THEMEN DER ZEIT MEDIZINISCHE VERSORGUNG VON FLÜCHTLINGEN Man verlässt sich auf Freiwillige Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland steigt weiter. Neben deren Unterbringung in zum Teil überfüllten Massenunterkünften, sorgt auch die medizinische Versorgung der Flüchtlinge immer wieder für Diskussionen. Beispiele aus Bayern. ie Bayernkaserne in München: Mit rund 2 000 Flüchtlingen (Stand: Ende Januar) hat sich die Lage entspannt. Das spürt man in der größten Aufnahmeeinrichtung Oberbayerns. Bunte Graffitis schmücken so manche graue Wand, und ein kleines Gehege mit Ziegen, Schafen, Alpakas und Hühnern ist für die Kinder eine Attraktion. „Deutschland und insbesondere Bayern, als südlichstes Bundesland, sind vom Zustrom an Asylbewerbern stark betroffen“, sagt Roland Endlicher, Leiter der Aufnahmeeinrichtung (AE) für Asylbewerber der D Regierung von Oberbayern und aus Spenden. „Die Menschen kommen nach schwierigen und zum Teil traumatischen Erfahrungen bei uns an und müssen medizinisch versorgt werden“, sagt Dr. med. Mathias Wendeborn, einer der Hauptinitiatoren der Akutpraxis, der eine Kinderarztpraxis im vornehmen Stadtteil Nymphenburg betreibt. Nach § 4 Asylbewerberleistungsgesetz sind dafür Städte und Kommunen zuständig. „In den vergangenen Monaten hat sich gezeigt, dass es in manchen Regionen strukturelle und organisatorische Defizite gibt, so registrieren ihre Patienten zunächst auf eigenen Dokumentationsbögen und zusätzlich in einem EDV-Dokumentationssystem, so dass auch Weiterbehandler auf Befunde zurückgreifen können. Alle medizinisch indizierten Leistungen sind für die Patienten kostenfrei; Medikamente inbegriffen. „Die Versorgungsqualität unterscheidet sich nicht von der in einer Vertragsarztpraxis“, sagen die beiden Ärzte. Bei Sprachproblemen helfen Dolmetscher wie Susanne Delza, die Arabisch und Kurdisch ins Deutsche übersetzt. Flüchtlingsalltag in der Bayernkaserne: Die Kinder freuen sich über das Tiergehege auf dem Gelände. Die „Refudocs“ um Matthias Wendeborn stellt die Versorgung der Patienten vor neue Herausforderungen: Viele sind traumatisiert, haben alte Schuss- und Stichverletzungen. Regierung von Oberbayern. Die Bayernkaserne ist die größte AE in Bayern, denn „viele Flüchtlinge werden auf der Salzburger Autobahn, der Inntal-Autobahn oder im Zug vom Zoll oder der Polizei aufgegriffen und direkt nach München gebracht“, erklärt Endlicher. Auch Schlepper brächten Flüchtlinge zum Teil direkt zum Kasernentor. Auf dem Gelände der Bayernkaserne im Münchener Norden betreibt der Verein „Refudocs“ in drei umgebauten Containern und einem Nebengebäude eine Akutpraxis, die von 70 freiwilligen Ärztinnen und Ärzten sowie nichtärztlichen Helferinnen und Helfern am Laufen gehalten wird. Finanziert wird der Betrieb von der Stadt München, der A 618 dass keine adäquate medizinische Versorgung gewährleistet werden konnte. Genau hier setzt die Tätigkeit unseres Vereins an“, ergänzt Internist Dr. med. Siegfried Rakette, ebenfalls engagierter „Refudoc“. Bei Sprachproblemen helfen Dolmetscher weiter Der Verein führt eine Helferliste und erstellt einen wöchentlichen Dienstplan. Bezahlt werden die Ärzte und die beiden Medizinischen Fachangestellten nach einem festen Stundensatz. Wendeborn und Rakette legen auf einen niederschwelligen Zugang großen Wert. Daher verzichten sie hier auch auf Rezepte oder die üblichen Berechtigungsscheine vom Sozialamt und Dennoch stellt die „Flüchtlingsmedizin“ ganz andere Anforderungen an die „Refudocs“. Viele Patienten stellten sich beispielsweise mit Scabies vor und erhielten eine Salbe, die die Krätzemilben abtötet. „Besonders ist während der Therapie auf häufige Reinigung von Bettund Unterwäsche zu achten, was aber problematisch ist, denn die Flüchtlinge besitzen gar nicht genügend Wechselwäsche“, erklärt Wendeborn. Zudem würden Bettlaken oft als Abtrennung der Räume verwendet und nicht als Matratzenauflage, um ein bisschen Privatsphäre im Schlafsaal zu schaffen. In einem Container stellt sich gerade Nuurcige I. aus Somalia bei Dr. med. Michael Huber vor. Huber Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 14 | 3. April 2015 THEMEN DER ZEIT ney Hanife, die Medizinische Fachangestellte. „80 Prozent unserer Patientinnen und Patienten stammen aus Albanien und dem Kosovo, doch haben wir hier auch Patienten aus Afrika oder Asien, darunter auch unbegleitete Jugendliche“, sagt Tadayon. Humanitärer Einsatz zu Hause statt in fernen Ländern Der Arzt wirkt besorgt, wenn er von den Erkrankungen seiner Patienten berichtet: „Wir hatten hier bereits Patienten mit offener TBC, Hepatitis C und HIV.“ Impfungen stellten ein besonderes Problem dar, da zurzeit keine Impfstoffe zur Verfügung stehen. Künftig soll nach dem Willen des Gesundheitsamtes aber auch in der Tillystraße geimpft werden. Hauptsächlich haben Tadayon und sein Team es mit Erkältungskrankheiten oder dermatologischen Erkrankungen, wie Pilzinfektionen, Krätze oder Läusebefall, zu tun. Müssen die Patienten zum Fotos: Angelo Razeto, Dagmar Nedbal ist Tropenmediziner und kommt an zwei Nachmittagen im Monat in die Praxis an der Heidemannstraße 50. Nuurcige wird begleitet von einem Freund und Landsmann, der relativ gut Englisch spricht. Nuurcige, der wie viele Flüchtlinge ohne gültige Papiere in Deutschland ankam, klagt über chronische Kopfschmerzen und Verstopfung. Nach ein paar Fragen und einer kurzen körperlichen Untersuchung diagnostiziert Huber Verdauungsprobleme und empfiehlt ballaststoffreichere Kost. Sauerkraut wäre gut, doch beim Wort „cabbage“ blicken sich die beiden Somali fragend im Container um. Bereitwillig zeigen sie dem Arzt aber alte Schussverletzungen und berichten ihm von ihren Gründen für die Flucht. Schuss- und Stichverletzungen, schlecht verheilte Wunden und Knochenbrüche seien gar nicht so selten, meint auch Wendeborn. Dazu kämen die üblichen Erkrankungen, wie Erkäl- Sprechstunde in der Tillystraße: In der Einrichtung in einem Nürnberger Gewerbegebiet versorgt Allgemeinarzt Mohamadmehdi Tadayon (l.) zusammen mit Kollegen 300 Flüchtlinge. tungen oder Magen-Darm-Infekte. Aber auch Schwangere oder chronisch Kranke müssten versorgt werden. Nach einer AE-internen Erhebung weisen 30 Prozent der unbegleiteten Jugendlichen eine posttraumatische Belastungsstörung auf. Zahlreiche Frauen seien vergewaltigt worden und litten an den Folgen. AE Tillystraße 40, Nürnberg: Im ehemaligen „Quelle-Verwaltungsgebäude“ im Gewerbegebiet leben derzeit mehr als 300 Flüchtlinge. Hier arbeitet Dr. (Univ. Fasa) Mohamadmehdi Tadayon, Allgemeinarzt aus dem Iran, der seit 2013 in Deutschland lebt. Seit Dezember 2014 arbeitet er für das Gesundheitsamt der Stadt, genau wie Gü- Facharzt oder ins Klinikum Nürnberg überwiesen werden, brauchen sie einen Behandlungsschein des Sozialamtes, bei dessen Beantragung ihnen die Sozialpädagoginnen helfen. Medikamente erhalten die Patienten aus dem Arzneimittelschrank im Sprechzimmer, den die Stadt auf Empfehlung von Tadayon und den weiteren freiwillig tätigen Ärzte bestückt. „Die Basisversorgung ist abgedeckt bis auf dienstfreie Zeiten“, bestätigt Dr. med. Gerhard Gradl, Allgemeinarzt aus Nürnberg. Er hat einen Freiwilligendienst für die AE in der Tillysstraße organisiert, der vor allem eine Sprechstunde am Wochenende sicherstellt. Oft seien die Patienten hier Roma, die in ih- Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 14 | 3. April 2015 ren Heimatländern unter Armut und Diskriminierung litten, aber nicht als Verfolgte anerkannt würden. „In beiden Einrichtungen der Regierung von Mittelfranken, der AEZirndorf und der AE in Fürth, finden derzeit werktäglich Sprechstunden statt“, ergänzt Ruth Kronau-Neef von der Regierung Mittelfranken. Die medizinische Versorgung in den Notunterkünften werde über die Beauftragung von Ärzten sichergestellt. Da sich dieses System als praktikabel erwiesen habe, sei es nun auch im Konzept des Bayerischen Sozialministeriums enthalten. Einer medizinischen Versorgung auf dem Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung entspreche das nicht, meint Gradl. 35 Kolleginnen und Kollegen haben sich auf seinen Aufruf hin für den ärztlichen Wochenenddienst gemeldet. Anders als für die gesetzlich Krankenversicherten, sei der ärztliche Bereitschaftsdienst nicht verpflichtet, eine AE anzufahren. Weil sich Gradl mit der momentanen Situation nicht zufriedengibt, verhandelt er mit den zuständigen Behörden und der Kassenärztlichen Vereinigung (KV): „Wir müssen unbedingt eine Lösung finden, denn der Arzt, der hierherkommt, hat keinen Abrechnungsschein, die GKVRezepte sind nicht gültig und er steht in seinem Einsatzgebiet während dieser Zeit nicht zur Verfügung.“ Für Gradl gibt es nur zwei Möglichkeiten: „Entweder die Behörden schließen mit der KV einen Sicherstellungsauftrag für die AE ab oder wir gründen einen Verein, der sich gegenüber dem Kostenträger verpflichtet, eine Bereitschaft für die sprechstundenfreie Zeit zu übernehmen.“ Immer wieder zeige sich bei der Behandlung der Flüchtlinge ein Organisationsversagen der Behörden. „Man verlässt sich auf uns Freiwillige, was kein Dauerzustand sein kann“, erklärt Gradl. Mit Blick auf die wachsenden Flüchtlingsströme ist er überzeugt, dass der Staat hier dringend mehr tun müsse. „Früher“, sagt Gradl, „habe ich Auslandseinsätze in ferne Länder unternommen – heute fahre ich ▄ in die Tillystraße.“ Dagmar Nedbal A 619
© Copyright 2024 ExpyDoc