Neues Deutschland

Hamlets doppeltes Ende
Armut und kein Ende
Hoffnung ohne Ende
Alfred Döblins letzter Roman hat zwei
Schlüsse. Welcher ist richtig? Seite 15
Die Berliner Armutsquote sank leicht. Die
Politik müsste dennoch handeln. Seite 11
Irans »Reformer« verbreiten
Zuversicht. Seiten 2 und 3
Foto: dpa/Zdf/Privat/Döblin-Erben
Foto: AFP
Freitag, 26. Februar 2016
STANDPUNKT
Eine Illusion
Uwe Kalbe über panische, national
begrenzte Flüchtlingspolitik
Man kann nicht sagen, dass Europa nicht folgerichtig agiere.
Und trotzdem steuert es auf den
Abgrund zu. Oder besser: deshalb. Denn die EU handelt fortwährend im Geist der gescheiterten Dublin-Regelungen, obwohl
diese selbst ihren Geist längst
aufgegeben haben. Während in
Deutschland eilig an immer neuen Verschärfungen des Asylrechts
gezimmert wird, versuchen die
zehn Staaten der Balkan-Konferenz ihre Grenzen in einer konzertierten Aktion zu schließen
und damit eine Zone gewaltsamer
Befriedung zu schaffen. So groß
ist der Unterschied nicht.
Das Heft des Handelns in die
Hand nehmen, nennt die österreichische Innenministerin dieses
Vorgehen. Auch militante Sprache
bekämpft Flüchtlinge. Aber vor
allem: Die EU geht fortwährend
gegen Symptome des Problems
vor. Ein Fluchtursachenbekämpfungsprogramm verlangte die
LINKE im Bundestag. Zu Recht.
Die beteiligten Länder der Balkankonferenz stoßen erneut und
sehenden Auges auch Griechenland ins Chaos, von dem wieder
einmal in irrationaler Ignoranz
der Realitäten verlangt wird, dass
es »liefert«. Welches die verlangte
Abwehr der Flüchtlinge an seinen
Grenzen nicht erreichen kann,
wenn es sie nicht umbringen will.
Dass die Balkanstaaten an den
deutschen Grenzen einen Moment lang für unwirkliche Ruhe
gesorgt haben, weil die Flüchtlinge aus Österreich ausbleiben,
wird die Illusion von der Verbannung des Problems nach draußen, vor die Außengrenzen der
EU, womöglich um einen Moment verlängern. Eine Illusion
bleibt es dennoch.
UNTEN LINKS
Wer einen Realitätsverlust erlitt,
der hatte es in der Vergangenheit
schwer, seine Stellung in der Gesellschaft zu behaupten. Heute ist
das anders. Die verlorene Realität
kann umstandslos durch eine
neue ersetzt werden. Hoch im
Kurs steht in solchen Fällen derzeit die virtuelle Realität. Auf der
Mobilfunkmesse in Barcelona war
sie – neben der erweiterten Realität – das große Thema. In sämtlichen Medien waren die Bilder
entrückt lächelnder Menschen zu
sehen, vor deren Gesichter klobige Geräte gespannt waren: Taucherbrillen für die Tiefsee der
virtuellen Realität. Sicher, auch
diese Realität kann verloren gehen. Aber im Gegensatz zum
analogen Realitätsverlust, der
laut Wikipedia durch traumatische Erlebnisse, Drogenmissbrauch, Schizophrenie, »Gefangenschaft in gleichbleibender
Dunkelheit« oder »allmähliches
Verhungern« ausgelöst wird, hätte der virtuelle Realitätsverlust
eine relativ unbedenkliche Ursache: die zeitweilige Entfernung
des Bretts vor dem Kopf. mha
ISSN 0323-3375
71. Jahrgang/Nr. 48
Bundestag brüskiert Flüchtlinge
Schwarz-rote Mehrheit schränkt Grundrecht auf Asyl weiter ein
Bundesausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
Statistik enthält
nicht alle Angriffe
auf Geflüchtete
Organisationen zählen mehr
Übergriffe als das BKA
Berlin. Die Zahl der Angriffe auf Flüchtlinge
und ihre Unterkünfte soll höher liegen als vom
Bundeskriminalamt (BKA) angegeben. 2015
zählten die Amadeu Antonio Stiftung und Pro
Asyl insgesamt 1239 Vorfälle, wie beide am
Donnerstag mitteilten. Das BKA gehe dagegen von rund 200 Vorfällen weniger aus. »In
der offiziellen Liste der Behörde tauchen viele besonders drastische Fälle nicht auf«, erklärte Timo Reinfrank, Geschäftsführer der
Amadeu Antonio Stiftung. Die Ermittlungsbehörden, insbesondere die lokalen Polizeidienststellen, nähmen rechte Angriffe auf Geflüchtete vielfach nicht ernst genug, bemängelte Reinfrank.
Ein drastischer Vorfall ereignete sich derweil in Leipzig: Unbekannte haben auf dem
Baugelände einer Moschee ein totes Schwein
abgelegt. Auf dem Tier stand mit roter Farbe
»Mutti Merkel« geschrieben, wie die Polizei
am Donnerstag mitteilte. Agenturen/nd
Streit um Zukunft
von Roland Jahn
Vertrag des Beauftragten für die
Stasi-Unterlagen läuft zunächst aus
Fotos: Photocase/photka, dpa/Oliver Killig [M]
Berlin. Wäre die schwarz-rote Koalition ehrlich, müsste sie das am Donnerstag im Bundestag beschlossene Asylpaket in Anti-Asylpaket umbenennen. Und sie müsste es mit
Schockbildern und Warnaufschriften versehen,
wie demnächst bei Zigarettenschachteln.
Denn der einzige Zweck der jüngsten Verschärfung des Asylrechts ist es, so viele Flüchtlinge wie möglich abzuwehren oder wieder
loszuwerden. Flüchtlinge mit so genannter geringer Bleibeperspektive sollen einem
Schnellverfahren von maximal drei Wochen
unterliegen; der Familiennachzug für bestimmte Flüchtlingsgruppen, darunter Minderjährige, wird ausgesetzt; Erkrankung
schützt nur noch in sehr schwerwiegenden
Fällen vor Abschiebung. Die einzige Verbesserung: Künftig müssen Betreuer, die sich um
nicht erwachsene Schutzsuchende kümmern,
ein erweitertes Führungszeugnis vorweisen.
Nach Ansicht des LINKE-Abgeordneten Jan
Korte liefert die Gesetzesverschärfung eine indirekte Bestätigung für Fremdenfeinde und
Hetzer. Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Gö-
ring-Eckardt nannte die Einschränkungen beim
Familiennachzug schäbig. Alle anwesenden
Abgeordneten von Linkspartei und Grünen
stimmten gegen die Asylrechtsverschärfung.
Auch 30 Sozialdemokraten sagten Nein, darunter der gerade zurückgetretene Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer. Ein einziger CDU-Abgeordneter
lehnte das Anti-Asylpaket ab – nach eigenem
Bekunden aber aus Versehen. Ihm sei ein Abstimmungsfehler unterlaufen, zitierte die
Agentur AFP sein Büro. wh
Seite 6
Griechenland will nicht zum Lager werden
Österreich droht Athen im Streit um Grenzsicherung mit Ausschluss aus dem Schengenraum
Veto-Drohungen, Alleingänge
und eine Frist: In der Flüchtlingskrise steht die EU am Scheideweg und gibt sich noch bis zum
Sondergipfel Zeit, mit altem
Konzept Erfolge zu erzielen.
Brüssel. Bis zum 7. März müsse die
Zahl der über die Türkei nach
Griechenland
kommenden
Flüchtlinge »drastisch und nachhaltig verringert werden«, betonte Bundesinnenminister Thomas
de Maizière beim EU-Innenministertreffen am Donnerstag in
Brüssel. Wenn dies nicht gelinge,
müsse es »andere gemeinsame
europäisch koordinierte Maßnahmen« zum Schutz der Außengrenze geben. Worin diese bestehen könnten, wollte de Maizière nicht sagen.
Österreich hat die Antwort für
Europas Plan B offenbar schon parat: Wenn Griechenland seine
Grenze nicht schützen könne,
müsse die Frage gestellt werden,
ob diese »weiterhin Schengen-
Außengrenze sein« könne, so Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. Sie verteidigte in Brüssel den
mit anderen Staaten entlang der
Balkanroute gefassten Beschluss,
die
mazedonisch-griechische
Grenze stärker zu kontrollieren,
um »die Migrationsströme zu
stoppen«. Kommen die Zuwanderer nicht mehr weiter, droht ein
Rückstau in Griechenland. Athen
befürchtet deshalb, dass die EU
bereits plant, das Land zu einer Art
riesigem Auffanglager zu machen
und protestiert energisch. »Griechenland wird es nicht hinnehmen, Europas Libanon zu werden«, sagte Innenminister Ioannis
Mouzalas mit Blick auf das Land,
das ein Viertel aller ins Ausland
geflohenen Syrer beherbergt.
Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras hatte nach dem
Wiener Treffen der Balkanländer
am Mittwochabend mit einer Blockade von EU-Entscheidungen
gedroht. Seine Regierung werde
»keinem Abkommen mehr zu-
stimmen, wenn die Last und die
Verantwortung nicht im richtigen
Verhältnis geteilt« würden, sagte
er im Parlament. »Wir werden
nicht akzeptieren, dass sich unser
Land in ein Lagerhaus für
menschliche Seelen verwandelt.«
Die EU-Kommission bereitet
sich schon seit Tagen auf eine
mögliche »humanitäre Krise« in
Griechenland vor. Eine Kommissionssprecherin sagte am Donnerstag, Brüssel sei in Kontakt mit
den griechischen Behörden.
Luxemburgs Migrationsminister Jean Asselborn sagte, die EU
sei dabei, »in eine Anarchie« zu
steuern. »Wir haben keine Linie
mehr.« Beschlüsse der EU zeigten
»null Effekt« und würden durch
nationale Maßnahmen unterlaufen. »Mir graut’s.«
Unterdessen haben sich die
NATO-Staaten auf den umstrittenen Bündniseinsatz in der Ägäis
geeinigt. Damit kann der bereits
angelaufene NATO-Einsatz nun
effektiver zur Bekämpfung der
Schleuserbanden beitragen. Vertreter der Bündnisstaaten verständigten sich in der Nacht zum
Donnerstag in Brüssel auf die
Richtlinien für die Beobachtung
der türkischen und griechischen
Seegebiete. Zudem legten sie fest,
dass der unter deutscher Führung
stehende NATO-Marineverband
SNMG 2 aus Seenot gerettete
Flüchtlinge in der Regel in die
Türkei zurückbringt. Agenturen/nd
} Lesen Sie morgen
im wochen-nd
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Kein Platz in Diyarbakir
Vater, Mutter, Sohn:
Strittmatters Welt
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Unter Anpassungsdruck
Berlin. Der am 14. März auslaufenden ersten
Amtszeit des Bundesbeauftragen für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, wird einstweilen keine zweite folgen. Ein Sprecher von
Kulturstaatsministerin Monika Grütters
(CDU) bestätigte dies am Donnerstag. Die
Große Koalition verpasste am Mittwoch den
letzten Termin, die Vorlage über eine Vertragsverlängerung vom Kabinett verabschieden zu lassen. Der 62-Jährige soll demnächst seine Entlassungsurkunde erhalten,
die Einrichtung aber zunächst kommissarisch weiterführen.
Die SPD-Minister hatten die Kabinettsbefassung nach Angaben von Grütters’ Sprecher blockiert. Während der kulturpolitische
Sprecher der Unionsfraktion, Marco Wanderwitz, mehrfach erklärt hatte, man wolle
den 2011 eingesetzten Jahn für weitere fünf
Jahre wählen, lehnt die SPD-Bundestagsfraktion dies vorerst ab. Die Sozialdemokraten wollen die Empfehlungen einer vom Bundestag eingesetzten Expertenkommission zur
Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde abwarten. dpa/nd
Personalie Seite 4
»Dschungel« wird
teilweise geräumt
Gericht billigt Entscheidung der
französischen Behörden zu Calais
Lille. Die französische Justiz hat die geplante
Räumung eines Teils des Flüchtlingslagers in
Calais gebilligt. Das Verwaltungsgericht der
nordfranzösischen Stadt Lille erklärte ein
entsprechendes Dekret am Donnerstag für
rechtmäßig, wie aus dem Umfeld der zuständigen Präfektur verlautete. Damit können die Behörden wie geplant den südlichen
Teil des als »Dschungel« bekannten Lagers am
Ärmelkanal räumen. In diesem Abschnitt leben nach Angaben der Behörden bis zu 1000
Migranten in selbst gebauten Hütten oder
Zelten. Hilfsorganisationen sprechen sogar
von rund 3500 Flüchtlingen.
Die Präfektur des Départements Pas-deCalais hatte den Zugewanderten bis Dienstagabend Zeit gegeben, den südlichen Abschnitt zu räumen. Migranten und Hilfsorganisationen versuchten, die Räumung per
einstweiliger Verfügung zu verhindern, und
zogen vor das Verwaltungsgericht von Lille.
Das Ultimatum der Behörden wurde damit
bis zur jetzt erfolgten Entscheidung des Gerichts unwirksam. AFP/nd