taz.die tageszeitung

Steinzeit: Als Frauen noch gleichberechtigt waren
Das Videospiel „Far Cry“ zeigt den vormodernen, partnerschaftlichen Kampf ums Überleben ▶ Seite 13
AUSGABE BERLIN | NR. 10954 | 8. WOCHE | 38. JAHRGANG
FREITAG, 26. FEBRUAR 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Historischer Fifa-Kongress:
Bisher keine Festnahmen
H EUTE I N DER TAZ
NEUANFANG Die wichtigsten Funktionäre des Weltfußballs wollen in Zürich Reformen beschließen und einen
Nachfolger für den langjährigen Chef Sepp Blatter wählen. Die Kandidaten trafen unverhaftet ein ▶ SEITE 4
LITERATUR Der Pionier
des modernen Romans:
Henry James ▶ SEITE 15
WISSENSCHAFT Der
Hype um das Prädikat
„glutenfrei“ ▶ SEITE 18
BERLIN Linken-Frakti-
onschef Wolf will die
SPD kritisieren und dann
mit ihr regieren ▶ SEITE 23
FRIEDRICHSHAIN SEZ:
Die Geschichte einer
Privatisierung ▶ SEITE 5
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Hier die neuesten Zahlen zur
„Flüchtlingskrise“:
In den letzten 24 Stunden eingetroffene Flüchtlinge an den
österreichisch-bayerischen
Grenzübergängen: 0
In den letzten 24 Stunden
in Berlin eingegangene
Beschwerdebriefe von Horst
Seehofer aus Bayern: 0
In den letzten 24 Stunden von
Bundeskanzlerin Angela Merkel geäußerte Kritik an den verschärften Kontrollen in Österreich und auf der Balkanroute:
0
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Favorit Gianni Infantino (Schweiz). Kampagnen-Motto: „Den Fußball voranbringen“
Überraschend aufgetauchter Geheimfavorit
(Bayern). Motto: „Weg mit der Abseitsregel“
Außenseiter Prinz Ali (Jordanien). Motto:
„Den Fokus wieder auf den Fußball legen“
Favorit Scheich al-Chalifa (Bahrain). Motto:
„Weltfußball: neu definiert, neu belebt“
KOMMENTAR VON MARKUS VÖLKER ZUR NEUAUSRICHTUNG DER FIFA
Am Ende können sie nicht anders
S
ie hat keine andere Wahl, die Fifa
muss sich neu erfinden. Unter Tagesordnungspunkt acht, Reform der
Fifa-Organisationsstruktur, geht es heute
in Zürich darum, ob der internationale
Fußballverband den Anschluss an die Zukunft findet. Sie haben sich Neuerungen
ausgedacht, die auf dem Papier ganz gut
aussehen. Die Fifa möchte künftig wie
ein Unternehmen daherkommen, mit
Aufsichtsrat und Geschäftsführung. Sie
möchte sich von außen kontrollieren lassen, Gehälter offenlegen und die Struktur
straffen. Es geht darum, die Umtriebe der
Fußballfunktionäre aus aller Welt einzuhegen, ihnen einen klaren Rahmen zu geben. Es ist ein Antifilzprogramm.
Die Idee ist gut, fragt sich nur, ob die
Herren der Fifa und die sehr wenigen
Frauen bereit sind für den Wandel. Die
Skepsis ist mehr als angebracht, denn
die Reformen sind erst einmal nur Absichtserklärungen. Sie gedeihen als zarte
Keimlinge auf dem Humus externer Ermittlungen. Die Justiz in den USA und
der Schweiz musste ja erst die Paragrafenkeule schwingen, bis sich im Weltverband etwas bewegte. Und verabschiedet
sind die Neuerungen ja auch noch nicht.
Drei Viertel der Delegierten müssen für
den Umbruch stimmen. Von diesem Votum hängt alles ab: Haben die Funktionäre kapiert, wie ernst die Lage ist? Ist ihnen klar, dass ihnen die Öffentlichkeit
keine zweite Chance geben wird? Sind sie
sich bewusst, welch irreparablen Imageschaden eine neuerliche Reformverweigerung hätte? In diesem Fall stünde die
Fifa vor dem Aus. Die Fußballwelt müsste
dann über Alternativen zu diesem gescheiterten Verband nachdenken.
So stimmig die neuen Strukturen
sein mögen, die Präsidentschaftskandidaten sind es nicht. An der Spitze der
Sind die Herren der Fifa
und die sehr wenigen Frauen bereit für den Wandel?
„Asylpaket“ und „Anarchie“
FLÜCHTLINGE
Bundestag beschließt Verschärfungen, EU versinkt im Streit
BERLIN/BRÜSSEL epd/rtr/taz |
Der Bundestag hat das „Asylpaket II“ mit weiteren Verschärfungen beschlossen: Schnellverfahren für Flüchtlinge mit
geringer Bleibeperspektive und
Aussetzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz. In Härtefällen
kann es aber Ausnahmen geben.
Die EU-Regierungen stritten
weiter über den Umgang mit Geflüchteten. Während die Bundesregierung Österreich und andere Länder indirekt kritisierte,
verteidigte Wien die neuen Kontrollen an der Balkanroute. Luxemburgs Außenminister Jean
Asselborn warnte vor „Anarchie“ in Europa und stellte fest:
„Wir haben keine Linie mehr.“ Einigen konnten sich die EU-Staaten nur auf strengere Kontrollen
an den Außengrenzen. Als Reaktion auf die Anschläge von Paris sollen dort künftig auch EUBürger bei der Einreise systematisch überprüft werden.
▶ Schwerpunkt SEITE 2, 3
▶ Gesellschaft + Kultur SEITE 14
Fifa könnte künftig mit Scheich Salman
bin Ibrahim al-Chalifa ein Mann stehen, der in Menschenrechtsfragen in seinem Land Bahrain versagt hat. Mit ihm
würde die Fifa einen Neuanfang schon
mal gründlich vergeigen, denn ihr künftiges Gut ist mehr denn je Glaubwürdigkeit. Die Hoffnung, dass der Präsident in
der neuen Organisationsstruktur zu einer Art Grüßaugust verkommt und die
wahre Macht in den Händen des Geschäftsführers liegt, ist trügerisch. Bislang haben es die Funktionäre der Fifa
immer wieder geschafft, sich eine Parallelwelt zurechtzumauscheln, ein Universum, in dem vor allem eines verpönt
war: ein Mentalitätswandel.
Klage gegen Rotoren
WINDRÄDER
Kritiker argumentieren mit Infraschall
BERLIN taz | Mit einer Klage vor
dem Bundesverfassungsgericht
in Karlsruhe wollen Windkraftgegner einen Ausbaustopp erzwingen. Sie argumentieren,
dass der von den Rotoren ausgehende Infraschall – das sind
Wellen mit einer Frequenz unterhalb des menschlichen Hörspektrums – bei Genehmigun-
gen bisher nicht ausreichend berücksichtigt werde, und fordern
neue Normen.
Bisher gehen die Behörden
davon aus, dass Infraschall von
Windrädern keine schädlichen
Auswirkungen auf die Gesundheit von Anliegern hat.
▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 8
▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
SYRI EN: UNO PLANT FRI EDENSGESPRÄCH E NACH WAFFEN RUH E
FLÜCHTLI NGSLAGER CALAIS
Die Hilfskonvois werden schon vorbereitet
Gericht billigt
Teilräumung
GENF/MOSKAU | Kurz vor dem
Sanjay Dutt, Schauspieler, frisch
aus der Haft entlassen Foto: ap
Bollywoods
böser Bube
E
r wurde wie jeder andere Insasse behandelt“, behauptet der Direktor des Hochsicherheitsgefängnisses Yerwada im westindischen Pune
mit Blick auf seinen prominentesten Gefangenen. Wegen guter
Führung wurde Sanjay Dutt am
Donnerstag einige Monate vorzeitig entlassen. Der 56-jährige
Dutt ist einer der schillerndsten Schauspieler Bollywoods.
Er spielte schon in über einhundert Filmen mit und wurde
mehrfach ausgezeichnet. Seine
Spezialität sind Gangsterrollen,
was ihm den Namen „Deadly
Dutt“ einbrachte.
Doch für den Bad Guy des indischen Kinos wurde der Spitzname 1993 zur Realität. Dutt
wurde verhaftet, weil die Polizei bei ihm eine Pistole und ein
Sturmgewehr fanden. Die hätte
er legal nicht besitzen dürfen.
Zuvor hatte es in Indiens Wirtschafts- und Filmmetropole
Bombay Terroranschläge mit
257 Toten gegeben. Darauf folgten antimuslimische Pogrome.
Dutt, Sohn eines hinduistischen Filmstars und einer muslimischen Mutter, habe sich bedroht gefühlt und sich deshalb
Waffen in der Unterwelt besorgt.
Doch sein Waffenhändler stand
in Verbindung mit den Attentätern. Deshalb wurde Dutt mit
den Anschlägen in Verbindung
gebracht und zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.
Es begann ein Reigen aus Gefängnis, Begnadigung und Revision. Dazu gehörten auch eine
abgebrochene Kandidatur für
das Parlament sowie unter- oder
abgebrochene Filmprojekte und
großzügige Hafturlaube. Diese
brachten den Behörden den
Vorwurf der Sonderbehandlung
ein. Am Ende blieb eine fünfjährige Haftstrafe, deren letzter Teil
am Donnerstagmorgen endete.
Dutt hatte die Zeit mit dem Kleben von Papiertüten verbracht
sowie mit Moderationen gefängnisinterner Radiosendungen. Letzteres soll er so gut gemacht haben, dass es zur vorzeitigen Entlassung führte. Für
seine Arbeit abzüglich seiner
Ausgaben bekam er am Entlassungstag Medienberichten zufolge exakt 440 Rupien (5,80
Euro) ausbezahlt.
Nachdem für ihn das Gefängnistor geöffnet wurde, küsste
Dutt den Boden und flog nach
Bombay. Vor der Presse verwies
er darauf, er sei allein wegen
­illegalen Waffenbesitzes verurteilt worden: „Ich bin kein Terrorist“. SVEN HANSEN
Der Tag
FREITAG, 26. FEBRUAR 2016
geplanten Beginn einer Waffenruhe in Syrien bereiten UN-Vertreter die nächsten Schritte vor:
Der Gesandte Staffan de Mistura
kündigte an, er werde am Freitag einen Termin für neue Friedensgespräche bekanntgeben.
Gleichzeitig werde es ein erstes
Treffen der Waffenruhe-Arbeitsgruppe geben. Sie wurde von der
Syrien-Unterstützergruppe gebildet, in der neben den Großmächten auch die wichtigsten
Regionalmächte des Nahen Ostens vertreten sind. In Moskau
teilte das Außenministerium
mit, es stehe im Austausch mit
der US-Regierung über den Plan
zur Einstellung der Kampfhandlungen. Der für humanitäre UNHilfe in Syrien verantwortliche
Jan Egeland sagte, die Helfer
stünden in den Startlöchern, um
Hilfskonvois nach Aleppo, Homs
und in andere belagerten Orte
zu schaffen. Der Abwurf von
Lebensmitteln für die 200.000
Menschen im belagerten Deir
al-Sor am Mittwoch war nach
Angaben einer UN-Sprecherin nicht erfolgreich. Alle abgeworfenen Paletten seien bei der
Aktion zu Bruch gegangen, außerhalb des Zielgebiets gelandet
oder verschollen. (rtr)
LILLE | Das Flüchtlingslager bei
Calais darf einem Gerichtsbeschluss zufolge zum Teil geräumt werden. Das Verwaltungsgericht Lille billigte am Donnerstag die Behördenpläne, so
ein Sprecher. Aufgelöst werden
soll der südliche Teil des Camps.
Gemeinschaftseinrichtungen
wie Schulen sollen bleiben. In
dem „Dschungel“ genannten illegalen Lager warten Hunderte
Menschen auf eine Chance, über
den Ärmelkanal nach Großbritannien zu kommen. Humanitäre Gruppen hatten gegen die
Räumung geklagt. (afp)
L AUT ODER LEISE?
KORRUPTIONSVERDACHT
Etablierte Musiker, frische
Jungbands, Pop-Diskurse sowie
Interviews mit SängerInnen und
Klang-Fricklern: Aufs nächste Konzert einstimmen auf taz.de/musik
Konzerte
Kritiken
Klänge
www.taz.de
Lageso-Referatsleiter
festgenommen
BERLIN | Ein Referatsleiter des
Landesamtes für Gesundheit
und Soziales (Lageso) ist wegen
Korruptionsverdachts festgenommen worden. Der 48-Jährige soll Schmiergelder genommen haben, wie die Berliner
Staatsanwaltschaft am Donnerstag mitteilte. Er soll Aufträge für
den Betrieb von Flüchtlingsunterkünften nur vergeben haben,
wenn dafür ein bestimmtes Sicherheitsunternehmen zur Bewachung verpflichtet wurde.
Auch der Geschäftsführer eines
Sicherheitsunternehmens sei
festgenommen worden. (dpa)
Griechenland will kein Lager sein
ASYLPOLITIK Europa zerlegt sich in der Flüchtlingsfrage. Nach dem Treffen der Westbalkan-Staaten in Wien
kritisiert Deutschland „Alleingänge“, Luxemburg warnt vor „Anarchie“, Tsipras kündigt eine EU-Blockade an
VON DANIEL BAX
Auf dem Treffen der EU-Innenminister am Donnerstag
in Brüssel prallten die Fronten
unversöhnlich aufeinander. Luxemburgs Außenminister Jean
Asselborn warnte vor „Anarchie“ in Europa und stellte resigniert fest: „Wir haben keine Linie mehr.“
Das ist noch freundlich ausgedrückt. Während Bundesinnenminister Thomas de Maizière
(CDU) die Durchhalteparole ausgibt, bis zum nächsten EU-Gipfel mit der Türkei in zehn Tagen
„alle Kraft“ auf den Schutz der
EU-Außengrenzen zu legen und
„nationale Alleingänge“ bis dahin zu unterlassen, hatte Öster-
reich nur einen Tag zuvor bereits
Fakten geschaffen. Auf seiner
umstrittenen „Westbalkan-Konferenz“ hatte es sich mit neun
weiteren Ländern auf stärkere
Grenzkontrollen verständigt.
Am gleichen Tag kündigte Ungarn an, sich sein striktes Nein
zur Aufnahme von Flüchtlingskontingenten von seiner Bevölkerung per Referendum bestätigen lassen.
Der Affront richtet sich nicht
nur gegen Merkel, die um eine
gemeinsame europäische Lösung ringt, sondern auch gegen Griechenland, das mit den
Flüchtlingen
alleingelassen
wird. Dessen Premier Alexis
Tsipras reagierte prompt. Vor
dem Parlament in Athen drohte
er bereits am Mittwoch mit einer Blockade der EU. „Wir werden es nicht akzeptieren, dass
sich unser Land in ein Lager für
menschliche Seelen verwandelt“, sagte er den Abgeordneten.
Am Donnerstag legte der
griechische Vize-Innenminister Ioannis Mouzalas in Brüssel nach: „Griechenland wird es
nicht hinnehmen, Europas Libanon zu werden.“ Auf einseitige
Maßnahmen anderer EU-Länder werde es ebenfalls mit einseitigen Maßnahmen reagieren. Kurz darauf wurde bekannt,
dass Athen am Donnerstag seine
Botschafterin aus Österreich zurückgerufen hat.
Am 7. März will die EU mit
der Türkei gemeinsame Maß-
Noch 22 Kilometer bis zum Übergang Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze Foto: Daniel Biskup
Auf der Autobahn gen Norden
FLUCHT
nahmen beschließen, um die
Flüchtlingsfrage zu bewältigen. Bis dahin müsse die Zahl
der Menschen, die über die
Schengen-Außengrenze nach
Griechenland kämen, allerdings deutlich reduziert und
die Grenze besser geschützt
werden, sagte de Maizière. Andernfalls bräuchte es „andere
gemeinsame europäisch koordinierte Maßnahmen“. Auf die
Frage, welche dies sein könnten,
De Maizière sagt,
das „Durchwinken“
müsse ein Ende
haben
antwortete er nur: „Das sehen
wir dann.“ Mit seiner Amtskollegin aus Österreich, Mikl-Leitner, sei er sich aber einig, dass
die Zeit des „Durchwinkens“ ein
Ende haben müsse.
Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) bezeichnete den
7. März ebenfalls als „entscheidend“. Wenn es gelänge, die
Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, werde es in der EU auch
mehr Bereitschaft für eine gerechte Verteilung geben, gab
er sich zuversichtlich. Wenn
alle Länder einseitig ihre Grenzen dicht machten, bliebe Griechenland als letztes Glied in der
Kette dagegen auf der Flüchtlingsfrage sitzen, sagte Altmaier am Donnerstag bei einer
DIHK-Veranstaltung in Berlin.
Auch Luxemburgs Migrationsminister Asselborn warnte davor, die griechisch-mazedonische Grenze dicht zu machen
und Griechenland als „Blinddarm“ zu sehen.
Bei der Sitzung der Innenminister in Brüssel standen auch
die Pläne für einen neuen europäischen Grenz- und Küstenschutz auf dem Programm,
der mehr Kompetenzen erhalten soll, als sie die Grenzschutzagentur Frontex jetzt schon
besitzt. Umstritten ist, dass die
neue Behörde notfalls auch gegen den Willen eines Mitgliedstaats eingreifen soll.
In der Nacht zu Donnerstag
hatte die Nato Details des Einsatzes beschlossen, mit dem ihre
Schiffe die Boote der Schleuser
im Mittelmeer stoppen sollen.
Die Niederlande, die derzeit die
Ratssitzungen der EU leiten, drücken aufs Tempo und wollen die
Gründung der neuen EU-Grenzschutzagentur bis Ende Juni abschließen, damit die Küstenwache schon im Sommer die
Arbeit aufnehmen kann.
SEITE 14
THEMA
DES
TAGES
Hunderte Migranten in Griechenland sind in Richtung der mazedonischen Grenze aufgebrochen
ATHEN taz | Eine alte Frau im
Rollstuhl hält ein Kleinkind auf
dem Arm, Kinderwagen werden geschoben und zahlreiche
Kinder von ihren Familienmitgliedern an der Hand geführt.
Hunderte Flüchtlinge brachen
am Donnerstagvormittag von
verschiedenen Orten aus Griechenland auf, um zu Fuß an die
Grenze von Mazedonien zu gelangen.
Denn die Nachricht, dass Mazedonien kaum noch Flücht-
linge ins Land lässt, verbreitet
Panik. Über 30 Busse mussten
an unterschiedlichen Stationen
auf ihrem Weg zur Grenze haltmachen, um eine Überfüllung
des Auffanglagers Idomeni zu
verhindern, dem Camp vor der
Grenze zu Mazedonien.
Im Gegensatz zu den sonst
täglich etwa 2.000 Menschen
lassen die mazedonischen Behörden jetzt nur noch etwa 250
Menschen pro Tag ins Land. Panik, nicht mehr über die Grenze
zu kommen, brachte die Flüchtlinge dazu, die Busse und auch
das Auffanglager Diavanta bei
Thessaloniki zu verlassen und
selbst auf der Autobahn in Richtung Mazedonien zu gehen.
Die Polizei versuchte, die
Menschen daran zu hindern.
Daraufhin ließen sich die
Flüchtlinge zum Sitzstreik auf
der Fahrbahn nieder. Auf der
Autobahn Athen–Thessaloniki
bildete sich ein langer Stau. Man
könne die Menschen aber nicht
gewaltsam daran hindern, ihren
Weg fortzusetzen, so Gianis Boutaris, Bürgermeister von Thessaloniki. Deshalb sichert die Polizei vorerst die Autobahn, um die
Menschen außer Gefahr zu bringen. „Wir sind fest entschlossen,
es bis an die Grenze zu schaffen.
Nichts kann uns aufhalten“, so
der Tenor der Flüchtlinge.
Der Andrang der Flüchtlinge
nach Griechenland reißt trotz
der verschärften Situation an
der Grenze zu Mazedonien nicht
ab: Allein am Mittwoch kamen
2.044 Flüchtlinge übers Meer
auf die griechischen Inseln.
Am Donnerstag morgen wurden
1.352 nach Piräus gebracht. 1.000
weitere werden im Laufe des Tages erwartet. Zahlreiche Flüchtlinge übernachteten gestern bereits draußen, denn die Kapazitäten der Auffanglager sowie die
Ausweichmöglichkeiten zur Unterbringung der Menschen sind
erschöpft.
THEODORA MAVROPOULOS
Schwerpunkt
Flüchtlingspolitik
FREITAG, 26. FEBRUAR 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Schneller entscheiden, mehr abschieben, stärker abschrecken:
Die Regierungskoalition in Berlin verschärft das Asylrecht
Das Asylpaket II
■■Was? Das zweite Asylpaket ist
ein Bündel von Maßnahmen. Es
enthält Asylrechtsverschärfungen, die die Zahl der Flüchtlinge
reduzieren sollen. Union und SPD
hoffen auf einen abschreckenden
Effekt.
■■Wie? Für Flüchtlinge mit geringer Bleibeperspektive werden
Schnellverfahren eingeführt.
Inklusive Gerichtsentscheid
sollen ihre Verfahren innerhalb
von drei Wochen abgeschlossen
werden. Damit sich Flüchtlinge
nicht entziehen können, gilt
eine verschärfte Residenzpflicht.
Verlassen Menschen den Bezirk
ihrer Aufnahmeeinrichtung, wird
ihr Verfahren eingestellt. Es kann
nur einmalig wieder aufgenommen werden.
■■Was heißt das für Kranke?
Abschiebungen können künftig seltener mit medizinischer
Begründung verhindert werden.
Nur noch „lebensbedrohliche und
schwerwiegende Erkrankungen,
die sich durch eine Abschiebung
wesentlich verschlechtern würden“, sollen eine Abschiebung
verhindern. Eine posttraumatische Belastungsstörung fiele
zum Beispiel nicht darunter. „Die
geplanten Regelungen diskriminieren gezielt psychisch kranke
Menschen“, kritisiert die Psychotherapeutenkammer.
■■Wie viel weniger? Das Taschengeld für Flüchtlinge wird
um 10 Euro pro Monat gekürzt.
Asylbewerber erhalten Leistungen unter Hartz-IV-Niveau. (us)
Einmal Handy-Aufladen kostet 2 Euro: Für die Flüchtlinge bleibt der Kontakt zu den Familien lebenswichtig Foto: Daniel Biskup
Einsam per Gesetz
NACHZUG Der Vater ist in Deutschland, Frau und Kinder müssen im Bombenhagel in Syrien bleiben. Schikane oder Pragmatismus?
AUS BERLIN ULRICH SCHULTE
Die Diakonie Deutschland
stellt dem Plan ein vernichtendes Zeugnis aus. Die Verschärfungen beim Familiennachzug
würden nicht dazu führen, „dass
weniger Menschen in Deutschland Schutz suchen“, schreibt
der Wohlfahrtsverband der
evangelischen Kirchen. Stattdessen werde die Integration
erschwert, Verfahren würden
bürokratisiert und die Unterstützung der Bevölkerung für
Flüchtlinge untergraben.
Der Bundestag hat am Donnerstag mit den Stimmen der
Koalition das zweite Asylpaket
beschlossen. Besonders umstritten ist die Reform, die es Flüchtlingen erschwert, ihre Angehörigen nach Deutschland zu holen.
Schreckt dies Flüchtlinge wirksam ab, wie es CDU und CSU
hoffen? Ist es eine rechtswidrige Schikane, wie es die Diakonie, die Caritas oder das Kinderhilfswerk behaupten?
Die Stellungnahme, die die
Diakonie an alle Mitglieder des
Innenausschusses versandte,
ist eindeutig: Die Verschärfung
beim Familiennachzug löse
kein einziges Problem, schaffe
aber viele. Mehr noch, die Trennung der Kinder von ihren Eltern widerspreche der UN-Kinderrechtskonvention und dem
deutschen Grundgesetz, das
die Familie unter „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ stellt.
Der Plan der Koalition erhitzt die Gemüter. Wenig ist in
Deutschland so heilig wie die
Familie. Alle Parteien betonen
stets, wie wertvoll die Liebe zwischen Eltern und Kindern sei.
Und nun ordnet der Staat Ein-
samkeit per Gesetz an? Genau
genommen schafft die Koalition den Familiennachzug nicht
ab. Sie setzt ihn für zwei Jahre
aus – und zwar bei den subsidiär Schutzberechtigten. Das
sind Menschen, die nicht unter das deutsche Asylrecht oder
die Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Sie werden trotzdem
nicht in ihre Heimat zurückgeschickt, weil dort etwa Bürgerkrieg herrscht. Ihre Aufenthaltserlaubnis in Deutschland ist
befristet und muss jeweils verlängert werden. Das heißt: Sie leben in ständiger Ungewissheit.
Zu dieser Gruppe sollen künf-
Die Verschärfung
beim Familiennachzug löse kein einziges
Problem, schaffe
aber viele, moniert
die Diakonie
tig viele Syrer gehören – Menschen aus einem zerstörten Land
also, die bisher auf das Wohlwollen des deutschen Staates hoffen konnten. Selbst Jugendliche,
die allein hier ankommen, sollen ihre Eltern nicht mehr nachholen dürfen. Darauf hatte besonders die CSU Wert gelegt.
Künftig wird es 16-Jährige in
Flüchtlingsheimen geben, die
jahrelang mit dem Wissen leben, dass ihre Eltern und Geschwister im Kriegsgebiet in Lebensgefahr schweben.
Sicher ist aber auch: Im Moment trifft die Verschärfung nur
wenige Menschen. Im Jahr 2015
bekamen genau 1.707 Flüchtlinge subsidiären Schutz. 347
kamen aus Eritrea, 325 aus Afganistan, 289 aus dem Irak – und
nur 61 aus Syrien. Auch bei den
Jugendlichen ist die Zahl überschaubar. Gerade mal 105 unbegleitete Minderjährige bekamen 2015 den Schutzstatus
zugesprochen, für den die Koalition den Familiennachzug nun
beschränkt. Diese Fakten hat die
Linke-Fraktion beim Innenministerium erfragt.
Die Zahl könnte aber deutlich steigen. Das fürchten
Menschenrechtsorganisationen
und die Opposition. Wer nach
der Genfer Flüchtlingskonvention geschützt wird und wer
nur „Schutz light“ bekommt,
entscheidet das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge. Das
Bamf ist direkt Innenminister
Thomas de Maizière (CDU) unterstellt, der mehrfach angekündigt hat, Syrern nur noch
den subsidiären – also vorüber­
gehenden – Schutz zu gewähren.
„Wie viele Leute am Ende
betroffen sind, hängt von der
Spruchpraxis des Bamf ab. Also
auch davon, wie die internen
Anweisungen lauten“, sagt eine
Grüne, die sich mit der Materie
auskennt. Allerdings räumen
die Kritiker des Koalitionsplans
ein, dass Bamf-Beamte nur einen begrenzten Spielraum haben. Oft mischen sich in Krisenregionen politische Verfolgung
und Krieg. Das Terrornetzwerk
IS begründet seine Morde an Zivilisten ja politisch, die Taliban
in Afghanistan tun es ebenso.
Und auch das Assad-Regime
bombardiert die Zivilbevölkerung aus politischen Motiven.
Fliehen die Betroffenen also
vor Krieg oder politischer Verfolgung? Das Bamf wird weiter
jeden Einzelfall prüfen müssen.
Menschenrechtsorganisationen
werfen der Koalition vor, sie
treibe mehr Frauen und Kinder
auf die gefährlichen Fluchtrouten über die Ägäis und den Balkan. „Die Regelung erhöht das
Risiko, dass sich weitere Familienmitglieder auf den gefährlichen Weg nach Deutschland machen“, sagt Georg Cremer, Generalsekretär der Caritas.
Gerade Jugendliche
werden darunter leiden
Ein kausaler Zusammenhang
lässt sich aber nur schwer belegen. Laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR steigen mehr
Frauen und Kinder an Griechenlands Küsten aus Schlauchbooten – und weniger Männer. Allein im Januar zählten griechische Polizisten gut 60.000
Ankömmlinge. Davon waren
43 Prozent Männer, 21 Prozent
Frauen und 36 Prozent Kinder.
Im Juni 2015 lag der Männeranteil noch bei 73 Prozent. Auf
der Balkanroute seien jetzt „fast
ausschließlich Familien“ unterwegs, meldete ein Mitarbeiter
von Ärzte ohne Grenzen im Januar aus Südserbien.
Die rechtlichen Einschätzungen zum Familiennachzug
gehen in Deutschland ausein-
ander. Während die Diakonie
glaubt, dass die Verschärfung
dem Grundgesetz widerspricht,
behauptet Winfried Kluth das
Gegenteil. Kluth ist Professor für Öffentliches Recht an
der Uni Halle-Wittenberg und
wurde von der Unionsfraktion
um eine Expertise gebeten.
Damit der Staat Schutzberechtigte aufnehmen könne,
sei es „vertretbar“, den Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten übergangsweise auszusetzen, argumentiert er. Kluth
schätzt den Eingriff ins Grundrecht auch nur als „verhältnismäßige Beschränkung“ ein,
weil er auf zwei Jahre befristet
ist. Den Betroffenen stünden andere rechtliche Wege offen. Die
sind aber mit hohem Aufwand
verbunden.
Die SPD hat lange gegen die
Verschärfungen gekämpft und
am Ende nur eine Kleinigkeit
hinzufügen können: Deutschland könne aus humanitären
Gründen Ausländer aufnehmen, so, wie es in den Paragrafen 22 und 23 des Aufenthaltsgesetzes geregelt sei, heißt es in
dem Entwurf. Dieser angebliche
Erfolg der SPD ist allerdings eine
Option, die schon lange besteht.
Sie wird wegen bürokratischer
Hürden kaum genutzt. Unbestritten ist, dass gerade Jugendliche leiden werden. Für syrische
Familien ist es bisher eine rationale Strategie, den ältesten Sohn
vorzuschicken.
Diese Jugendlichen gerieten
nun in „ein moralisches und
emotionales Dilemma“, sagt Uta
Rieger vom UNHCR. Sie könnten
den Auftrag, die Familie nachzuholen, nicht mehr erfüllen,
könnten sich schlechter integrieren, da sie sich Sorgen um
ihre Familien machen müssten.
Rieger kritisiert, dass die Koalition einen legalen Zugang nach
Europa schließt. Obwohl sie an
anderer Stelle gerne betont, wie
nötig solche Wege seien.
Besonders absurd – oder gewollt: Asylverfahren dauern
meist mehr als zwölf Monate.
Zwei Jahre beträgt die von der
Koalition beschlossene Aussetzung. Dann warten die Familien
in den Herkunftsländern oft
länger als ein Jahr auf einen Termin bei der Botschaft. Die Eltern
von Jugendlichen müssen aber
laut Gesetz in Deutschland sein,
bevor die Kinder volljährig sind.
Die Verzögerungstaktik der Koalition führt also dazu, dass manche Familien dauerhaft getrennt
bleiben.
Der Bundestag entscheidet. Die SPD zögert. Die Opposition ist empört
■■Der Beschluss: Der Bundestag
hat am Donnerstag mit den Stimmen der Großen Koalition das
zweite Asylpaket beschlossen.
In der SPD-Fraktion stimmten
30 von 193 Abgeordneten mit
Nein. Linke und Grüne votierten
geschlossen gegen die Reform.
Am Freitag wird das Paket im
Bundesrat behandelt, es ist aber
nicht zustimmungspflichtig.
■■Das sagt die Koalition: Die
Integrationsbeauftragte der
Regierung, Aydan Özoğuz (SPD),
verteidigte die Asylrechtsverschärfungen. Die Aussetzung
des Familiennachzuges betreffe
nur eine „kleine Gruppe“ von
Flüchtlingen mit ungesichertem
Aufenthalt, sagte Özoğuz. Die
Regelung laufe zudem nach
zwei Jahren aus.
■■Das sagt die Opposition: Der
Koalition gehe es nur darum, wie
sie Menschen, die sie loswerden
wolle, schnell abschieben könne,
kritisierte die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke. „Das ist nur
noch unerträglich und ekelhaft.“
Grünen-Fraktionschefin Katrin
Göring-Eckardt nannte die Neuregelung des Nachzuges „unverantwortlich und schäbig“. (us)