taz.die tageszeitung

EU-Gipfel: Auf zum Dealen mit Erdoğan
Während in Griechenland Flüchtlinge stranden, treffen sich EU-Chefs und Türkei ▶ Seite 6, 11, 12, 13
AUSGABE BERLIN | NR. 10971 | 11. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
DONNERSTAG, 17. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE
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Mord ist sein Gemüse
LITERATUR „Ich versuche nachvollziehbar zu machen, wie jemand zum Mörder wird“:
Buchpreis-Kandidat Heinz Strunk über seinen Roman „Der goldene Handschuh“
▶ SEITE 3
Gut getarntes
EnergieNetzwerk
taz und „Monitor“
enthüllen Gefahr
von Vorteilsnahme
NRW
BERLIN taz | Rechtsexperten kri-
USA Nur Hillary Clinton
kann wohl noch einen
Präsidenten Donald
Trump verhindern.
­Große Hoffnung oder
nur kleineres Übel?
▶ SEITE 10, 14
NSU Beate Zschäpe
bleibt dabei: Ich war’s
nicht, die Uwes sind’s
gewesen ▶ SEITE 2
BERLIN Endlich Berg-
luft: Die Stadt bekommt
eine Seilbahn ▶ SEITE 21
Fotos oben: ap, reuters
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Papst Franziskus hat die für
Flüchtlinge geschlossenen
Grenzen in Europa scharf kritisiert und zu mehr Menschlichkeit aufgerufen. Viele
Menschen, die vor Krieg und
Gewalt flöhen, müssten an
den Grenzen ausharren, „weil
viele Türen und viele Herzen
geschlossen sind“, beklagte
Franziskus bei seiner Generalaudienz in Rom. verboten
begrüßt den Appell sehr, konnte aber bis Redaktionsschluss
nicht mehr klären, wie vielen
Flüchtlingsfamilien der Vatikan bisher seine „Herzen und
Türen“ geöffnet und ein Dach
über dem Kopf angeboten hat.
Zweien? Oder einer?
Erzählt die Geschichte des Frauenmörders Fritz Honka: Heinz Strunk, der mit „Fleisch ist mein Gemüse“ bekannt wurde Fotos (Montage taz): dpa, ullstein bild
tisieren Interessenkonflikte und
die Gefahr von Vorteilsnahme
bei der größten Energieagentur Deutschlands, der Energieagentur.NRW. Sie reagieren damit auf Recherchen der taz und
des ARD-Magazins „Monitor“,
die fragwürdige Eigentümerstrukturen und eine Doppelrolle
im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Gelder aufdecken.
Die
Energieagentur.NRW
kümmert sich für das Land um
Themen wie Energieforschung,
Energieberatung und Weiterbildung. Sie ist aber keine Landeseinrichtung, sondern profitiert als privates Unternehmen von öffentlichen Geldern.
Dabei betrieb ein Gesellschafter der Energieagentur.NRW,
die Agiplan GmbH, über Jahre
auch ein Büro im Wirtschaftsministerium und war dort zuständig für die Steuerung eines
milliardenschweren EU-Förderprogramms. In diesem Zusammenhang war Agiplan unterstützend für das Ministerium
tätig. Gleichzeitig profitierte
die Firma als Mitbetreiber der
Energieagentur.NRW selbst von
dem Programm. Allein seit 2008
flossen insgesamt rund 84 Millionen Euro öffentlicher Gelder.
Experten wie Hans-Peter
Schwintowski von der Humboldt-Universität Berlin kritisieren eine solche Doppelrolle als
Einfallstor für Vorteilsnahme:
„In einer solchen Konstruktion ist eine Interessenkollision kaum aufzulösen. Sie bedeutet zugleich, dass man sich
Vorteile verschaffen kann, von
denen andere nichts wissen.“
Die Mitarbeiter des von Agiplan betriebenen Büros saßen
in Räumlichkeiten des Ministeriums und nutzten E-MailAdressen der Behörde. Ministerium und Agiplan sehen keinen Interessenkonflikt.
▶ Report SEITE 4–5
TAZ MUSS SEI N
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KOMMENTAR VON KAI SCHLIETER ÜBER DAS UNDURCHSICHTIGE SYSTEM HINTER DER ENERGIEAGENTUR.NRW
D
ie Geschichte öffentlich-privater
„Partnerschaften“ ist wenig ruhmreich. Das gilt insbesondere für den
Vorreiter dieses Modells: NordrheinWestfalen. Nahezu alle Rechnungshofberichte, die sich mit derartigen Privatisierungen bundesweit befassten, kamen zu
demselben Ergebnis: Solche Kooperationen dienen nur den beteiligten Konsortien, keineswegs der Allgemeinheit. Ob
bei TTIP, der Privatisierung der Wasserversorgung oder der von Verkehrsminister Alexander Dobrindt geplanten Verscherbelung der Autobahnen: Das Gemeinwesen muss zahlen.
In NRW bildete sich in 25 Jahren um die
Energieagentur.NRW ein ganz besonde-
Ein ganz besonderer Filz
rer Filz. Eine Firma schmiegte sich über
all die Jahre bis zur Ununterscheidbarkeit
an die staatliche Struktur und erzeugte
so einen Kreislauf des Geldes, der sie bis
heute nährt.
Solche „Partnerschaften“ werden gern
mit einer überbordenden Bürokratie des
Staates begründet: Hier die Firmen, die
behördliche Aufgaben effizienter erledigen, dort ein nicht reformierbarer träger
Staatsapparat. Tatsächlich stellen solche
„Partnerschaften“ ein reines Geschäftsmodell dar. Es fußt auf Verwirrung und
Komplexität – und setzt auf verschwiegene Vetternwirtschaft. Einzelne Akteure
des Staats agieren hierbei ohne Skrupel,
andere gehen mit den ihnen anvertrau-
ten öffentlichen Geldern verantwortungslos um.
Verwirrung stiftet auch die Energieagentur.NRW. Nach außen gibt sie sich
den Anschein einer staatlichen Behörde.
Das erzeugt Vertrauen und lässt Fragen
nach Neutralität gar nicht erst aufkommen. Aber dahinter steht ein Firmengeflecht, das bis in Ministerien hinein wuchert. Beteiligungen reichen so weit, dass
Solche „Partnerschaften“
stellen ein reines
Geschäftsmodell dar
die Firma Agiplan im Wirtschaftsministerium jahrelang ein eigenes Büro unterhielt. Dieses Büro war zufällig für die
Koordination eines europäischen Förderprogramms zuständig – von dessen Geldern auch ebendiese Firma mit Millionensummen profitiert. Unter anderem
als Betreiberin der Energieagentur.NRW.
Darf man sich darauf verlassen, dass sie
diese Interessen stets sauber trennen
konnte?
Vielleicht liegt ein Grund für die Demokratieverdrossenheit vieler Menschen an diesen „partnerschaftlichen“
Verwucherungen, die den Staat zuerst
diskreditieren, um später von den Geldern der Allgemeinheit zu leben.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
NORDSYRI EN
FLÜCHTLI NGE
Kurden wollen eine Föderation ausrufen
Papst fordert
Öffnung der Grenzen
BEIRUT/DAMASKUS/RMEILAN | Die
Ann-Kristin Achleitner, mächtigste
Aufseherin Deutschlands Foto: ap
Die
Aufsichtsrätin
J
a, ihr Mann Paul ist Aufsichtsratschef der Deutschen Bank – aber er interessiert in dieser Geschichte nur
am Rande. Ann-Kristin Achleitner ist längst eine der mächtigsten Wirtschaftslenkerinnen des
Landes. Die Ökonomieprofessorin von der TU München ist bereits Aufsichtsrätin in vier Großkonzernen: dem Handelsriesen
Metro, dem Industriegasproduzenten Linde, dem französischen Energieversorger Engie
und bei der weltweit größten
Rückversicherungsgesellschaft,
Munich Re.
Just zu ihrem 50-jährigen Geburtstag am Mittwoch meldet
das Handelsblatt, dass noch ein
Kontrollposten hinzukommt:
Der bei der Deutschen Börse,
die mit der Börse in London verschmelzen will.
Achleitner steht auf Elite.
Deutschlands mächtigste Aufseherin ist offenkundig alles
andere als eine Quotenfrau: Mit
26 Jahren hatte sie bereits zwei
Doktortitel in Recht und Wirtschaft, mit 28 habilitierte sie,
mit 30 wurde sie erstmals Aufsichtsrätin bei der Depfa Bank.
Ihre Preise und Auszeichnungen passen gut auf eine DINA4-Seite, darunter das Bundesverdienstkreuz im Jahr 2014 und
der Unesco Chair Entrepreneurship Award für unternehmerisches Handeln.
Für Achleitner ist das Soziale
in der Marktwirtschaft wichtig:
Sie beschäftigt sich mit der Finanzierung von Sozialunternehmen. Fünf Jahre war sie Vorsitzende im Beirat von Ashoka,
dem weltweit größten Unterstützernetzwerk für Sozialunternehmer. Außerdem sitzt sie
in der Regierungskommission
Deutscher Corporate Governance Kodex, der sich um gute
Unternehmensführung kümmert.
Auch die Stellung von Frauen
in Unternehmen wird hier immer wieder diskutiert. Sie freue
sich natürlich über mehr Frauen
in Aufsichtsräten, sagt die Mutter dreier Kinder. Aber: Die
Quote berge auch „die Gefahr,
von wichtigeren Themen abzulenken“, sagt Achleitner. Für sie
wichtig: Bedingungen schaffen,
um Beruf und Familie zu vereinbaren. Auch das gesellschaftliche Bild sowie die Unternehmenskultur müssten sich ändern: „Es gibt immer noch tief
verwurzelte Rollenvorstellungen“, ärgert sie sich. Und: „Wenn
Frauen arbeiten, ist das auch ein
Männerthema“.LEILA VAN RINSUM
Der Tag
DON N ERSTAG, 17. MÄRZ 2016
syrischen Kurden wollen im
Norden des Landes ein föderales Gebiet ausrufen. Nawaf Chalil von der Partei der Demokratischen Union sagte am Mittwoch,
seine Partei setze sich nicht für
eine rein kurdische Region ein,
sondern strebe ein Föderalismusmodell für ganz Syrien an.
In dem im Norden angestrebten Gebiet sollten Turkmenen,
Araber und Kurden leben. Die
Erklärung sollte voraussichtlich
noch am Mittwoch am Ende einer Kurdenkonferenz abgegeben werden, die in der nordsyrischen Stadt Rmeilan stattfand.
Die Föderation soll drei bereits existierende Selbstverwal­
tungen in Nordsyrien einschließen. Bestimmende po­li­ti­sche
Kraft ist die syrisch-kurdische
Partei der Demokratischen
Union (PYD). Sie ist der syrische Ableger der verbotenen
kurdischen Arbeiterpartei PKK
in der Türkei. Die PYD kontrolliert weite Gebiete im Norden
Syriens und führt diese faktisch
bereits autonom.
Die Türkei erklärte, sie unterstütze die nationale Einheit Syriens. Jegliche Schritte zur Bildung einer Föderation seien ungültig. (ap, dpa, rtr)
ROM | Papst Franziskus hat die
Öffnung der europäischen
Grenzen für Flüchtlinge gefordert. Die Menschen litten „unter
freiem Himmel ohne etwas zu
Essen“, sagte er gestern bei der
Generalaudienz auf dem Petersplatz unter Anspielung auf
die Lage in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze:
„Wenn sie versuchen, auf die andere Seite zu gelangen, stoßen
sie auf verschlossene Türen.“
Er verglich die Lage der dort gestrandeten Flüchtlinge mit der
Not des Volkes Israel beim Auszug aus Ägypten. (epd)
GROSSES KI NO
Große Kinostreifen, kleine Perlen,
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Schauspielern:
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taz intern
Preis für Bleyl
Der Bremer taz-Redakteur Henning Bleyl wird auf der Leipziger
Buchmesse mit dem „Publizistenpreis“ ausgezeichnet. Der
Deutsche Bibliotheksverband
(dbv) würdigt damit qualitativ
hervorstechende journalistische
Arbeiten, zu denen aus Sicht der
dbv-Jury Bleyls in der taz.nord
erschienene Artikel beispielsweise über Bibliotheken im Strafvollzug oder die bundesweit erste
durchgängig geöffnete BüchereiFiliale in Hamburg gehören. Bleyl
erhielt den Preis bereits 2014. Es
ist das erste Mal, dass ein Journalist den Publizistenpreis ein
zweites Mal zuerkannt bekommt.
Von Morden nichts gewusst
TERROR Zum dritten Mal äußert sich die Hauptangeklagte Beate Zschäpe im NSU-Prozess. Wieder stellt sie sich
als unbeteiligt an den Terrortaten der Neonazigruppe dar – und nimmt zudem Mitbeschuldigte in Schutz
AUS MÜNCHEN KONRAD LITSCHKO
Es ist Mittwochmittag und wieder richten sich alle Augen im
Münchner Gerichtssaal auf Beate Zschäpe. Zum dritten Mal
nimmt die Hauptangeklagte
Stellung, Anwalt Herrmann
Borchert verliest ihre erneuerte
Botschaft: Mit dem NSU-Terror
habe sie wenig zu tun.
Es ist der Versuch, doch noch
eine Höchststrafe abzuwenden.
In dem seit fast drei Jahren laufenden Prozess ist die Beweiserhebung in weiten Teilen erledigt – und brachte wenig Entlastendes für Zschäpe. Daher hatte
die 41-Jährige im Dezember ihr
langes Schweigen gebrochen
und ausgesagt: Die 10 Morde,
zwei Anschläge und 15 Überfälle seien das Werk ihrer Kumpanen Uwe Mundlos und Uwe
Böhnhardt gewesen.
Richter Manfred Götzl stellte
bereits knapp 100 Nachfragen.
Dazu kommen neue Vorwürfe:
Aktuelle Ermittlungen legen
nahe, dass Zschäpe TV-Berichte
über den Anschlag in der Kölner
Keupstraße aufzeichnete – also
sehr wohl Bescheid wusste.
Nun versucht Zschäpe dagegenzuhalten. Die Beschaffung
der Waffen, der Kontakt zu Hel-
fern, der Inhalt des Bekennervideos – all dies hätten Mundlos
und Böhnhardt zu verantworten. Zschäpe stellt sich nicht nur
unbeteiligt dar, sondern gar unterdrückt. Mehrfach sei sie von
Böhnhardt geschlagen worden,
„wenn ihm die Argumente ausgingen“: Etwa als sie kritisierte,
dass eine Pistole offen herumlag
oder dass es immer noch kein
Internet gebe.
Doch dieses Bild passt weiterhin nicht zu Zeugenaussagen über Zschäpes dominantes
Auftreten im Trio und ihre feste
rechtsextreme Gesinnung. Auch
die Ermittlungen zu den Fernse-
mitschnitten legen eine aktivere
Rolle nahe.
Dazu verliert Zschäpe am
Mittwoch kein Wort. Ihr Anwalt
hatte den Vorwurf bereits zurückgewiesen: Die TV-Berichte
hätten auch von anderen Helfern aufgenommen und dem
Trio übergeben worden sein
können.­
Zschäpe schildert
Privates, lässt über
ihren hohen Sekt­
konsum berichten
Die Angeklagte Beate Zschäpe gestern im Gerichtssaal im Oberlandesgericht München Foto: Tobias Hase/dpa
Verhinderte Brandenburg Festnahme?
AUFKLÄRUNG
Zschäpe verwickelt sich aber
auch in Widersprüche. Als sie im
Jahr 2011 das NSU-Bekennervideo verschickte, sei sie davon
ausgegangen, dass es dort nur
um die Überfälle ging. Später
aber räumt sie ein, sie habe geahnt, dass es in dem Video auch
um die Erschießungen geht.
Noch auffälliger ist, wie schonend Zschäpe mit Mitangeklagten und Helfern umgeht. André
E. und dessen Frau Susann, enge
NSU-Begleiter bis zum Schluss,
erfuhren „von den Morden und
Anschlägen nichts“. Zum als
wichtigstem Waffenbeschaffer
angeklagten Ralf Wohlleben
verliert sie kein Wort. Und zum
weiteren Pistolenlieferanten Jan
W., den Zschäpe bei ihrer letzten
Aussage selbst benannte? Kann
sie nichts Weiteres mehr sagen.
Mit dem hätten nur ihre toten
Mitbewohner zu tun gehabt.
Dafür schildert Zschäpe Privates, lässt über ihren hohen
Sektkonsum berichten oder ihre
Suizidgedanken, nachdem sich
Mundlos und Böhnhardt im
Jahr 2011 nach einem gescheiterten Bankraub erschossen
und sie selbst den letzten Unterschlupf in Zwickau in Brand gesetzt hatte. „Ich spielte mit dem
Gedanken, mich vor einen Zug
zu werfen.“ Stattdessen stellte
sie sich.
Entlastung für Zschäpe bringen diese Aussagen wohl nicht.
Richter Götzl will am heutigen
Donnerstag kundtun, ob er weitere Fragen an sie hat. Zuletzt
war der Prozess durch wiederholte Befangenheitsanträge gegen die Richter ins Stocken geraten. Götzl verkündete darauf
vorsorglich neue Verhandlungstermine bis Januar 2017.
Ein Urteil wird eher im
Herbst erwartet.
THEMA
DES
TAGES
Potsdam setzt NSU-Ausschuss ein – auf Initiative von CDU und Grünen. Bundespolitiker: Rot-Rot soll mitmachen
BERLIN taz | Auch in Branden-
burg wird sich der Landtag nun
der Aufklärung des NSU-Terrors widmen. Ausgelöst haben
das nicht etwa die Fraktionen
der rot-roten Landesregierung
– sondern CDU und Grüne.
„Wir sind es den Opfern schuldig“, begründete CDU-Fraktionschef Ingo Senftleben. Für sein
Grünes Pendant Axel Vogel sind
die bisherigen parlamentarischen Aufklärungsmöglichkeiten ausgereizt. Ende April soll
der Ausschuss eingesetzt werden. Am Mittwoch erklärte auch
die AfD, sich anzuschließen.
Rot-Rot dagegen sträubt sich
seit Jahren gegen das neue Gremium. Nun kommt Druck aus
dem Bund: „Wenn es offene Fragen gibt, dann müssen diese
beantwortet werden“, sagte Uli
Grötsch, SPD-Obmann im NSUUntersuchungsausschuss des
Bundestags. „Und wenn ein Ausschuss das geeignetste Instrument ist, dann rate ich der SPD,
der Einsetzung zuzustimmen.“
Die bisherigen Ausschüsse hätten viel zur NSU-Aufklärung beigetragen. Auch Linken-Obfrau
Petra Pau wünscht sich, „dass
auch in Brandenburg fraktions-
übergreifend an der Aufklärung
gearbeitet wird.“
Auslöser für den schwarzgrünen Vorstoß ist der zwielichtige frühere Brandenburger V-Mann Carsten „Piatto“ S.
Dieser hatte dem Verfassungsschutz 1998 Hinweise zu Kontaktpersonen der untergetauchten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gegeben
und gewarnt, diese suchten Waffen, bereiteten einen „weiteren
Überfall“ und ihre Flucht nach
Südafrika vor. Von einem der
NSU-Unterstützer hatte „Piatto“
eine SMS erhalten: „Hallo, was
ist mit den Bums?“ Waren damit
Waffen für das Trio gemeint?
Am Dienstag hatten OpferAnwälte im NSU-Prozess in Beweisanträgen dem Brandenburger Innenministerium vorgeworfen, es habe damals eine
schriftliche Übermittlung der
Hinweise an das LKA Thüringen verweigert, damit ihr Spitzel nicht auffliegt. Sowohl Observationsmaßnahmen als auch
eine mögliche Festnahme blieben daher aus. Es sei zu klären,
„inwieweit staatliche Stellen
durch ihr Verhalten die Mordserie des NSU erst möglich ge-
macht haben“, heißt es in dem
Antrag, Der Mitangeklagte Ralf
Wohlleben schloss sich an.
Brandenburgs Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD)
weist die Vorwürfe zurück: Alle
entscheidenden Informationen
zum NSU seien damals nach
Thüringen übermittelt worden.
Für Linken-Obfrau Pau bleiben
dagegen Fragen. Deshalb werde
der Fall „Piatto“ auch im Bundestagsausschuss nochmals Thema
werden. „Mittlerweile müssen
wir davon ausgehen, dass uns
Informationen vorenthalten
KO
wurden.
Schwerpunkt
Literatur & Leben
DON N ERSTAG, 17. MÄRZ 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
„Der Goldene Handschuh“ ist ein Roman, der zutiefst verstört.
In der Kneipe gleichen Namens fand Fritz Honka einst seine Opfer
„Ich habe mir auch Humor erlaubt“
ROMAN Er habe sich selbst gewundert, wie sehr er sich in den Hamburger Frauenmörder Honka und das grässliche Leben seiner
Opfer hineinversetzen konnte, sagt Heinz Strunk. Auf der Leipziger Buchmesse gehört er zu den Favoriten für den Literaturpreis
INTERVIEW JENNI ZYLKA
taz: Herr Strunk, Ihre Hauptfigur Fritz Honka wurde in
den 70er Jahren von der Boulevardpresse als „Monster“ bezeichnet. Woher kommt Ihr Interesse an so einem Menschen?
Heinz Strunk: Ich habe einmal eine Reportage über Jürgen Bartsch gesehen, dessen
Geschichte ja psychologisch sogar eigentlich noch interessanter als die von Honka ist, noch
monströser.
Bartsch war ein pädosexueller
Serienmörder.
Ja. Aber in einer Erzählung
über Bartsch würde sich jedweder Humor verbieten, außerdem ist der Fall für mich zu
weit entfernt. Die Grundproblematik zwischen Täter und Opfer
blieb jedoch seit damals ein Faszinosum für mich, und als ich
Gast im „Goldenen Handschuh“
wurde, entstand die Idee, die
Honka-Story zu erzählen.
Der „Goldene Handschuh“ ist
eine Gaststätte auf St. Pauli,
die immer noch existiert. Dort
fand Fritz Honka damals seine
Opfer. Verstehen Sie Honka?
Na ja, hoffentlich merkt man
in meinem Buch, dass ich versucht habe, mich nicht nur in
Honka, sondern vor allem auch
in die Frauen einzufühlen, die
seine Opfer wurden. Vielleicht
ist falsch, was ich geschrieben
habe, aber ich denke, dass es so
hätte sein können. Es hat mich
selbst gewundert, dass dieses
Einfühlen funktioniert – für
mich ist es authentisch.
Wie versetzt man sich als heutiger Mann in Figuren wie Honkas Opfer hinein – in mittellose Frauen, die in den frühen
70ern um die 50 Jahre alt waren?
Für die Frauen dieser Generation, die um die Jahrhundertwende und kurz danach geboren sind, hatte ich zum Beispiel
meine Großmütter vor Augen.
Das waren einfache Frauen, zum
Teil aus der Zone geflohen – was
die mitgemacht haben, Vergewaltigungen, Hunger, Entwurzelung, Vertreibung, solche
Schicksale sind wirklich kaum
zu fassen. Dann stirbt der Mann,
und die Frauen haben nichts –
keinen Beruf, kein Geld, keine
Perspektive. So habe ich mir
die Gerda vorgestellt, Honkas
erstes Opfer: Sie versucht ihr
grässliches Leben auszuhalten,
bis sie endlich das Rentenalter
erreicht hat und der Staat sich
um sie kümmert, sie eine winzige Wohnung mit Bett, Stuhl
und Heizung bekommt. Sie hat
nicht einmal mehr Erinnerungen!
Und wie lassen sich Honkas
unfassbar grausame Taten beschreiben, damit also auch ein
Stück weit erklären?
Es gibt einen Satz von Rolf Bossi,
dem damaligen Staranwalt, der
Honkas Anwalt wurde: Honka
sei nicht nur das ärmste aller
Würstchen gewesen, sondern
habe auch noch das Pech gehabt, zum Mörder zu werden.
Das trifft es für mich sehr gut.
Diese ganzen Bezeichnungen,
Serienmörder, Massenmörder,
sind alle irgendwie unpassend.
Bei ihm waren das vor allem Situations- und Milieutaten, die
im Alkoholwahnsinn passiert
„Die Figur der
­Gisela aus der Heils­
armee zum Beispiel
habe ich erst später
hineingeschrieben,
um mal eine andere
Stimme zu haben.
Reine Apokalypse
wäre einfach zu
viel“
Juli 1975, Sicherung von Beweismaterial im Fall Fritz Honka: Schuhe der Opfer Foto: Jaffé/ullstein bild
Düstere Bundesrepublik
sind. Honka hat nicht die undurchschaubare Psyche eines
Naziverbrechers wie Dr. Mengele. Es gab bei ihm keine Vorsätze. Honka hat meiner Ansicht
nach ein besonders furchtbares
Schicksal gehabt – Missbrauch,
Zementkrätze, diese Versklavung in den 50ern auf Bauernhöfen. Er ist immer wieder zusammengeschlagen worden, so
dass der Kiefer noch dreimal gebrochen wird, ein Albtraum. So
erkläre ich mir das.
Wie historisch genau sind Ihre
Beschreibungen?
Ich habe im Staatsarchiv neben
vielen anderen Akten ungefähr
eine Seite über jeden Mord gefunden und habe daraus konstruiert, wie es abgelaufen sein
könnte, in all seiner Mons­
trosität. Über den ersten Mord
wusste ich am meisten, habe
aber am wenigsten darüber geschrieben, um erst mal nur eine
Fährte zu legen. Sehr umfangreich in der Recherche war die
Reedergeschichte.
Sie erzählen sie im zweiten
Strang Ihres Romans.
Ja. Und zur Containerrevolution,
die viele Hamburger Reeder in
■■„Der goldene Handschuh“ ist der Überraschungserfolg dieses
Frühjahrs, ein Buch, das
gleichzeitig fasziniert
und nachhaltig verstört.
Es transportiert den
Leser ins Hamburg der
frühen Siebziger Jahre,
in das Milieu der billigen
Absturzkneipen nahe der
Reeperbahn.
■■Der Roman erzählt die
Geschichte des Frauenmörders Fritz Honka,
dessen Fall für Aufsehen
sorgte. Zugleich handelt
er von Alkoholismus und
emotionaler Verwahrlosung in einer Gesellschaft,
die nach außen hin hell
und hoffnungsfroh wirkte,
tatsächlich aber vom Krieg
nachhaltig traumatisiert
war. Insofern ist der Roman auch ein Blick zurück
auf die düstere Seite der
alten Bundesrepublik, in
der Gewalt alltäglich
war.
■■Heinz Strunk war bislang für autobiografisch
geprägte, humorvolle
Romane bekannt („Fleisch
ist mein Gemüse“). Mit
seinem Werk „Der goldene
Handschuh“ gilt er als
Geheimfavorit für den
Leipziger Buchpreis, der
heute verliehen wird. (jz)
eine Krise stürzte, und der Gelben Flotte, die nach dem Sechstagekrieg jahrelang im Suezkanal festsaß, habe ich viel gelesen und nachgeprüft. Ich hatte
einen Informanten, der jede
Menge Details aus dieser Zeit
wusste.
Wieso haben Sie die Parallelgeschichte mit der Reederfamilie
mit ins Buch genommen?
Mir war von Anfang an klar, dass
250 Seiten purer Honka-Horror
einfach zu massiv gewesen wären. Und außerdem ist – in aller Bescheidenheit – ein Qualitätsmerkmal des Buches, dass
ich versucht habe, diese unterschiedlichen Milieus auch
sprachlich abzubilden. Meine
eigenen sprachlichen Möglichkeiten als Autor wären sehr begrenzt gewesen, wenn ich nur
in Honkas Sprache geschrieben
hätte.
Die gewalthaltigen Stellen sind
so gut geschrieben, dass die Situationen mich bedrücken. Sie
nicht?
Nee, gar nicht. Meine Aufgabe
war, dem Ganzen so nahe wie
möglich zu kommen und es mit
den passendsten Worten zu be-
schreiben. Über den Roman
„Kaltblütig“ wurde ja immer kolportiert, dass sein Autor Truman
Capote an dem Buch zerbrochen
ist, weil es ihn so mitgenommen
hat. Bei mir war das nicht so.
Gemein haben die Storys aus
beiden Milieus, Honka und die
Reeder, dass es um verzweifelte, komplett gescheiterte
Männer geht.
Genau. Die Aufgabe in der Überarbeitung während des Lektorats war es darum auch, ein paar
Figuren ein wenig zu entschärfen. Die Figur der Gisela aus
der Heilsarmee zum Beispiel
habe ich erst später hineingeschrieben, um mal eine andere
Stimme zu haben. Reine Apokalypse wäre einfach zu viel.
Haben Sie je überlegt, ob man
die historische Figur Honka,
die Sie an Fakten entlangerzählen und die das Leben von realen Personen beeinflusst hat,
überhaupt mit rein fiktiven Figuren vermischen darf?
Ob das legitim ist oder nicht,
darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht – es steht ja
schließlich Roman drunter. Ich
hätte gern noch lebende Perso-
nen befragt, habe aber keine gefunden. Nur der jetzige Besitzer
des „Goldenen Handschuhs“, der
Enkel des damaligen Wirts, hat
mir einige Dinge erzählt – er
hatte Honka aber natürlich auch
nicht mehr kennengelernt. Viele
Figuren sind ausgedacht – Gerdas Tochter Rosi zum Beispiel.
Auch Honkas Bruder – es gab
einen, aber über den weiß ich
kaum etwas.
Sie haben die unterschiedlichen Slangs schon angesprochen – zum Beispiel der sabbelnde Hamburger Kapitän bei
der Hafenrundfahrt.
Da habe ich natürlich selbst einige mitgemacht und dabei viel
gelauscht. Und diese bizarren
Monologe in den Bars mitanzuhören war ein großer Teil der
Recherche. In diesen Sequenzen
habe ich mir auch erlaubt, Humor mit einzubringen – ich persönlich fand es jedenfalls irre
komisch. Die Hafenrundfahrt
ist ein klassischer comic relief,
damit man mal ein paar Seiten
Entlastung hat. Honka war ja damals wirklich kurz auf dem aufsteigenden Ast.
Er fand eine Stelle als Nachtwächter. Und stürzte dann wieder schlimm ab. Können Sie
den Vorwurf verstehen, dass
man solche Schicksale nicht
zu seinem eigenen kreativen
Vorteil nutzen darf?
Nee – was sollte das heißen?
Dass ich mich am Leid von anderen Menschen bereichere?
Das ist Schwachsinn. Ich verstehe nicht, wie man so denken
kann. Aber ist doch klar, dass
bei diesem Buch auch manche
Leute aussteigen. Eine Zeitung
wollte eigentlich einen Vorabdruck machen, hat dann in den
Text reingelesen und ist zurückgetreten, weil man es dem Leser
nicht zumuten wollte. Jetzt, wo
ich für den Leipziger Buchpreis
nominiert bin, sieht das plötzlich anders aus.
Wieso – und ich nehme mich da
nicht aus – lesen so viele Menschen gerne solche Geschichten?
Die Menschen lesen ja auch
gern Krimis, in denen es die abstrakte Superbestie gibt, die man
gar nicht mehr nachvollziehen
kann – das finden sie faszinierend. Aber genau das ist Honka
nicht. Ich versuche im Buch eher
nachvollziehbar zu machen, wie
jemand zum Mörder wird. Das
ist in der Wirkung anscheinend
genauso interessant.
Gehen Sie nach den ganzen Bildern, die Sie erschaffen haben,
eigentlich immer noch in den
„Goldenen Handschuh“?
Ja, ich bin da gern.
Heinz Strunk
■■wurde 1962 in Hamburg
geboren. Sein Roman „Fleisch
ist mein Gemüse“ verkaufte sich
500.000-mal. Andere Werke
u. a.: „Das Strunk-Prinzip“,
„Junge
rettet Freund aus
Teich“. In den
„Goldenen
Handschuh“ auf
St. Pauli
geht er
immer noch
gern.
Foto: dpa