Steinzeit: Als Frauen noch gleichberechtigt waren Das Videospiel „Far Cry“ zeigt den vormodernen, partnerschaftlichen Kampf ums Überleben ▶ Seite 13 AUSGABE BERLIN | NR. 10954 | 8. WOCHE | 38. JAHRGANG FREITAG, 26. FEBRUAR 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Historischer Fifa-Kongress: Bisher keine Festnahmen H EUTE I N DER TAZ NEUANFANG Die wichtigsten Funktionäre des Weltfußballs wollen in Zürich Reformen beschließen und einen Nachfolger für den langjährigen Chef Sepp Blatter wählen. Die Kandidaten trafen unverhaftet ein ▶ SEITE 4 LITERATUR Der Pionier des modernen Romans: Henry James ▶ SEITE 15 WISSENSCHAFT Der Hype um das Prädikat „glutenfrei“ ▶ SEITE 18 BERLIN Linken-Frakti- onschef Wolf will die SPD kritisieren und dann mit ihr regieren ▶ SEITE 23 FRIEDRICHSHAIN SEZ: Die Geschichte einer Privatisierung ▶ SEITE 5 VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Hier die neuesten Zahlen zur „Flüchtlingskrise“: In den letzten 24 Stunden eingetroffene Flüchtlinge an den österreichisch-bayerischen Grenzübergängen: 0 In den letzten 24 Stunden in Berlin eingegangene Beschwerdebriefe von Horst Seehofer aus Bayern: 0 In den letzten 24 Stunden von Bundeskanzlerin Angela Merkel geäußerte Kritik an den verschärften Kontrollen in Österreich und auf der Balkanroute: 0 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.666 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Motto: „Weltfußball: neu definiert, neu belebt“ KOMMENTAR VON MARKUS VÖLKER ZUR NEUAUSRICHTUNG DER FIFA Am Ende können sie nicht anders S ie hat keine andere Wahl, die Fifa muss sich neu erfinden. Unter Tagesordnungspunkt acht, Reform der Fifa-Organisationsstruktur, geht es heute in Zürich darum, ob der internationale Fußballverband den Anschluss an die Zukunft findet. Sie haben sich Neuerungen ausgedacht, die auf dem Papier ganz gut aussehen. Die Fifa möchte künftig wie ein Unternehmen daherkommen, mit Aufsichtsrat und Geschäftsführung. Sie möchte sich von außen kontrollieren lassen, Gehälter offenlegen und die Struktur straffen. Es geht darum, die Umtriebe der Fußballfunktionäre aus aller Welt einzuhegen, ihnen einen klaren Rahmen zu geben. Es ist ein Antifilzprogramm. Die Idee ist gut, fragt sich nur, ob die Herren der Fifa und die sehr wenigen Frauen bereit sind für den Wandel. Die Skepsis ist mehr als angebracht, denn die Reformen sind erst einmal nur Absichtserklärungen. Sie gedeihen als zarte Keimlinge auf dem Humus externer Ermittlungen. Die Justiz in den USA und der Schweiz musste ja erst die Paragrafenkeule schwingen, bis sich im Weltverband etwas bewegte. Und verabschiedet sind die Neuerungen ja auch noch nicht. Drei Viertel der Delegierten müssen für den Umbruch stimmen. Von diesem Votum hängt alles ab: Haben die Funktionäre kapiert, wie ernst die Lage ist? Ist ihnen klar, dass ihnen die Öffentlichkeit keine zweite Chance geben wird? Sind sie sich bewusst, welch irreparablen Imageschaden eine neuerliche Reformverweigerung hätte? In diesem Fall stünde die Fifa vor dem Aus. Die Fußballwelt müsste dann über Alternativen zu diesem gescheiterten Verband nachdenken. So stimmig die neuen Strukturen sein mögen, die Präsidentschaftskandidaten sind es nicht. An der Spitze der Sind die Herren der Fifa und die sehr wenigen Frauen bereit für den Wandel? „Asylpaket“ und „Anarchie“ FLÜCHTLINGE Bundestag beschließt Verschärfungen, EU versinkt im Streit BERLIN/BRÜSSEL epd/rtr/taz | Der Bundestag hat das „Asylpaket II“ mit weiteren Verschärfungen beschlossen: Schnellverfahren für Flüchtlinge mit geringer Bleibeperspektive und Aussetzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz. In Härtefällen kann es aber Ausnahmen geben. Die EU-Regierungen stritten weiter über den Umgang mit Geflüchteten. Während die Bundesregierung Österreich und andere Länder indirekt kritisierte, verteidigte Wien die neuen Kontrollen an der Balkanroute. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte vor „Anarchie“ in Europa und stellte fest: „Wir haben keine Linie mehr.“ Einigen konnten sich die EU-Staaten nur auf strengere Kontrollen an den Außengrenzen. Als Reaktion auf die Anschläge von Paris sollen dort künftig auch EUBürger bei der Einreise systematisch überprüft werden. ▶ Schwerpunkt SEITE 2, 3 ▶ Gesellschaft + Kultur SEITE 14 Fifa könnte künftig mit Scheich Salman bin Ibrahim al-Chalifa ein Mann stehen, der in Menschenrechtsfragen in seinem Land Bahrain versagt hat. Mit ihm würde die Fifa einen Neuanfang schon mal gründlich vergeigen, denn ihr künftiges Gut ist mehr denn je Glaubwürdigkeit. Die Hoffnung, dass der Präsident in der neuen Organisationsstruktur zu einer Art Grüßaugust verkommt und die wahre Macht in den Händen des Geschäftsführers liegt, ist trügerisch. Bislang haben es die Funktionäre der Fifa immer wieder geschafft, sich eine Parallelwelt zurechtzumauscheln, ein Universum, in dem vor allem eines verpönt war: ein Mentalitätswandel. Klage gegen Rotoren WINDRÄDER Kritiker argumentieren mit Infraschall BERLIN taz | Mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wollen Windkraftgegner einen Ausbaustopp erzwingen. Sie argumentieren, dass der von den Rotoren ausgehende Infraschall – das sind Wellen mit einer Frequenz unterhalb des menschlichen Hörspektrums – bei Genehmigun- gen bisher nicht ausreichend berücksichtigt werde, und fordern neue Normen. Bisher gehen die Behörden davon aus, dass Infraschall von Windrädern keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Anliegern hat. ▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 8 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN SYRI EN: UNO PLANT FRI EDENSGESPRÄCH E NACH WAFFEN RUH E FLÜCHTLI NGSLAGER CALAIS Die Hilfskonvois werden schon vorbereitet Gericht billigt Teilräumung GENF/MOSKAU | Kurz vor dem Sanjay Dutt, Schauspieler, frisch aus der Haft entlassen Foto: ap Bollywoods böser Bube E r wurde wie jeder andere Insasse behandelt“, behauptet der Direktor des Hochsicherheitsgefängnisses Yerwada im westindischen Pune mit Blick auf seinen prominentesten Gefangenen. Wegen guter Führung wurde Sanjay Dutt am Donnerstag einige Monate vorzeitig entlassen. Der 56-jährige Dutt ist einer der schillerndsten Schauspieler Bollywoods. Er spielte schon in über einhundert Filmen mit und wurde mehrfach ausgezeichnet. Seine Spezialität sind Gangsterrollen, was ihm den Namen „Deadly Dutt“ einbrachte. Doch für den Bad Guy des indischen Kinos wurde der Spitzname 1993 zur Realität. Dutt wurde verhaftet, weil die Polizei bei ihm eine Pistole und ein Sturmgewehr fanden. Die hätte er legal nicht besitzen dürfen. Zuvor hatte es in Indiens Wirtschafts- und Filmmetropole Bombay Terroranschläge mit 257 Toten gegeben. Darauf folgten antimuslimische Pogrome. Dutt, Sohn eines hinduistischen Filmstars und einer muslimischen Mutter, habe sich bedroht gefühlt und sich deshalb Waffen in der Unterwelt besorgt. Doch sein Waffenhändler stand in Verbindung mit den Attentätern. Deshalb wurde Dutt mit den Anschlägen in Verbindung gebracht und zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Es begann ein Reigen aus Gefängnis, Begnadigung und Revision. Dazu gehörten auch eine abgebrochene Kandidatur für das Parlament sowie unter- oder abgebrochene Filmprojekte und großzügige Hafturlaube. Diese brachten den Behörden den Vorwurf der Sonderbehandlung ein. Am Ende blieb eine fünfjährige Haftstrafe, deren letzter Teil am Donnerstagmorgen endete. Dutt hatte die Zeit mit dem Kleben von Papiertüten verbracht sowie mit Moderationen gefängnisinterner Radiosendungen. Letzteres soll er so gut gemacht haben, dass es zur vorzeitigen Entlassung führte. Für seine Arbeit abzüglich seiner Ausgaben bekam er am Entlassungstag Medienberichten zufolge exakt 440 Rupien (5,80 Euro) ausbezahlt. Nachdem für ihn das Gefängnistor geöffnet wurde, küsste Dutt den Boden und flog nach Bombay. Vor der Presse verwies er darauf, er sei allein wegen illegalen Waffenbesitzes verurteilt worden: „Ich bin kein Terrorist“. SVEN HANSEN Der Tag FREITAG, 26. FEBRUAR 2016 geplanten Beginn einer Waffenruhe in Syrien bereiten UN-Vertreter die nächsten Schritte vor: Der Gesandte Staffan de Mistura kündigte an, er werde am Freitag einen Termin für neue Friedensgespräche bekanntgeben. Gleichzeitig werde es ein erstes Treffen der Waffenruhe-Arbeitsgruppe geben. Sie wurde von der Syrien-Unterstützergruppe gebildet, in der neben den Großmächten auch die wichtigsten Regionalmächte des Nahen Ostens vertreten sind. In Moskau teilte das Außenministerium mit, es stehe im Austausch mit der US-Regierung über den Plan zur Einstellung der Kampfhandlungen. Der für humanitäre UNHilfe in Syrien verantwortliche Jan Egeland sagte, die Helfer stünden in den Startlöchern, um Hilfskonvois nach Aleppo, Homs und in andere belagerten Orte zu schaffen. Der Abwurf von Lebensmitteln für die 200.000 Menschen im belagerten Deir al-Sor am Mittwoch war nach Angaben einer UN-Sprecherin nicht erfolgreich. Alle abgeworfenen Paletten seien bei der Aktion zu Bruch gegangen, außerhalb des Zielgebiets gelandet oder verschollen. (rtr) LILLE | Das Flüchtlingslager bei Calais darf einem Gerichtsbeschluss zufolge zum Teil geräumt werden. Das Verwaltungsgericht Lille billigte am Donnerstag die Behördenpläne, so ein Sprecher. Aufgelöst werden soll der südliche Teil des Camps. Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen sollen bleiben. In dem „Dschungel“ genannten illegalen Lager warten Hunderte Menschen auf eine Chance, über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu kommen. Humanitäre Gruppen hatten gegen die Räumung geklagt. (afp) L AUT ODER LEISE? KORRUPTIONSVERDACHT Etablierte Musiker, frische Jungbands, Pop-Diskurse sowie Interviews mit SängerInnen und Klang-Fricklern: Aufs nächste Konzert einstimmen auf taz.de/musik Konzerte Kritiken Klänge www.taz.de Lageso-Referatsleiter festgenommen BERLIN | Ein Referatsleiter des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) ist wegen Korruptionsverdachts festgenommen worden. Der 48-Jährige soll Schmiergelder genommen haben, wie die Berliner Staatsanwaltschaft am Donnerstag mitteilte. Er soll Aufträge für den Betrieb von Flüchtlingsunterkünften nur vergeben haben, wenn dafür ein bestimmtes Sicherheitsunternehmen zur Bewachung verpflichtet wurde. Auch der Geschäftsführer eines Sicherheitsunternehmens sei festgenommen worden. (dpa) Griechenland will kein Lager sein ASYLPOLITIK Europa zerlegt sich in der Flüchtlingsfrage. Nach dem Treffen der Westbalkan-Staaten in Wien kritisiert Deutschland „Alleingänge“, Luxemburg warnt vor „Anarchie“, Tsipras kündigt eine EU-Blockade an VON DANIEL BAX Auf dem Treffen der EU-Innenminister am Donnerstag in Brüssel prallten die Fronten unversöhnlich aufeinander. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte vor „Anarchie“ in Europa und stellte resigniert fest: „Wir haben keine Linie mehr.“ Das ist noch freundlich ausgedrückt. Während Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) die Durchhalteparole ausgibt, bis zum nächsten EU-Gipfel mit der Türkei in zehn Tagen „alle Kraft“ auf den Schutz der EU-Außengrenzen zu legen und „nationale Alleingänge“ bis dahin zu unterlassen, hatte Öster- reich nur einen Tag zuvor bereits Fakten geschaffen. Auf seiner umstrittenen „Westbalkan-Konferenz“ hatte es sich mit neun weiteren Ländern auf stärkere Grenzkontrollen verständigt. Am gleichen Tag kündigte Ungarn an, sich sein striktes Nein zur Aufnahme von Flüchtlingskontingenten von seiner Bevölkerung per Referendum bestätigen lassen. Der Affront richtet sich nicht nur gegen Merkel, die um eine gemeinsame europäische Lösung ringt, sondern auch gegen Griechenland, das mit den Flüchtlingen alleingelassen wird. Dessen Premier Alexis Tsipras reagierte prompt. Vor dem Parlament in Athen drohte er bereits am Mittwoch mit einer Blockade der EU. „Wir werden es nicht akzeptieren, dass sich unser Land in ein Lager für menschliche Seelen verwandelt“, sagte er den Abgeordneten. Am Donnerstag legte der griechische Vize-Innenminister Ioannis Mouzalas in Brüssel nach: „Griechenland wird es nicht hinnehmen, Europas Libanon zu werden.“ Auf einseitige Maßnahmen anderer EU-Länder werde es ebenfalls mit einseitigen Maßnahmen reagieren. Kurz darauf wurde bekannt, dass Athen am Donnerstag seine Botschafterin aus Österreich zurückgerufen hat. Am 7. März will die EU mit der Türkei gemeinsame Maß- Noch 22 Kilometer bis zum Übergang Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze Foto: Daniel Biskup Auf der Autobahn gen Norden FLUCHT nahmen beschließen, um die Flüchtlingsfrage zu bewältigen. Bis dahin müsse die Zahl der Menschen, die über die Schengen-Außengrenze nach Griechenland kämen, allerdings deutlich reduziert und die Grenze besser geschützt werden, sagte de Maizière. Andernfalls bräuchte es „andere gemeinsame europäisch koordinierte Maßnahmen“. Auf die Frage, welche dies sein könnten, De Maizière sagt, das „Durchwinken“ müsse ein Ende haben antwortete er nur: „Das sehen wir dann.“ Mit seiner Amtskollegin aus Österreich, Mikl-Leitner, sei er sich aber einig, dass die Zeit des „Durchwinkens“ ein Ende haben müsse. Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) bezeichnete den 7. März ebenfalls als „entscheidend“. Wenn es gelänge, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, werde es in der EU auch mehr Bereitschaft für eine gerechte Verteilung geben, gab er sich zuversichtlich. Wenn alle Länder einseitig ihre Grenzen dicht machten, bliebe Griechenland als letztes Glied in der Kette dagegen auf der Flüchtlingsfrage sitzen, sagte Altmaier am Donnerstag bei einer DIHK-Veranstaltung in Berlin. Auch Luxemburgs Migrationsminister Asselborn warnte davor, die griechisch-mazedonische Grenze dicht zu machen und Griechenland als „Blinddarm“ zu sehen. Bei der Sitzung der Innenminister in Brüssel standen auch die Pläne für einen neuen europäischen Grenz- und Küstenschutz auf dem Programm, der mehr Kompetenzen erhalten soll, als sie die Grenzschutzagentur Frontex jetzt schon besitzt. Umstritten ist, dass die neue Behörde notfalls auch gegen den Willen eines Mitgliedstaats eingreifen soll. In der Nacht zu Donnerstag hatte die Nato Details des Einsatzes beschlossen, mit dem ihre Schiffe die Boote der Schleuser im Mittelmeer stoppen sollen. Die Niederlande, die derzeit die Ratssitzungen der EU leiten, drücken aufs Tempo und wollen die Gründung der neuen EU-Grenzschutzagentur bis Ende Juni abschließen, damit die Küstenwache schon im Sommer die Arbeit aufnehmen kann. SEITE 14 THEMA DES TAGES Hunderte Migranten in Griechenland sind in Richtung der mazedonischen Grenze aufgebrochen ATHEN taz | Eine alte Frau im Rollstuhl hält ein Kleinkind auf dem Arm, Kinderwagen werden geschoben und zahlreiche Kinder von ihren Familienmitgliedern an der Hand geführt. Hunderte Flüchtlinge brachen am Donnerstagvormittag von verschiedenen Orten aus Griechenland auf, um zu Fuß an die Grenze von Mazedonien zu gelangen. Denn die Nachricht, dass Mazedonien kaum noch Flücht- linge ins Land lässt, verbreitet Panik. Über 30 Busse mussten an unterschiedlichen Stationen auf ihrem Weg zur Grenze haltmachen, um eine Überfüllung des Auffanglagers Idomeni zu verhindern, dem Camp vor der Grenze zu Mazedonien. Im Gegensatz zu den sonst täglich etwa 2.000 Menschen lassen die mazedonischen Behörden jetzt nur noch etwa 250 Menschen pro Tag ins Land. Panik, nicht mehr über die Grenze zu kommen, brachte die Flüchtlinge dazu, die Busse und auch das Auffanglager Diavanta bei Thessaloniki zu verlassen und selbst auf der Autobahn in Richtung Mazedonien zu gehen. Die Polizei versuchte, die Menschen daran zu hindern. Daraufhin ließen sich die Flüchtlinge zum Sitzstreik auf der Fahrbahn nieder. Auf der Autobahn Athen–Thessaloniki bildete sich ein langer Stau. Man könne die Menschen aber nicht gewaltsam daran hindern, ihren Weg fortzusetzen, so Gianis Boutaris, Bürgermeister von Thessaloniki. Deshalb sichert die Polizei vorerst die Autobahn, um die Menschen außer Gefahr zu bringen. „Wir sind fest entschlossen, es bis an die Grenze zu schaffen. Nichts kann uns aufhalten“, so der Tenor der Flüchtlinge. Der Andrang der Flüchtlinge nach Griechenland reißt trotz der verschärften Situation an der Grenze zu Mazedonien nicht ab: Allein am Mittwoch kamen 2.044 Flüchtlinge übers Meer auf die griechischen Inseln. Am Donnerstag morgen wurden 1.352 nach Piräus gebracht. 1.000 weitere werden im Laufe des Tages erwartet. Zahlreiche Flüchtlinge übernachteten gestern bereits draußen, denn die Kapazitäten der Auffanglager sowie die Ausweichmöglichkeiten zur Unterbringung der Menschen sind erschöpft. THEODORA MAVROPOULOS Schwerpunkt Flüchtlingspolitik FREITAG, 26. FEBRUAR 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Schneller entscheiden, mehr abschieben, stärker abschrecken: Die Regierungskoalition in Berlin verschärft das Asylrecht Das Asylpaket II ■■Was? Das zweite Asylpaket ist ein Bündel von Maßnahmen. Es enthält Asylrechtsverschärfungen, die die Zahl der Flüchtlinge reduzieren sollen. Union und SPD hoffen auf einen abschreckenden Effekt. ■■Wie? Für Flüchtlinge mit geringer Bleibeperspektive werden Schnellverfahren eingeführt. Inklusive Gerichtsentscheid sollen ihre Verfahren innerhalb von drei Wochen abgeschlossen werden. Damit sich Flüchtlinge nicht entziehen können, gilt eine verschärfte Residenzpflicht. Verlassen Menschen den Bezirk ihrer Aufnahmeeinrichtung, wird ihr Verfahren eingestellt. Es kann nur einmalig wieder aufgenommen werden. ■■Was heißt das für Kranke? Abschiebungen können künftig seltener mit medizinischer Begründung verhindert werden. Nur noch „lebensbedrohliche und schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern würden“, sollen eine Abschiebung verhindern. Eine posttraumatische Belastungsstörung fiele zum Beispiel nicht darunter. „Die geplanten Regelungen diskriminieren gezielt psychisch kranke Menschen“, kritisiert die Psychotherapeutenkammer. ■■Wie viel weniger? Das Taschengeld für Flüchtlinge wird um 10 Euro pro Monat gekürzt. Asylbewerber erhalten Leistungen unter Hartz-IV-Niveau. (us) Einmal Handy-Aufladen kostet 2 Euro: Für die Flüchtlinge bleibt der Kontakt zu den Familien lebenswichtig Foto: Daniel Biskup Einsam per Gesetz NACHZUG Der Vater ist in Deutschland, Frau und Kinder müssen im Bombenhagel in Syrien bleiben. Schikane oder Pragmatismus? AUS BERLIN ULRICH SCHULTE Die Diakonie Deutschland stellt dem Plan ein vernichtendes Zeugnis aus. Die Verschärfungen beim Familiennachzug würden nicht dazu führen, „dass weniger Menschen in Deutschland Schutz suchen“, schreibt der Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirchen. Stattdessen werde die Integration erschwert, Verfahren würden bürokratisiert und die Unterstützung der Bevölkerung für Flüchtlinge untergraben. Der Bundestag hat am Donnerstag mit den Stimmen der Koalition das zweite Asylpaket beschlossen. Besonders umstritten ist die Reform, die es Flüchtlingen erschwert, ihre Angehörigen nach Deutschland zu holen. Schreckt dies Flüchtlinge wirksam ab, wie es CDU und CSU hoffen? Ist es eine rechtswidrige Schikane, wie es die Diakonie, die Caritas oder das Kinderhilfswerk behaupten? Die Stellungnahme, die die Diakonie an alle Mitglieder des Innenausschusses versandte, ist eindeutig: Die Verschärfung beim Familiennachzug löse kein einziges Problem, schaffe aber viele. Mehr noch, die Trennung der Kinder von ihren Eltern widerspreche der UN-Kinderrechtskonvention und dem deutschen Grundgesetz, das die Familie unter „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ stellt. Der Plan der Koalition erhitzt die Gemüter. Wenig ist in Deutschland so heilig wie die Familie. Alle Parteien betonen stets, wie wertvoll die Liebe zwischen Eltern und Kindern sei. Und nun ordnet der Staat Ein- samkeit per Gesetz an? Genau genommen schafft die Koalition den Familiennachzug nicht ab. Sie setzt ihn für zwei Jahre aus – und zwar bei den subsidiär Schutzberechtigten. Das sind Menschen, die nicht unter das deutsche Asylrecht oder die Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Sie werden trotzdem nicht in ihre Heimat zurückgeschickt, weil dort etwa Bürgerkrieg herrscht. Ihre Aufenthaltserlaubnis in Deutschland ist befristet und muss jeweils verlängert werden. Das heißt: Sie leben in ständiger Ungewissheit. Zu dieser Gruppe sollen künf- Die Verschärfung beim Familiennachzug löse kein einziges Problem, schaffe aber viele, moniert die Diakonie tig viele Syrer gehören – Menschen aus einem zerstörten Land also, die bisher auf das Wohlwollen des deutschen Staates hoffen konnten. Selbst Jugendliche, die allein hier ankommen, sollen ihre Eltern nicht mehr nachholen dürfen. Darauf hatte besonders die CSU Wert gelegt. Künftig wird es 16-Jährige in Flüchtlingsheimen geben, die jahrelang mit dem Wissen leben, dass ihre Eltern und Geschwister im Kriegsgebiet in Lebensgefahr schweben. Sicher ist aber auch: Im Moment trifft die Verschärfung nur wenige Menschen. Im Jahr 2015 bekamen genau 1.707 Flüchtlinge subsidiären Schutz. 347 kamen aus Eritrea, 325 aus Afganistan, 289 aus dem Irak – und nur 61 aus Syrien. Auch bei den Jugendlichen ist die Zahl überschaubar. Gerade mal 105 unbegleitete Minderjährige bekamen 2015 den Schutzstatus zugesprochen, für den die Koalition den Familiennachzug nun beschränkt. Diese Fakten hat die Linke-Fraktion beim Innenministerium erfragt. Die Zahl könnte aber deutlich steigen. Das fürchten Menschenrechtsorganisationen und die Opposition. Wer nach der Genfer Flüchtlingskonvention geschützt wird und wer nur „Schutz light“ bekommt, entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Das Bamf ist direkt Innenminister Thomas de Maizière (CDU) unterstellt, der mehrfach angekündigt hat, Syrern nur noch den subsidiären – also vorüber gehenden – Schutz zu gewähren. „Wie viele Leute am Ende betroffen sind, hängt von der Spruchpraxis des Bamf ab. Also auch davon, wie die internen Anweisungen lauten“, sagt eine Grüne, die sich mit der Materie auskennt. Allerdings räumen die Kritiker des Koalitionsplans ein, dass Bamf-Beamte nur einen begrenzten Spielraum haben. Oft mischen sich in Krisenregionen politische Verfolgung und Krieg. Das Terrornetzwerk IS begründet seine Morde an Zivilisten ja politisch, die Taliban in Afghanistan tun es ebenso. Und auch das Assad-Regime bombardiert die Zivilbevölkerung aus politischen Motiven. Fliehen die Betroffenen also vor Krieg oder politischer Verfolgung? Das Bamf wird weiter jeden Einzelfall prüfen müssen. Menschenrechtsorganisationen werfen der Koalition vor, sie treibe mehr Frauen und Kinder auf die gefährlichen Fluchtrouten über die Ägäis und den Balkan. „Die Regelung erhöht das Risiko, dass sich weitere Familienmitglieder auf den gefährlichen Weg nach Deutschland machen“, sagt Georg Cremer, Generalsekretär der Caritas. Gerade Jugendliche werden darunter leiden Ein kausaler Zusammenhang lässt sich aber nur schwer belegen. Laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR steigen mehr Frauen und Kinder an Griechenlands Küsten aus Schlauchbooten – und weniger Männer. Allein im Januar zählten griechische Polizisten gut 60.000 Ankömmlinge. Davon waren 43 Prozent Männer, 21 Prozent Frauen und 36 Prozent Kinder. Im Juni 2015 lag der Männeranteil noch bei 73 Prozent. Auf der Balkanroute seien jetzt „fast ausschließlich Familien“ unterwegs, meldete ein Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen im Januar aus Südserbien. Die rechtlichen Einschätzungen zum Familiennachzug gehen in Deutschland ausein- ander. Während die Diakonie glaubt, dass die Verschärfung dem Grundgesetz widerspricht, behauptet Winfried Kluth das Gegenteil. Kluth ist Professor für Öffentliches Recht an der Uni Halle-Wittenberg und wurde von der Unionsfraktion um eine Expertise gebeten. Damit der Staat Schutzberechtigte aufnehmen könne, sei es „vertretbar“, den Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten übergangsweise auszusetzen, argumentiert er. Kluth schätzt den Eingriff ins Grundrecht auch nur als „verhältnismäßige Beschränkung“ ein, weil er auf zwei Jahre befristet ist. Den Betroffenen stünden andere rechtliche Wege offen. Die sind aber mit hohem Aufwand verbunden. Die SPD hat lange gegen die Verschärfungen gekämpft und am Ende nur eine Kleinigkeit hinzufügen können: Deutschland könne aus humanitären Gründen Ausländer aufnehmen, so, wie es in den Paragrafen 22 und 23 des Aufenthaltsgesetzes geregelt sei, heißt es in dem Entwurf. Dieser angebliche Erfolg der SPD ist allerdings eine Option, die schon lange besteht. Sie wird wegen bürokratischer Hürden kaum genutzt. Unbestritten ist, dass gerade Jugendliche leiden werden. Für syrische Familien ist es bisher eine rationale Strategie, den ältesten Sohn vorzuschicken. Diese Jugendlichen gerieten nun in „ein moralisches und emotionales Dilemma“, sagt Uta Rieger vom UNHCR. Sie könnten den Auftrag, die Familie nachzuholen, nicht mehr erfüllen, könnten sich schlechter integrieren, da sie sich Sorgen um ihre Familien machen müssten. Rieger kritisiert, dass die Koalition einen legalen Zugang nach Europa schließt. Obwohl sie an anderer Stelle gerne betont, wie nötig solche Wege seien. Besonders absurd – oder gewollt: Asylverfahren dauern meist mehr als zwölf Monate. Zwei Jahre beträgt die von der Koalition beschlossene Aussetzung. Dann warten die Familien in den Herkunftsländern oft länger als ein Jahr auf einen Termin bei der Botschaft. Die Eltern von Jugendlichen müssen aber laut Gesetz in Deutschland sein, bevor die Kinder volljährig sind. Die Verzögerungstaktik der Koalition führt also dazu, dass manche Familien dauerhaft getrennt bleiben. Der Bundestag entscheidet. Die SPD zögert. Die Opposition ist empört ■■Der Beschluss: Der Bundestag hat am Donnerstag mit den Stimmen der Großen Koalition das zweite Asylpaket beschlossen. In der SPD-Fraktion stimmten 30 von 193 Abgeordneten mit Nein. Linke und Grüne votierten geschlossen gegen die Reform. Am Freitag wird das Paket im Bundesrat behandelt, es ist aber nicht zustimmungspflichtig. ■■Das sagt die Koalition: Die Integrationsbeauftragte der Regierung, Aydan Özoğuz (SPD), verteidigte die Asylrechtsverschärfungen. Die Aussetzung des Familiennachzuges betreffe nur eine „kleine Gruppe“ von Flüchtlingen mit ungesichertem Aufenthalt, sagte Özoğuz. Die Regelung laufe zudem nach zwei Jahren aus. ■■Das sagt die Opposition: Der Koalition gehe es nur darum, wie sie Menschen, die sie loswerden wolle, schnell abschieben könne, kritisierte die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke. „Das ist nur noch unerträglich und ekelhaft.“ Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt nannte die Neuregelung des Nachzuges „unverantwortlich und schäbig“. (us)
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