterstützung. ■■ Machen Sie mit und schenken Sie sich und anderen den freien Zugang zu unabhängiger Presse: mit einem regelmäßigen Beitrag zu taz.zahl ich. So wie die wichtigen taz-Abos die journalistische Unabhängigkeit unserer täglichen Ausgabe und der taz. am wochenende sichern, so sichert taz.zahl ich die Unabhängigkeit von taz.de. ■■ Beteiligen Sie sich, damit taz.de für alle kostenlos nutzbar bleibt: www.taz.de/schenkich Oettingers Monster ■■betr.: Deine Meinung zur Zukunft des Journalismus in der taz Liebe taz, herzliche Grüße aus Brüssel. Gerade komme ich von einer Veranstaltung mit EU-Digitalkommissar Günther Oettinger, den Verlage dazu drängen, in Europa ein neues juristisches Monster zu erschaffen. Es soll der große Bruder des kleinen Ungeheuers werden, das in Deutschland gerade aus gutem Grund einen langsamen Tod stirbt: Das „Leistungsschutzrecht“ – ein kompliziertes Konstrukt, um Google Geld abzuluchsen und an Verlage umzuverteilen. Mit Parlamentariern und Vertretern der Digitalindustrie haben wir darüber diskutiert, ob guter Journalismus wirklich mehr staatliche Interventionen braucht, um überleben zu können. Spätestens als Günther Oettinger die Unterstützung der Presse in einem Atemzug mit jener der öffentlich-rechtlichen Sender nannte, begann ich, mir ernsthaft Sorgen um uns zu machen: Wir dürfen nicht ruhen, bis wir unseren Journalismus auf neue Füße gestellt haben, die Zwangssubventionierung durch Google, Facebook, die nächste große Plattform oder gar den Staat unnötig machen. Wie das gehen soll? Liebe taz, Du bist ein gutes Beispiel dafür, wie das geht. Vielleicht wunderst Du Dich selbst ein wenig, dass Du neuerdings zu den Hipstern der Medienindustrie zählst, weil Du in den frühen 90ern die heute so angesagte Crowdfinanzierung entdeckt hast. taz.zahl ich, eine freiwillige Digitalabgabe treuer Leser, für die Du heute wieder einmal wirbst, ist die konsequente Fortsetzung des Genossenschaftsprinzips ins flüchtigere Medium. Ich zahle gerne, obwohl ich meistens nur den ©TOM lese – bitte grüße ihn herzlich von mir! – und ab und zu nachsehe, ob die Kriegsreporterin uns beschimpft hat (keine Grüße!). Ich will zum Club der losen taz-Freunde gehören, ohne Lebenszeit auf Genossenschaftsversammlungen zu vergeuden. Auch den tazpresso finde ich großartig, die Fahrräder, ©TOMTassen, den Ökodünger und das Café im Erdgeschoss. Du hattest ohnehin nie nennenswerte Anzeigenerlöse und zeigst vielen Verlagen, bei denen sie jetzt sinken, wie das alles in Zukunft zu finanzieren ist: nicht mit dem nächsten großen Ding, sondern mit eigenständigem Journalismus, einer begeisterten Leserschaft, einem Kleintierzoo von Erlösmodellen und klugen Investments, und seien es Immobilien. Journalismus, der sich nachhaltig selbst finanzieren kann, ist mit Subventionen nicht aufzuwiegen. Herzlich, Dein Jochen Wegner Jochen Wegner ■■ Jahrgang 1969, ist seit März 2013 Chefre- dakteur von Zeit Online. Der studierte Physiker und Philosoph erforschte die Chaostheorie des Gehirns, bevor er zum Journalismus wechselte. Er war beim Focus Printressortleiter Wissen und Onlinechefredakteur sowie Geschäftsführer der Tomorrow Focus Media. Foto: privat Außerdem: Start-up-Gründer (mag10), Unternehmensberater (wegner.io) und Buchautor („Warum immer ich?“). 5. Die Deutschen sind also in der Online-Welt etwas langsam. Daraus muss sich keine Fortschrittsfeindlichkeit ergeben. Diese Erkenntnis könnte eher die nötige Entspanntheit bringen, um sich auf die Entwicklungen zu konzentrieren, die zur eigenen Zeitung und den eigenen Leser_innen passen. 6. Tocotronic gehören 20 Jahre nach der Seattle-Nostalgie zu den erfolgreichsten deutschen Bands. Das wären sie aber nicht, würden sie wie damals noch Trainingsjacken tragen und hätten sie nicht Rick McPhail dazugeholt. 7. Etwas Eigenes zu begründen ist ein erster Schritt – und dann muss die Entwicklung weitergehen. Die taz geht schon immer ihren eigenen Weg. Von ihrer Gründung, über die Genossenschaft bis zum freiwilligen Bezahlmodell „taz.zahl ich“. Darum geht es einerseits: zahlen für die taz, nicht für den einzelnen Text. Illustration: Donata Kindesperk Entspannt durch Neuland VON KATRIN GOTTSCHALK Digital ist besser – das haben sich 1995 sowohl Tocotronic als auch die taz gedacht. Letztere geht in diesem Jahr als erste deutsche Tageszeitung online, und Tocotronic veröffentlichen mit „Digital ist besser“ ihr erstes Album. Einer der Songs handelt von der Musikrichtung Grunge, so gut, aber unerreichbar weit weg: „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“. Mit Tocotronic und ihrem Fernweh entsteht schließlich eine ganz eigene Musikrichtung, die Hamburger Schule. Aus der Kombination dieser beiden Geschichten, von taz und Tocotronic, ergeben sich zwölf Punkte für die Zukunft des Journalismus. 1. Das Alte interessiert die Jungen nicht mehr. Verlage verdienen zwar mit dem Verkauf von gedruckten Zeitungen noch Geld, allerdings immer weniger. Immer mehr Menschen lesen digitale Produkte – de nen allerdings ein ausreichendes F inanzierungskonzept fehlt. Wie kann dieser Medienwandel gelingen? 2. „Wir sind hier nicht im Silicon Valley, Katrin.“ Viele starren auf der Suche nach Antworten in Richtung USA. Doch Deutschland ist anders. Der hiesige Altersdurchschnitt beträgt 46 Jahre gegenüber 38 Jahren in den Vereinigten Staaten. Das spielt für die Entwicklung des Onlinejournalismus eine Rolle. 8. 3. Was haben wir sie 2013 ausgelacht, als Angela Merkel ihr Unwissen über das Netz preisgab und es „Neuland“ nannte. Aber auch hier haben die Deutschen die Kanzlerin, die zu ihnen passt. Die Wirtschaftswoche schrieb etwa im Herbst von den „digital losers“: Nur jede_r zwölfte Manager_in hierzulande sei fit für die digitale Transformation. 4. Alle reden über Facebook – aber nur die Hälfte aller Internetnutzer_innen ist in Deutschland überhaupt in sozialen Netzwerken unterwegs. In den USA sind es 76 Prozent. Auch kommen nicht alle nur noch über soziale Medien auf Nachrichtenseiten – auf taz.de sind es nur 13 Prozent. Katrin Gottschalk Auch wenn manche meinen, es zähle nur noch die Marke der einzelnen Journalistin – am Ende zählt das Gesamtpaket. Und das ist mehr als die Summe der einzelnen Teile. Guter Journalismus ist Teamarbeit und wird auch als solche wahrgenommen. Selbst auf Facebook folgen Nutzer_innen lieber einem Medium, nicht den einzelnen Schreibenden. 9. Das Team braucht Geld. Das Prinzip „Wir machen online erst einmal und dann kommt das Geld schon“ funktioniert nicht. Selbst eine New York Times mit all ihren Innovationen im digitalen Bereich müsste ihre Onlineaktivitäten einstellen, blieben die Printverkäufe weg. 10. „taz.zahl ich“ bedeutet aber auch: alle für eine. Es gibt keine Bezahlschranke für einzelne Artikel oder gar für die ganze Seite, sondern hier zahlen alle, damit die einzelne Person kostenlos lesen kann. Und damit taz.de sich weiterentwickelt. Weg mit den Trainingsjacken! 11. ■■ Jahrgang 1985, ist ab Ende April stellvertretende Chefredakteurin der taz. Von 2012 bis 2016 war sie Ko-Chefredakteurin des Missy Magazine und baute dessen Online aufritt auf. Foto: Oliveira Die taz ist seit 20 Jahren kostenlos online. Damit sie aber auch noch in 20 Jahren verlässlich die bürgerliche Medienlandschaft stört – egal ob auf Papier, über Smartphone oder Virtual Reality-Brille –, brauchen wir jetzt die Unterstützung dafür. 12. „Und alles, was wir hatten. Und alles, was wir machen. Schätzchen, lass es krachen. Und komm zu mir.“ taz.zahl ich MONTAG, 1 1. APRI L 2016 Flüchtlinge TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Angela Merkel hat Wort gehalten. Immer weniger Asylsuchende erreichen Deutschland. Ist das vielleicht doch eine gute Nachricht? Geständnis eines Linken ESSAY Wer links fühlt, muss die neue Abschottungspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisieren. Oder doch nicht? Der Leiter des taz-Parlamentsbüros bekennt seine Zweifel an den linken Alternativen und seinen eigenen kleinen deutschen Egoismus Da ist diese beschämte Erleichterung, wenn der Minister bekannt gibt, dass nur noch wenige kommen Lesbos, 8. April. Merkels Politik wird exerziert. Ein Frontex-Mitarbeiter begleitet einen Migranten an Bord zur Fahrt in die Türkei Foto: P. Giannakouris/ap VON ULRICH SCHULTE Ich muss ein Geständnis ablegen. Irgendwo, ganz hinten rechts im Kopf, steckt dieser Zweifel. Er piekst, nervt, ist aber leider nicht totzukriegen, seit Monaten schon. Zweifel sind anstrengend, wenn man Parlamentskorrespondent einer kleinen, linken und sehr meinungsfreudigen Zeitung ist. Wieder mal muss ein Kommentar geschrieben werden über Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Klar, scharf und pointiert versteht sich. Wie Merkel zum Beispiel die Abschottung Europas still und leise organisiert hat, das kann nicht gut finden, wer sich linksliberal, progressiv und weltoffen fühlt. Was ist die Vereinbarung der EU mit der Türkei anders als schäbig, schließlich lagert die EU ihr moralisches Dilemma in einen Staat aus, der Menschenrechte mit Füßen tritt. Oder? Jetzt flüstert der Zweifel im Kopf, mit einem feinen, hohen Stimmchen. Weißt du es besser, du Schlaumeier? Willst du offene Grenzen? Möchtest du, dass noch viele Millionen Flüchtlinge kommen? All die Müden, Armen und Heimatlosen, die Ausgebombten und Verzweifelten aus dem Nahen Osten? Es schmerzt, das zuzugeben. Aber die Antwort auf diese Fragen ist: Nein, lieber nicht. Ich würde ja gern behaupten, dass dieses Land problemlos fünf, zehn oder fünfzehn Millionen Geflüchtete aufnehmen könnte. Aber ich glaube nicht daran. Die aufgeheizte Stimmung in der Republik spricht dagegen. Schon jetzt, mit einer überschaubaren Zahl Geflüchteter, in einer luxuriösen Haushalts- und Wirtschaftssituation, trieft die Hetze aus allen Ecken. Was wäre hier los, wenn es Massenarbeitslosigkeit gäbe – und fünf Millionen Flüchtlinge in den Sozialsystemen? Man will es sich nicht ausmalen. Außerdem meldet sich mein kleiner deutscher Egoismus. Jener fürchtet, et- was könne mit diesem liberalen, sicheren und reichen Land passieren, wenn zu schnell zu viele Fremde aus völlig anderen Kulturkreisen dazukommen. Das ist eine diffuse, wahrscheinlich unbegründete Befürchtung, ich weiß. Trotzdem, der Zweifel bleibt. „Die Zahlen mussten runter“ Dies ist mein schmutzige Geheimnis. Die Flüchtlingszahlen müssen sinken. Da ist diese beschämte Erleichterung, wenn der Innenminister stolz bekannt gibt, dass nur noch wenige kommen. Ich sage das nur nicht allzu laut. Wer sich im weitesten Sinne dem rot-grünen Milieu zugehörig fühlt, wer von sich denkt, europäisch zu denken, gibt ungern zu, ein Problem mit unkontrollierter Einwanderung zu haben. Schließlich heißt das, ein lange gepflegtes Selbstbild zu hinterfragen. Und den Konservativen recht zu geben, zu denen man nie gehören wollte. Nicht schön, das alles. Die sogenannte Flüchtlingskrise, die in Wirklichkeit eine Krise für die geflüchteten Menschen ist, aber nicht für die verwöhnte deutsche Mittelschicht, stellt linke Denkschemata auf den Kopf. Da ist der Freund, zweifacher Vater, Großstädter, hilfsbereit wie kein anderer, der nach dem zweiten Bier sagt: „Die Zahlen mussten runter. Das wusste doch jeder.“ Da ist die kluge, weit gereiste Journalistin, Schwerpunkt Außenpolitik, die gesteht: „Merkel in die Pfanne hauen? Ich weiß doch auch keine Alternative.“ Da ist der grüne Spitzenpolitiker, der nach der Klausurtagung an der Hotelbar offen redet. „Für viele GrünenWähler hört der Spaß auf, wenn neben ihrer Tochter in der Grundschule zehn Arabisch sprechende Kinder sitzen.“ Ich fürchte, die drei liegen richtig, jeder auf seine Weise. Die Flüchtlinge waren für die „Linke“ – wenn man von ihr noch sprechen will – eine intellektuelle Überforderung. Es fehlte im deut- schen Diskurs ein modernes, weltoffenes, aber auch Schutz suggerierendes Konzept links von der Kanzlerin. Es ist nicht so, als hätten Linke keine guten Antworten für Migra tions fragen. Sie fordern seit Jahrzehnten Flüchtlingskontingente, die das reiche Europa aufnehmen müsse. Sie warben immer dafür, dass eine moderne Gesellschaft Einwanderung braucht. Fluchtursachen bekämpfen, die Forderung, die jetzt in aller Munde ist, ist ein linkes Konzept. Benachteiligten Ländern helfen, verantwortungsvoll konsumieren, Klimawandel bekämpfen – alles richtig. Doch das linksliberale Milieu hatte keine Antwort auf entscheidende Fragen, die menschliche Urängste berühren. Was passiert, wenn viele Fremde in meine Heimat kommen? Was, wenn sich die innere Verfasstheit einer Gesellschaft schnell ändert? Offene Grenzen – eine schöne Utopie Natürlich gibt es Argumente für das Konzept offener Grenzen und weltweiter Freizügigkeit, eine Idee, in der sich ironischerweise radikale Linke und marktliberale Wirtschaftsverbände treffen. Wer aber – wie ich – glaubt, dass offene Grenzen angesichts der Ungleichheit eine schöne Utopie sind, der musste sich an einem bestimmten Punkt eingestehen, ratlos zu sein. Viele Linke stürzte die Flüchtlingsdebatte in einen inneren, nicht auflösbaren Widerspruch. Sicher, der Staat möge möglichst viel Leid lindern, aber bitte schön nicht alle Leute in die Turnhalle um die Ecke stecken. Dieser paradoxe Wunsch markiert die linksliberale Leerstelle im Diskurs. Denn das Perfide an der Flüchtlingspolitik ist ja, dass Regierende gar nicht darumherum kommen, sich die Finger schmutzig zu machen. Jede Familie, die nicht nach Deutschland darf, bleibt momentan im Schlamm im griechischen Camp Idomeni sitzen. Aus Ideenlosigkeit entsteht manchmal Überanpassung. Dies haben die Grünen prototypisch vorgeführt. Die Oppositionspartei duckte sich über weite Strecken in den Windschatten der Kanzlerin, weil ihr insgeheim klar war, in welchem Dilemma ihre Wähler steckten. In dem Wahlsieg von Winfried Kretschmann, der bekanntlich für Merkel betete, verbirgt sich auch das Hin-und-her-gerissen-Sein grüner Milieus. Gut sein wollen alle, aber zu viel des Guten will niemand. Auch der linke Flügel der SPD oder die Linkspartei standen ratlos neben Merkel. Die einen schwiegen aus Regierungsräson, die anderen schwankten zwischen rechtslastigem Populismus à la Sarah Wagenknecht und einem realitätsfremden Programm. Die Performance der Parteien links der Mitte war, freundlich gesagt, schlecht sortiert. Die Konzepte der Konservativen schienen angreifbar, aber wenigstens hatten sie welche. Neben dem nationalistischen Gebrüll der CSU – wer will schon die Mauer wieder? – wirkte Merkels Weg angenehmer, sanfter, europäischer. Dabei will die Kanzlerin im Kern das Gleiche wie Seehofer, nämlich den deutschen Reichtum vor zu vielen Fremden schützen. Merkel hat früh betont, die EU-Außengrenzen „sichern“ zu wollen. Was dieser Euphemismus bedeutet, lässt sich jetzt an den griechischen Küsten und in der Türkei besichtigen. Trotzdem – oder gerade deshalb – bildete Merkel für die Skepsis vieler Linksliberaler eine ideale Projektionsfläche. Merkel gut finden, das bedeutete beides. Selbst human sein, aber auch die eigene kleine Befindlichkeit vor dem Elend der Welt schützen. Wegen der Ratlosigkeit der Linken verlegten sie sich auf Abwehrkämpfe, der Autor schließt sich ausdrücklich ein. Ich habe zum Beispiel alle Asylrechtsverschärfungen scharf kritisiert – als das schikanöse Werk engherziger Bürokraten. Ich fand es peinlich, wie schnell die angeblich humanen Grünen im Bundesrat zu Duckmäusern mutierten. Aber, wenn ich ehrlich bin, waren das Nebenpfade, die an dem entscheidenden Punkt vorbeiführten. Sollen wirklich alle kommen? Der Spiegel-Autor Nils Minkmar hat vor einigen Wochen geschrieben: „Es gibt kein Recht auf ein von der Geschichte unbelästigtes Leben.“ Diese Wahrheit hätten Merkel, aber auch SPD, Grüne oder Linkspartei ihren Wählern ehrlich ins Gesicht sagen müssen. Sie hätten hinzufügen können, dass die angeblichen Zumutungen durch Flüchtlinge keine Zumutungen sind. Kein Recht auf ein unbelästigtes Leben Es ist keine Katastrophe, wenn Sohn oder Tochter ein paar Monate keinen Sportunterricht bekommt. Es ist rassistisch, die arabischen Männer in der Fußgängerzone per se für gefährlich zu halten. Und wäre es bitte schön wirklich ein Problem, wenn ein gut verdienender Facharbeiter oder Architekt ein paar hundert Euro mehr Steuern im Jahr zahlen müsste? Ich hätte es großartig gefunden, wenn das offizielle Deutschland seine Hilfsbereitschaft länger und mutiger gegen die Angst verteidigt hätte. Wenn wir nicht eine, sondern ein paar Mil lio nen Menschen aufnehmen würden. Wenn die meisten Parteien und Medien nicht so getan hätten, als drohe ein nicht zu bewältigender Ausnahmezustand. Aber, um noch einmal die Kollegin zu zitieren: Soll man Merkel jetzt in die Pfanne hauen? Jene Merkel, die immerhin die Europäische Union zusammengehalten hat, die auseinanderzubrechen drohte? Die den klammheimlichen Wunsch vieler Linksliberaler jetzt durch einen brutalen Deal der Europäischen Union mit der Türkei erfüllt hat? Die Grünen meckern neuerdings wieder. Ich tue mich schwer.
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