`Wir dürfen die Fehler von damals nicht wiederholen`

Handelsblatt.com vom 30.03.2016
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Exuzidis, Leonidas
Ressort:
Politik / Deutschland
online
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Online-Quelle
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Cemile Giousouf zur Flüchtlingsintegration
'Wir dürfen die Fehler von damals nicht wiederholen'
Als Kind der Gastarbeiter-Generation weiß Cemile Giousouf, was gelungene Integration
bedeutet. Die CDU-Politikerin spricht im Interview über die Situation ihrer Eltern, die
Flüchtlingsfrage und Probleme der NRW-Kommunen.
Erstveröffentlichung 30.03.2016
14:17:49
Auf ihren Wahlkreis Hagen/EnnepeRuhr I ist Cemile Giousouf (37) mächtig stolz: In ihrem Berliner Büro hängen
Fotos aus dem südöstlichen Ruhrgebiet
und dem angrenzenden Sauerland. Als
sie nach Berlin ging, hatte die Bundestagsabgeordnete und Integrationsbeauftragte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihren Wahlkreis um Fotos gebeten der Wunsch wurde erhört. Die Bilder
hat sie sorgsam eingerahmt und an der
Wand aufgehängt - lediglich eine Abbildung der Hagener Fernuniversität fehle,
sagt sie und lacht.
Frau Giousouf, mit wie viel Sorge
blicken Sie in diesen Tagen an die
griechisch-mazedonische Grenze?
Mit großer Sorge. Das sind genau die
Bilder, die wir in der CDU nicht haben
wollten. Die Kanzlerin hat zuletzt
immer wieder vor solchen Bildern
gewarnt. Das ist das Ergebnis einer misslungenen europäischen Flüchtlingspolitik.
Woran fehlt es dort letztlich? An
humanitärer Hilfe oder an einem echten Plan?
Die dort ausharrenden Flüchtlinge haben
die Möglichkeit, in Griechenland vernünftig zu leben. Sie wollen aber weiterziehen. Das ist eine fehlerhafte Informationspolitik. Sie wissen selbst nicht
mehr, was das Beste für sie ist. Sie sind
letztlich Opfer von Schleusern und
Schleppern.
Ihre Eltern sind als Gastarbeiter aus
Griechenland in den 1970er-Jahren
nach Deutschland gekommen. Sie
gehören der türkischen Minderheit
dort an. Können Sie die Motive der
jungen Flüchtlinge daher besonders
gut nachvollziehen?
Selbstverständlich. Meine Familie ist
nach Deutschland gekommen, um über-
haupt eine Lebensperspektive zu haben.
Meine Eltern wurden allerdings komplett alleine gelassen: Es gab keine
Struktur, keine Sprachkurse, keine KitaPlätze. Hier haben wir dazugelernt. Wir
dürfen die Fehler von damals natürlich
nicht wiederholen. Wir müssen den
Zugezogenen die Lebensrealität in unserem Land an die Hand geben und
schneller unsere Werte vermitteln.
Meine Eltern mussten sich das selbst
beibringen.
Sind Sie in ihrer Rolle vielleicht auch
eine Art Identifikationsfigur?
Ich bin eine von vielen. Die Nachkommen der Gastarbeiter-Generation, von
denen wenige eine Ausbildung hatten,
haben im Vergleich zu ihren Eltern
einen großen Schritt nach vorne
gemacht. Die Mehrheit ist gut ausgebildet und identifiziert sich auch mit unserem Land. Leider sehen wir überproportional die Problemfälle, die es selbstverständlich auch gibt. Aber es gibt eben
viel mehr gute Beispiele, die zeigen,
dass Deutschland ein Aufstiegsland ist das betrifft nicht nur meine Person.
Sie besitzen die deutsche und die
griechische Staatsbürgerschaft. Fühlen Sie sich deutsch, griechisch oder
türkisch?
Ich fühle mich zu allen Nationalitäten
hingezogen aber Deutschland ist meine
Heimat. Ich gehöre zu den Personen, die
diese viel zitierte 'hybride Identität'
haben.
Wann werden die Flüchtlinge in
Griechenland akzeptieren, dass es
vorerst nicht mehr weitergeht?
Das ist eine der zentralen Aufgaben.
Wir müssen die Menschen darüber
informieren, wie es für sie weitergehen
kann. Wir müssen ihnen verdeutlichen,
dass sie sich nicht unbedingt aussuchen
können, in welches Land sie auswandern. Doch wenn die gesamteuropäi-
sche Bereitschaft fehlt, kann man den
Flüchtlingen auch nicht verdenken,
Deutschland als kollektives Ziel auszugeben.
'Das ist peinlich, das ist eine Schande'
Wie bewerten Sie den Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei?
Wir sind in einer Situation, wo wir mit
Kriegstreibern in Syrien einen Friedenskompromiss verhandeln müssen. Wir
haben nicht mehr den Luxus, uns die
Partner auszusuchen, wenn wir Flüchtende retten wollen. Die eigenen EUNachbarn stellen sich übrigens hier
gerade insgesamt sehr uneuropäisch an.
Die Türkei ist nun mal ein Transitland
für die Fluchtbewegungen in die europäischen Grenzen und deshalb ist es
unentbehrlich, mit ihr zusammen zu
arbeiten. Die Abmachung ist ein großer
Erfolg für die Linie der Kanzlerin. Die
Türkei leistet mit der Rückübernahme
von Flüchtlingen, die illegal nach Griechenland eingereist sind, einen wichtigen Beitrag, die Flüchtlingszahlen zu
reduzieren. Europa wird im Gegenzug
registrierte Flüchtlinge in geordnetem
Maße auf andere EU-Länder verteilen.
Griechenland scheint mit der Prüfung von Asylansprüchen überfordert. Der Deal sieht vor, dass Griechenland das weiter übernimmt. Ist
diese Strategie nicht zum Scheitern
verurteilt?
Es stimmt, das ist eine Mammutaufgabe.
Doch Griechenland wird nicht alleine
gelassen. Deutschland stellt bis zu 200
Polizeibeamte und bis zu 100 Beamte
aus dem Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge zur Unterstützung bereit.
Wir brauchen ja auch selbst Beamte.
Die Schätzungen der EU-Kommission
für Griechenland liegen bei 4000 Beamten. Hier müssen alle Staaten mithelfen.
Deutschland profitiert unfreiwillig,
weil die 'Zahl der ankommenden
Flüchtlinge reduziert' wurde. Ein
Etappenziel der Kanzlerin.
Nein, nicht auf die Art. Die Kanzlerin
hat immer wieder davor gewarnt, zur
Abschottung der Balkanroute die
Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland zu schließen. Wir hängen in
Europa mit der Verteilung der Menschen deutlich hinterher. Ich habe von
Anfang an gesagt: Wenn sich europäische Länder weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, dann muss es Sanktionen
geben. Das ist einfach in der Form nicht
mehr tragbar. Solange es keine Sanktionsmöglichkeiten gibt, werden sich einzelne Länder gegen ankommende
Flüchtlinge wehren. Das ist peinlich, das
ist eine Schande.
Was macht die deutsche Integrationsfähigkeit aus?
Dieser Prozess kann niemals zu 100%
positiv verlaufen. Trotz aller Hürden ist
die deutsche Integrationsfähigkeit ist
sehr gut. Wir sind ein starkes Land, uns
geht es wirtschaftlich sehr, sehr gut. Sie
sehen es an den Kindern der sogenannten Gastarbeiter-Generation: Die Mehrheit dieser Menschen hat es geschafft,
entlang ihrer Potentiale ein Leben aufzubauen. Sie haben dem Land zur wirtschaftlichen Stärke mitverholfen und
mehr zurückgegeben als dass sie das
Land gekostet haben. Deutschland ist
ein Einwanderungsland und hat hinsichtlich der Integration von Zugezogenen eine Erfolgsgeschichte vorzuweisen
- und wir nehmen weiß Gott nicht zum
ersten Mal Flüchtlinge in diesem Land
auf.
Was sind die Kernaufgaben bei der
Integration von Flüchtlingen aus
Kriegsgebieten?
Allen voran Sprach- und Arbeitsmarktintegration. Selbst diejenigen, die später in ihr Herkunftsland zurückkehren
möchten, sollten hier eine vernünftige
Ausbildung bekommen, um später beim
Wiederaufbau ihrer Heimat zu helfen.
Wenn es um die Integration junger
Einwanderer geht, werden die Probleme allen voran im Arbeitsmarktsektor ausgemacht.
Das stimmt. Wir haben viele Gesetze
liberalisiert, um Bleibeberechtigte in
Arbeit zu bringen. Aber die Praxis funktioniert noch nicht wunschgemäß. Wir
schaffen es bislang noch nicht, Bleibeberechtigte und Unternehmer in geeignetem Maße zueinander zu bringen.
Hier müssen wir Bürokratie abbauen,
die Abschaffung der Vorrangprüfung
wäre so eine Maßnahme.
'Die SPD versagt auf ganzer Linie'
Sie vertreten seit 2013 den Wahl-
kreis Hagen/Ennepe-Ruhr I im Bundestag. Haben Sie sich inzwischen
ausreichend an Berlin gewöhnen können?
(lacht) Ja, ich denke schon. Die Arbeit
hier ist so intensiv und vielseitig, dass es
nicht lange gedauert hat, bis ich angekommen bin. Ich habe in relativ kurzer
Zeit viele Dinge gelernt und immer die
notwendige Unterstützung erfahren.
Wie empfinden Sie die Arbeit im
Wahlkreis?
Ich spüre zum Teil die Ohnmacht, wenn
Dinge auf Bundesebene beschlossen
werden, im Wahlkreis allerdings nie
ankommen.
Beispielsweise?
Die Finanzierungssituation in der
Flüchtlingsfrage. Die Bundesregierung
hat eine deutliche Entlastung für die
Länder in die Wege geleitet. Der Bund
gibt den Ländern Geld, damit diese die
Kommunen wiederum finanziell unterstützen können. In Nordrhein-Westfalen wird das Geld jedoch nicht weitergegeben - das schadet dem gesellschaftlichen Frieden. Die SPD-Landesregierung lässt die gebeutelten Kommunen
im Stich. Mein Wahlkreis etwa
bekommt für die Versorgung von
Flüchtlingen nur die Hälfte dessen, was
ihm zusteht. Das ist eine frustrierende
Erfahrung.
Muss man mehr Druck auf die Landesregierung ausüben?
Das können nur die Wählerinnen und
Wähler bei der kommenden Landtagswahl.
Droht auch in Nordrhein-Westfalen
ein Erstarken von Randparteien?
Wir müssen davon ausgehen, dass rassistische Parteien auch in NordrheinWestfalen Wahlkampf mit der ungelösten Flüchtlingssituation machen. Ich
persönlich bin aber sehr optimistisch,
dass die Zahl der Zuwanderer sinkt und
die AfD daher keinerlei Argumente
mehr haben wird, um die Wähler in
Angst und Panik zu versetzen.
Was läuft falsch in Nordrhein-Westfalen?
Das Land hat sich unter SPD-Führung
nicht weiterentwickelt. Wir haben hinsichtlich der Kinderarmut beim letzten
Armutsbericht enorm schlecht abgeschnitten. Es gibt eine hohe Ausfallquote von Schulstunden. Die Einbruchsrate ist extrem hoch, die Aufklärungsrate hingegen extrem niedrig. Die Integrationspolitik im Vorzeigeland NRW
ist in Gänze eingeschlafen. Die politischen Funktionäre der SPD versagen auf
ganzer Linie.
Auch ihr Wahlkreis wird sehr stark
von der SPD dominiert. Seit 1961
kommt der Sieger stets aus dem roten
Lager. Was ist die Strategie für 2017?
Das Versagen der Landesregierung
spricht Bände. Als Integrationsbeauftragte werde ich mich auch weiter für
dieses wichtige Thema einsetzen. Das
ist auch bedeutend für meinen Wahlkreis, in dem der Migrationsanteil rund
40 Prozent beträgt. Darüber hinaus
werde ich mich weiter um Kommunalfinanzen kümmern und mich dafür einsetzen, dass Hagen ein starker Wirtschaftsstandort bleibt.
Ist die CDU offen genug für Zuwanderer?
Definitiv, aber natürlich ist da noch Luft
nach oben. Die Offenheit ist da, aber es
fehlt häufig an Offensive. Wir müssen
uns stärker dafür einsetzen, Migranten
und Migrantenorganisationen anzusprechen und zur Mitarbeit zu animieren und zwar auf allen Ebenen.
Ist das eine Trendwende für die
CDU?
Für diesen Öffnungskurs hat die CDU
zwar etwas länger gebraucht, aber sie
hat ihn konsequenter verfolgt als andere
Parteien. Wir hatten schließlich die erste
muslimische Ministerin und die erste
Integrationsbeauftrage auf Bundesebene überhaupt. Man kann auch nicht
von einer Trendwende sprechen. Denn
für viele meiner Abgeordnetenkollegen
aus deutschen Großstädten ist es normal,
dass sie Migranten in den Kreisvorständen haben. In Regionen, in denen tendenziell eher weniger Migranten leben,
ist die Affinität vergleichsweise gering.
Mit den Neuzuwanderern wird es in dieser Hinsicht zu positiven Veränderungen kommen.
Angesichts dieser Veränderungen
kommt bei manchen Deutschen Angst
vor einer Islamisierung auf
.
Sorry, aber dieses Pegida-Argument
kann ich echt nicht mehr hören. Wir
haben vier Millionen Muslime in diesem Land und die allermeisten dieser
Menschen fühlen sich Deutsch. Jetzt
kommen Flüchtlinge, deren Anzahl
knapp einen Prozentpunkt der Gesamtbevölkerung ausmacht. Dieses Wort,
'Islamisierung', ist rein zahlenmäßig
absurd. Ob unter den Flüchtlingen Menschen sind, die eine andere Weltanschauung haben, können wir bislang gar
nicht beurteilen. Aber deshalb müssen
wir ihnen schnellstmöglich unsere
Werte vermitteln.
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Im Bundestag ist die 37-Jährige Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung und außerdem Integrationsbeauftragten der CDU/CSU-Fraktion. (Foto: Simone
M. Neumann, Deutscher Bundestag) Foto: Pressefoto
Giousouf besitzt sowohl die griechische als auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie ist die erste CDUBundestagsabgeordnete muslimischen Glaubens. (Foto: Roland Rochlitzer) Foto: Pressefoto
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