EU-Gipfel: Auf zum Dealen mit Erdoğan Während in Griechenland Flüchtlinge stranden, treffen sich EU-Chefs und Türkei ▶ Seite 6, 11, 12, 13 AUSGABE BERLIN | NR. 10971 | 11. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ DONNERSTAG, 17. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Mord ist sein Gemüse LITERATUR „Ich versuche nachvollziehbar zu machen, wie jemand zum Mörder wird“: Buchpreis-Kandidat Heinz Strunk über seinen Roman „Der goldene Handschuh“ ▶ SEITE 3 Gut getarntes EnergieNetzwerk taz und „Monitor“ enthüllen Gefahr von Vorteilsnahme NRW BERLIN taz | Rechtsexperten kri- USA Nur Hillary Clinton kann wohl noch einen Präsidenten Donald Trump verhindern. Große Hoffnung oder nur kleineres Übel? ▶ SEITE 10, 14 NSU Beate Zschäpe bleibt dabei: Ich war’s nicht, die Uwes sind’s gewesen ▶ SEITE 2 BERLIN Endlich Berg- luft: Die Stadt bekommt eine Seilbahn ▶ SEITE 21 Fotos oben: ap, reuters VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Papst Franziskus hat die für Flüchtlinge geschlossenen Grenzen in Europa scharf kritisiert und zu mehr Menschlichkeit aufgerufen. Viele Menschen, die vor Krieg und Gewalt flöhen, müssten an den Grenzen ausharren, „weil viele Türen und viele Herzen geschlossen sind“, beklagte Franziskus bei seiner Generalaudienz in Rom. verboten begrüßt den Appell sehr, konnte aber bis Redaktionsschluss nicht mehr klären, wie vielen Flüchtlingsfamilien der Vatikan bisher seine „Herzen und Türen“ geöffnet und ein Dach über dem Kopf angeboten hat. Zweien? Oder einer? Erzählt die Geschichte des Frauenmörders Fritz Honka: Heinz Strunk, der mit „Fleisch ist mein Gemüse“ bekannt wurde Fotos (Montage taz): dpa, ullstein bild tisieren Interessenkonflikte und die Gefahr von Vorteilsnahme bei der größten Energieagentur Deutschlands, der Energieagentur.NRW. Sie reagieren damit auf Recherchen der taz und des ARD-Magazins „Monitor“, die fragwürdige Eigentümerstrukturen und eine Doppelrolle im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Gelder aufdecken. Die Energieagentur.NRW kümmert sich für das Land um Themen wie Energieforschung, Energieberatung und Weiterbildung. Sie ist aber keine Landeseinrichtung, sondern profitiert als privates Unternehmen von öffentlichen Geldern. Dabei betrieb ein Gesellschafter der Energieagentur.NRW, die Agiplan GmbH, über Jahre auch ein Büro im Wirtschaftsministerium und war dort zuständig für die Steuerung eines milliardenschweren EU-Förderprogramms. In diesem Zusammenhang war Agiplan unterstützend für das Ministerium tätig. Gleichzeitig profitierte die Firma als Mitbetreiber der Energieagentur.NRW selbst von dem Programm. Allein seit 2008 flossen insgesamt rund 84 Millionen Euro öffentlicher Gelder. Experten wie Hans-Peter Schwintowski von der Humboldt-Universität Berlin kritisieren eine solche Doppelrolle als Einfallstor für Vorteilsnahme: „In einer solchen Konstruktion ist eine Interessenkollision kaum aufzulösen. Sie bedeutet zugleich, dass man sich Vorteile verschaffen kann, von denen andere nichts wissen.“ Die Mitarbeiter des von Agiplan betriebenen Büros saßen in Räumlichkeiten des Ministeriums und nutzten E-MailAdressen der Behörde. Ministerium und Agiplan sehen keinen Interessenkonflikt. ▶ Report SEITE 4–5 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.701 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 40611 4 190254 801600 KOMMENTAR VON KAI SCHLIETER ÜBER DAS UNDURCHSICHTIGE SYSTEM HINTER DER ENERGIEAGENTUR.NRW D ie Geschichte öffentlich-privater „Partnerschaften“ ist wenig ruhmreich. Das gilt insbesondere für den Vorreiter dieses Modells: NordrheinWestfalen. Nahezu alle Rechnungshofberichte, die sich mit derartigen Privatisierungen bundesweit befassten, kamen zu demselben Ergebnis: Solche Kooperationen dienen nur den beteiligten Konsortien, keineswegs der Allgemeinheit. Ob bei TTIP, der Privatisierung der Wasserversorgung oder der von Verkehrsminister Alexander Dobrindt geplanten Verscherbelung der Autobahnen: Das Gemeinwesen muss zahlen. In NRW bildete sich in 25 Jahren um die Energieagentur.NRW ein ganz besonde- Ein ganz besonderer Filz rer Filz. Eine Firma schmiegte sich über all die Jahre bis zur Ununterscheidbarkeit an die staatliche Struktur und erzeugte so einen Kreislauf des Geldes, der sie bis heute nährt. Solche „Partnerschaften“ werden gern mit einer überbordenden Bürokratie des Staates begründet: Hier die Firmen, die behördliche Aufgaben effizienter erledigen, dort ein nicht reformierbarer träger Staatsapparat. Tatsächlich stellen solche „Partnerschaften“ ein reines Geschäftsmodell dar. Es fußt auf Verwirrung und Komplexität – und setzt auf verschwiegene Vetternwirtschaft. Einzelne Akteure des Staats agieren hierbei ohne Skrupel, andere gehen mit den ihnen anvertrau- ten öffentlichen Geldern verantwortungslos um. Verwirrung stiftet auch die Energieagentur.NRW. Nach außen gibt sie sich den Anschein einer staatlichen Behörde. Das erzeugt Vertrauen und lässt Fragen nach Neutralität gar nicht erst aufkommen. Aber dahinter steht ein Firmengeflecht, das bis in Ministerien hinein wuchert. Beteiligungen reichen so weit, dass Solche „Partnerschaften“ stellen ein reines Geschäftsmodell dar die Firma Agiplan im Wirtschaftsministerium jahrelang ein eigenes Büro unterhielt. Dieses Büro war zufällig für die Koordination eines europäischen Förderprogramms zuständig – von dessen Geldern auch ebendiese Firma mit Millionensummen profitiert. Unter anderem als Betreiberin der Energieagentur.NRW. Darf man sich darauf verlassen, dass sie diese Interessen stets sauber trennen konnte? Vielleicht liegt ein Grund für die Demokratieverdrossenheit vieler Menschen an diesen „partnerschaftlichen“ Verwucherungen, die den Staat zuerst diskreditieren, um später von den Geldern der Allgemeinheit zu leben. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN NORDSYRI EN FLÜCHTLI NGE Kurden wollen eine Föderation ausrufen Papst fordert Öffnung der Grenzen BEIRUT/DAMASKUS/RMEILAN | Die Ann-Kristin Achleitner, mächtigste Aufseherin Deutschlands Foto: ap Die Aufsichtsrätin J a, ihr Mann Paul ist Aufsichtsratschef der Deutschen Bank – aber er interessiert in dieser Geschichte nur am Rande. Ann-Kristin Achleitner ist längst eine der mächtigsten Wirtschaftslenkerinnen des Landes. Die Ökonomieprofessorin von der TU München ist bereits Aufsichtsrätin in vier Großkonzernen: dem Handelsriesen Metro, dem Industriegasproduzenten Linde, dem französischen Energieversorger Engie und bei der weltweit größten Rückversicherungsgesellschaft, Munich Re. Just zu ihrem 50-jährigen Geburtstag am Mittwoch meldet das Handelsblatt, dass noch ein Kontrollposten hinzukommt: Der bei der Deutschen Börse, die mit der Börse in London verschmelzen will. Achleitner steht auf Elite. Deutschlands mächtigste Aufseherin ist offenkundig alles andere als eine Quotenfrau: Mit 26 Jahren hatte sie bereits zwei Doktortitel in Recht und Wirtschaft, mit 28 habilitierte sie, mit 30 wurde sie erstmals Aufsichtsrätin bei der Depfa Bank. Ihre Preise und Auszeichnungen passen gut auf eine DINA4-Seite, darunter das Bundesverdienstkreuz im Jahr 2014 und der Unesco Chair Entrepreneurship Award für unternehmerisches Handeln. Für Achleitner ist das Soziale in der Marktwirtschaft wichtig: Sie beschäftigt sich mit der Finanzierung von Sozialunternehmen. Fünf Jahre war sie Vorsitzende im Beirat von Ashoka, dem weltweit größten Unterstützernetzwerk für Sozialunternehmer. Außerdem sitzt sie in der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, der sich um gute Unternehmensführung kümmert. Auch die Stellung von Frauen in Unternehmen wird hier immer wieder diskutiert. Sie freue sich natürlich über mehr Frauen in Aufsichtsräten, sagt die Mutter dreier Kinder. Aber: Die Quote berge auch „die Gefahr, von wichtigeren Themen abzulenken“, sagt Achleitner. Für sie wichtig: Bedingungen schaffen, um Beruf und Familie zu vereinbaren. Auch das gesellschaftliche Bild sowie die Unternehmenskultur müssten sich ändern: „Es gibt immer noch tief verwurzelte Rollenvorstellungen“, ärgert sie sich. Und: „Wenn Frauen arbeiten, ist das auch ein Männerthema“.LEILA VAN RINSUM Der Tag DON N ERSTAG, 17. MÄRZ 2016 syrischen Kurden wollen im Norden des Landes ein föderales Gebiet ausrufen. Nawaf Chalil von der Partei der Demokratischen Union sagte am Mittwoch, seine Partei setze sich nicht für eine rein kurdische Region ein, sondern strebe ein Föderalismusmodell für ganz Syrien an. In dem im Norden angestrebten Gebiet sollten Turkmenen, Araber und Kurden leben. Die Erklärung sollte voraussichtlich noch am Mittwoch am Ende einer Kurdenkonferenz abgegeben werden, die in der nordsyrischen Stadt Rmeilan stattfand. Die Föderation soll drei bereits existierende Selbstverwal tungen in Nordsyrien einschließen. Bestimmende politische Kraft ist die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD). Sie ist der syrische Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Türkei. Die PYD kontrolliert weite Gebiete im Norden Syriens und führt diese faktisch bereits autonom. Die Türkei erklärte, sie unterstütze die nationale Einheit Syriens. Jegliche Schritte zur Bildung einer Föderation seien ungültig. (ap, dpa, rtr) ROM | Papst Franziskus hat die Öffnung der europäischen Grenzen für Flüchtlinge gefordert. Die Menschen litten „unter freiem Himmel ohne etwas zu Essen“, sagte er gestern bei der Generalaudienz auf dem Petersplatz unter Anspielung auf die Lage in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze: „Wenn sie versuchen, auf die andere Seite zu gelangen, stoßen sie auf verschlossene Türen.“ Er verglich die Lage der dort gestrandeten Flüchtlinge mit der Not des Volkes Israel beim Auszug aus Ägypten. (epd) GROSSES KI NO Große Kinostreifen, kleine Perlen, Flops und Oscarkandidaten sowie Interviews mit Regisseuren und Schauspielern: Alles nachzulesen auf taz.de/film Rezensionen Filmtipps Interviews www.taz.de taz intern Preis für Bleyl Der Bremer taz-Redakteur Henning Bleyl wird auf der Leipziger Buchmesse mit dem „Publizistenpreis“ ausgezeichnet. Der Deutsche Bibliotheksverband (dbv) würdigt damit qualitativ hervorstechende journalistische Arbeiten, zu denen aus Sicht der dbv-Jury Bleyls in der taz.nord erschienene Artikel beispielsweise über Bibliotheken im Strafvollzug oder die bundesweit erste durchgängig geöffnete BüchereiFiliale in Hamburg gehören. Bleyl erhielt den Preis bereits 2014. Es ist das erste Mal, dass ein Journalist den Publizistenpreis ein zweites Mal zuerkannt bekommt. Von Morden nichts gewusst TERROR Zum dritten Mal äußert sich die Hauptangeklagte Beate Zschäpe im NSU-Prozess. Wieder stellt sie sich als unbeteiligt an den Terrortaten der Neonazigruppe dar – und nimmt zudem Mitbeschuldigte in Schutz AUS MÜNCHEN KONRAD LITSCHKO Es ist Mittwochmittag und wieder richten sich alle Augen im Münchner Gerichtssaal auf Beate Zschäpe. Zum dritten Mal nimmt die Hauptangeklagte Stellung, Anwalt Herrmann Borchert verliest ihre erneuerte Botschaft: Mit dem NSU-Terror habe sie wenig zu tun. Es ist der Versuch, doch noch eine Höchststrafe abzuwenden. In dem seit fast drei Jahren laufenden Prozess ist die Beweiserhebung in weiten Teilen erledigt – und brachte wenig Entlastendes für Zschäpe. Daher hatte die 41-Jährige im Dezember ihr langes Schweigen gebrochen und ausgesagt: Die 10 Morde, zwei Anschläge und 15 Überfälle seien das Werk ihrer Kumpanen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gewesen. Richter Manfred Götzl stellte bereits knapp 100 Nachfragen. Dazu kommen neue Vorwürfe: Aktuelle Ermittlungen legen nahe, dass Zschäpe TV-Berichte über den Anschlag in der Kölner Keupstraße aufzeichnete – also sehr wohl Bescheid wusste. Nun versucht Zschäpe dagegenzuhalten. Die Beschaffung der Waffen, der Kontakt zu Hel- fern, der Inhalt des Bekennervideos – all dies hätten Mundlos und Böhnhardt zu verantworten. Zschäpe stellt sich nicht nur unbeteiligt dar, sondern gar unterdrückt. Mehrfach sei sie von Böhnhardt geschlagen worden, „wenn ihm die Argumente ausgingen“: Etwa als sie kritisierte, dass eine Pistole offen herumlag oder dass es immer noch kein Internet gebe. Doch dieses Bild passt weiterhin nicht zu Zeugenaussagen über Zschäpes dominantes Auftreten im Trio und ihre feste rechtsextreme Gesinnung. Auch die Ermittlungen zu den Fernse- mitschnitten legen eine aktivere Rolle nahe. Dazu verliert Zschäpe am Mittwoch kein Wort. Ihr Anwalt hatte den Vorwurf bereits zurückgewiesen: Die TV-Berichte hätten auch von anderen Helfern aufgenommen und dem Trio übergeben worden sein können. Zschäpe schildert Privates, lässt über ihren hohen Sekt konsum berichten Die Angeklagte Beate Zschäpe gestern im Gerichtssaal im Oberlandesgericht München Foto: Tobias Hase/dpa Verhinderte Brandenburg Festnahme? AUFKLÄRUNG Zschäpe verwickelt sich aber auch in Widersprüche. Als sie im Jahr 2011 das NSU-Bekennervideo verschickte, sei sie davon ausgegangen, dass es dort nur um die Überfälle ging. Später aber räumt sie ein, sie habe geahnt, dass es in dem Video auch um die Erschießungen geht. Noch auffälliger ist, wie schonend Zschäpe mit Mitangeklagten und Helfern umgeht. André E. und dessen Frau Susann, enge NSU-Begleiter bis zum Schluss, erfuhren „von den Morden und Anschlägen nichts“. Zum als wichtigstem Waffenbeschaffer angeklagten Ralf Wohlleben verliert sie kein Wort. Und zum weiteren Pistolenlieferanten Jan W., den Zschäpe bei ihrer letzten Aussage selbst benannte? Kann sie nichts Weiteres mehr sagen. Mit dem hätten nur ihre toten Mitbewohner zu tun gehabt. Dafür schildert Zschäpe Privates, lässt über ihren hohen Sektkonsum berichten oder ihre Suizidgedanken, nachdem sich Mundlos und Böhnhardt im Jahr 2011 nach einem gescheiterten Bankraub erschossen und sie selbst den letzten Unterschlupf in Zwickau in Brand gesetzt hatte. „Ich spielte mit dem Gedanken, mich vor einen Zug zu werfen.“ Stattdessen stellte sie sich. Entlastung für Zschäpe bringen diese Aussagen wohl nicht. Richter Götzl will am heutigen Donnerstag kundtun, ob er weitere Fragen an sie hat. Zuletzt war der Prozess durch wiederholte Befangenheitsanträge gegen die Richter ins Stocken geraten. Götzl verkündete darauf vorsorglich neue Verhandlungstermine bis Januar 2017. Ein Urteil wird eher im Herbst erwartet. THEMA DES TAGES Potsdam setzt NSU-Ausschuss ein – auf Initiative von CDU und Grünen. Bundespolitiker: Rot-Rot soll mitmachen BERLIN taz | Auch in Branden- burg wird sich der Landtag nun der Aufklärung des NSU-Terrors widmen. Ausgelöst haben das nicht etwa die Fraktionen der rot-roten Landesregierung – sondern CDU und Grüne. „Wir sind es den Opfern schuldig“, begründete CDU-Fraktionschef Ingo Senftleben. Für sein Grünes Pendant Axel Vogel sind die bisherigen parlamentarischen Aufklärungsmöglichkeiten ausgereizt. Ende April soll der Ausschuss eingesetzt werden. Am Mittwoch erklärte auch die AfD, sich anzuschließen. Rot-Rot dagegen sträubt sich seit Jahren gegen das neue Gremium. Nun kommt Druck aus dem Bund: „Wenn es offene Fragen gibt, dann müssen diese beantwortet werden“, sagte Uli Grötsch, SPD-Obmann im NSUUntersuchungsausschuss des Bundestags. „Und wenn ein Ausschuss das geeignetste Instrument ist, dann rate ich der SPD, der Einsetzung zuzustimmen.“ Die bisherigen Ausschüsse hätten viel zur NSU-Aufklärung beigetragen. Auch Linken-Obfrau Petra Pau wünscht sich, „dass auch in Brandenburg fraktions- übergreifend an der Aufklärung gearbeitet wird.“ Auslöser für den schwarzgrünen Vorstoß ist der zwielichtige frühere Brandenburger V-Mann Carsten „Piatto“ S. Dieser hatte dem Verfassungsschutz 1998 Hinweise zu Kontaktpersonen der untergetauchten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gegeben und gewarnt, diese suchten Waffen, bereiteten einen „weiteren Überfall“ und ihre Flucht nach Südafrika vor. Von einem der NSU-Unterstützer hatte „Piatto“ eine SMS erhalten: „Hallo, was ist mit den Bums?“ Waren damit Waffen für das Trio gemeint? Am Dienstag hatten OpferAnwälte im NSU-Prozess in Beweisanträgen dem Brandenburger Innenministerium vorgeworfen, es habe damals eine schriftliche Übermittlung der Hinweise an das LKA Thüringen verweigert, damit ihr Spitzel nicht auffliegt. Sowohl Observationsmaßnahmen als auch eine mögliche Festnahme blieben daher aus. Es sei zu klären, „inwieweit staatliche Stellen durch ihr Verhalten die Mordserie des NSU erst möglich ge- macht haben“, heißt es in dem Antrag, Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben schloss sich an. Brandenburgs Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) weist die Vorwürfe zurück: Alle entscheidenden Informationen zum NSU seien damals nach Thüringen übermittelt worden. Für Linken-Obfrau Pau bleiben dagegen Fragen. Deshalb werde der Fall „Piatto“ auch im Bundestagsausschuss nochmals Thema werden. „Mittlerweile müssen wir davon ausgehen, dass uns Informationen vorenthalten KO wurden. Schwerpunkt Literatur & Leben DON N ERSTAG, 17. MÄRZ 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 „Der Goldene Handschuh“ ist ein Roman, der zutiefst verstört. In der Kneipe gleichen Namens fand Fritz Honka einst seine Opfer „Ich habe mir auch Humor erlaubt“ ROMAN Er habe sich selbst gewundert, wie sehr er sich in den Hamburger Frauenmörder Honka und das grässliche Leben seiner Opfer hineinversetzen konnte, sagt Heinz Strunk. Auf der Leipziger Buchmesse gehört er zu den Favoriten für den Literaturpreis INTERVIEW JENNI ZYLKA taz: Herr Strunk, Ihre Hauptfigur Fritz Honka wurde in den 70er Jahren von der Boulevardpresse als „Monster“ bezeichnet. Woher kommt Ihr Interesse an so einem Menschen? Heinz Strunk: Ich habe einmal eine Reportage über Jürgen Bartsch gesehen, dessen Geschichte ja psychologisch sogar eigentlich noch interessanter als die von Honka ist, noch monströser. Bartsch war ein pädosexueller Serienmörder. Ja. Aber in einer Erzählung über Bartsch würde sich jedweder Humor verbieten, außerdem ist der Fall für mich zu weit entfernt. Die Grundproblematik zwischen Täter und Opfer blieb jedoch seit damals ein Faszinosum für mich, und als ich Gast im „Goldenen Handschuh“ wurde, entstand die Idee, die Honka-Story zu erzählen. Der „Goldene Handschuh“ ist eine Gaststätte auf St. Pauli, die immer noch existiert. Dort fand Fritz Honka damals seine Opfer. Verstehen Sie Honka? Na ja, hoffentlich merkt man in meinem Buch, dass ich versucht habe, mich nicht nur in Honka, sondern vor allem auch in die Frauen einzufühlen, die seine Opfer wurden. Vielleicht ist falsch, was ich geschrieben habe, aber ich denke, dass es so hätte sein können. Es hat mich selbst gewundert, dass dieses Einfühlen funktioniert – für mich ist es authentisch. Wie versetzt man sich als heutiger Mann in Figuren wie Honkas Opfer hinein – in mittellose Frauen, die in den frühen 70ern um die 50 Jahre alt waren? Für die Frauen dieser Generation, die um die Jahrhundertwende und kurz danach geboren sind, hatte ich zum Beispiel meine Großmütter vor Augen. Das waren einfache Frauen, zum Teil aus der Zone geflohen – was die mitgemacht haben, Vergewaltigungen, Hunger, Entwurzelung, Vertreibung, solche Schicksale sind wirklich kaum zu fassen. Dann stirbt der Mann, und die Frauen haben nichts – keinen Beruf, kein Geld, keine Perspektive. So habe ich mir die Gerda vorgestellt, Honkas erstes Opfer: Sie versucht ihr grässliches Leben auszuhalten, bis sie endlich das Rentenalter erreicht hat und der Staat sich um sie kümmert, sie eine winzige Wohnung mit Bett, Stuhl und Heizung bekommt. Sie hat nicht einmal mehr Erinnerungen! Und wie lassen sich Honkas unfassbar grausame Taten beschreiben, damit also auch ein Stück weit erklären? Es gibt einen Satz von Rolf Bossi, dem damaligen Staranwalt, der Honkas Anwalt wurde: Honka sei nicht nur das ärmste aller Würstchen gewesen, sondern habe auch noch das Pech gehabt, zum Mörder zu werden. Das trifft es für mich sehr gut. Diese ganzen Bezeichnungen, Serienmörder, Massenmörder, sind alle irgendwie unpassend. Bei ihm waren das vor allem Situations- und Milieutaten, die im Alkoholwahnsinn passiert „Die Figur der Gisela aus der Heils armee zum Beispiel habe ich erst später hineingeschrieben, um mal eine andere Stimme zu haben. Reine Apokalypse wäre einfach zu viel“ Juli 1975, Sicherung von Beweismaterial im Fall Fritz Honka: Schuhe der Opfer Foto: Jaffé/ullstein bild Düstere Bundesrepublik sind. Honka hat nicht die undurchschaubare Psyche eines Naziverbrechers wie Dr. Mengele. Es gab bei ihm keine Vorsätze. Honka hat meiner Ansicht nach ein besonders furchtbares Schicksal gehabt – Missbrauch, Zementkrätze, diese Versklavung in den 50ern auf Bauernhöfen. Er ist immer wieder zusammengeschlagen worden, so dass der Kiefer noch dreimal gebrochen wird, ein Albtraum. So erkläre ich mir das. Wie historisch genau sind Ihre Beschreibungen? Ich habe im Staatsarchiv neben vielen anderen Akten ungefähr eine Seite über jeden Mord gefunden und habe daraus konstruiert, wie es abgelaufen sein könnte, in all seiner Mons trosität. Über den ersten Mord wusste ich am meisten, habe aber am wenigsten darüber geschrieben, um erst mal nur eine Fährte zu legen. Sehr umfangreich in der Recherche war die Reedergeschichte. Sie erzählen sie im zweiten Strang Ihres Romans. Ja. Und zur Containerrevolution, die viele Hamburger Reeder in ■■„Der goldene Handschuh“ ist der Überraschungserfolg dieses Frühjahrs, ein Buch, das gleichzeitig fasziniert und nachhaltig verstört. Es transportiert den Leser ins Hamburg der frühen Siebziger Jahre, in das Milieu der billigen Absturzkneipen nahe der Reeperbahn. ■■Der Roman erzählt die Geschichte des Frauenmörders Fritz Honka, dessen Fall für Aufsehen sorgte. Zugleich handelt er von Alkoholismus und emotionaler Verwahrlosung in einer Gesellschaft, die nach außen hin hell und hoffnungsfroh wirkte, tatsächlich aber vom Krieg nachhaltig traumatisiert war. Insofern ist der Roman auch ein Blick zurück auf die düstere Seite der alten Bundesrepublik, in der Gewalt alltäglich war. ■■Heinz Strunk war bislang für autobiografisch geprägte, humorvolle Romane bekannt („Fleisch ist mein Gemüse“). Mit seinem Werk „Der goldene Handschuh“ gilt er als Geheimfavorit für den Leipziger Buchpreis, der heute verliehen wird. (jz) eine Krise stürzte, und der Gelben Flotte, die nach dem Sechstagekrieg jahrelang im Suezkanal festsaß, habe ich viel gelesen und nachgeprüft. Ich hatte einen Informanten, der jede Menge Details aus dieser Zeit wusste. Wieso haben Sie die Parallelgeschichte mit der Reederfamilie mit ins Buch genommen? Mir war von Anfang an klar, dass 250 Seiten purer Honka-Horror einfach zu massiv gewesen wären. Und außerdem ist – in aller Bescheidenheit – ein Qualitätsmerkmal des Buches, dass ich versucht habe, diese unterschiedlichen Milieus auch sprachlich abzubilden. Meine eigenen sprachlichen Möglichkeiten als Autor wären sehr begrenzt gewesen, wenn ich nur in Honkas Sprache geschrieben hätte. Die gewalthaltigen Stellen sind so gut geschrieben, dass die Situationen mich bedrücken. Sie nicht? Nee, gar nicht. Meine Aufgabe war, dem Ganzen so nahe wie möglich zu kommen und es mit den passendsten Worten zu be- schreiben. Über den Roman „Kaltblütig“ wurde ja immer kolportiert, dass sein Autor Truman Capote an dem Buch zerbrochen ist, weil es ihn so mitgenommen hat. Bei mir war das nicht so. Gemein haben die Storys aus beiden Milieus, Honka und die Reeder, dass es um verzweifelte, komplett gescheiterte Männer geht. Genau. Die Aufgabe in der Überarbeitung während des Lektorats war es darum auch, ein paar Figuren ein wenig zu entschärfen. Die Figur der Gisela aus der Heilsarmee zum Beispiel habe ich erst später hineingeschrieben, um mal eine andere Stimme zu haben. Reine Apokalypse wäre einfach zu viel. Haben Sie je überlegt, ob man die historische Figur Honka, die Sie an Fakten entlangerzählen und die das Leben von realen Personen beeinflusst hat, überhaupt mit rein fiktiven Figuren vermischen darf? Ob das legitim ist oder nicht, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht – es steht ja schließlich Roman drunter. Ich hätte gern noch lebende Perso- nen befragt, habe aber keine gefunden. Nur der jetzige Besitzer des „Goldenen Handschuhs“, der Enkel des damaligen Wirts, hat mir einige Dinge erzählt – er hatte Honka aber natürlich auch nicht mehr kennengelernt. Viele Figuren sind ausgedacht – Gerdas Tochter Rosi zum Beispiel. Auch Honkas Bruder – es gab einen, aber über den weiß ich kaum etwas. Sie haben die unterschiedlichen Slangs schon angesprochen – zum Beispiel der sabbelnde Hamburger Kapitän bei der Hafenrundfahrt. Da habe ich natürlich selbst einige mitgemacht und dabei viel gelauscht. Und diese bizarren Monologe in den Bars mitanzuhören war ein großer Teil der Recherche. In diesen Sequenzen habe ich mir auch erlaubt, Humor mit einzubringen – ich persönlich fand es jedenfalls irre komisch. Die Hafenrundfahrt ist ein klassischer comic relief, damit man mal ein paar Seiten Entlastung hat. Honka war ja damals wirklich kurz auf dem aufsteigenden Ast. Er fand eine Stelle als Nachtwächter. Und stürzte dann wieder schlimm ab. Können Sie den Vorwurf verstehen, dass man solche Schicksale nicht zu seinem eigenen kreativen Vorteil nutzen darf? Nee – was sollte das heißen? Dass ich mich am Leid von anderen Menschen bereichere? Das ist Schwachsinn. Ich verstehe nicht, wie man so denken kann. Aber ist doch klar, dass bei diesem Buch auch manche Leute aussteigen. Eine Zeitung wollte eigentlich einen Vorabdruck machen, hat dann in den Text reingelesen und ist zurückgetreten, weil man es dem Leser nicht zumuten wollte. Jetzt, wo ich für den Leipziger Buchpreis nominiert bin, sieht das plötzlich anders aus. Wieso – und ich nehme mich da nicht aus – lesen so viele Menschen gerne solche Geschichten? Die Menschen lesen ja auch gern Krimis, in denen es die abstrakte Superbestie gibt, die man gar nicht mehr nachvollziehen kann – das finden sie faszinierend. Aber genau das ist Honka nicht. Ich versuche im Buch eher nachvollziehbar zu machen, wie jemand zum Mörder wird. Das ist in der Wirkung anscheinend genauso interessant. Gehen Sie nach den ganzen Bildern, die Sie erschaffen haben, eigentlich immer noch in den „Goldenen Handschuh“? Ja, ich bin da gern. Heinz Strunk ■■wurde 1962 in Hamburg geboren. Sein Roman „Fleisch ist mein Gemüse“ verkaufte sich 500.000-mal. Andere Werke u. a.: „Das Strunk-Prinzip“, „Junge rettet Freund aus Teich“. In den „Goldenen Handschuh“ auf St. Pauli geht er immer noch gern. Foto: dpa
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