Hier ist noch ein Beispiel, bei dem sowohl die Substitutionsregel als

64
Kapitel 3. Integralrechnung
Hier ist noch ein Beispiel, bei dem sowohl die Substitutionsregel als auch die
partielle Integration zur Anwendung kommt.
3.4.6 Beispiel Um eine Stammfunktion f¨
ur arctan zu finden, beginnen wir mit
einer partiellen Integration und erhalten:
Z b
Z b
Z b
x
arctan(x) dx =
1 · arctan(x) dx = −
dx + x arctan(x)|ba .
2
1
+
x
a
a
a
Nun substituieren wir im Integral auf der rechten Seite der Gleichung u = 1 + x2 .
= 2x ist, liefert das folgendes Resultat:
Weil du
dx
Z b
Z
2
b
b
1 1+b du
1
arctan(x) dx = −
+ x arctan(x) = (− ln(1 + x2 ) + x arctan(x)) .
2
u
2
a
a
2
a
1+a
Zum Abschluss dieses Paragraphen wollen wir die Integration rationaler Funktionen kurz beschreiben. Wir halten fest:
3.4.7 Satz Jede rationale Funktion f l¨asst sich elementar integrieren.
Hier die Beweisidee: Sei f = pq der Quotient von zwei Polynomen p und q. Wir
k¨onnen ohne Einschr¨ankung annehmen, dass grad p < grad q. Denn falls grad q ≤
grad p, so kann man durch Polynomdivision Polynome p1 und p2 finden, so dass
p = p1 q + p2 und grad p2 < q, und erh¨alt
p2
p
f = = p1 + .
q
q
Die Integration des Polynoms p1 f¨
uhrt wieder auf ein Polynom, ist also unproblematisch. Nehmen wir jetzt an, grad p < grad q. In diesem Fall kann man f durch
Partialbruchzerlegung als Summe von rationalen Funktionen darstellen, deren Z¨ahler
jeweils entweder konstant sind oder h¨ochstens Grad 1 haben. Die Integrale der Partialbr¨
uche wiederum lassen sich (nach eventuell noch weiterer
geR du durch
R du Aufspaltung)
−1
eignete Substitutionen auf die bekannten Grundtypen u = ln |u|, un = (n−1) un−1
R
uckf¨
uhren. Die Details dieses Vorgehens wer(f¨
ur n ∈ N>1 ), u2du+1 = arctan(u) zur¨
den im folgenden an einigen Beispielen erl¨autert.
1
. Dann
+ ax + b
gibt es drei M¨oglichkeiten. Das Nennerpolynom kann zwei verschiedene Nullstellen,
eine doppelte Nullstelle oder gar keine Nullstelle in R haben. Gehen wir diese F¨alle
der Reihe nach durch.
Nehmen wir zun¨achst an, der Integrand hat die Form f (x) =
x2
1. Hat der Nenner eine doppelte Nullstelle, so k¨onnen wir schreiben x2 + ax + b =
(x − c)2 f¨
ur ein passendes c ∈ R. Das entsprechende Integral haben wir bereits
mithilfe der Substitution u = x − c bestimmt:
Z
1
dx
=
−
+K,
(x − c)2
x−c
wobei K eine Integrationskonstante ist.
3.4. Integrationsregeln
65
2. Hat der Nenner keine reelle Nullstelle, dann orientieren wir uns an folgendem
Prototyp:
Z
dx
1
x
√
√
=
arctan(
) + K f¨
ur c > 0 .
x2 + c
c
c
Das vorgegebene Nennerpolynom k¨onnen wir durch quadratische Erg¨anzung
umschreiben in
a
a2
x2 + ax + b = (x + )2 + (b − ) .
2
4
2
Wenn das Polynom keine Nullstellen hat, muss die Zahl d := b − a4 positiv
sein. Die Substitution u = x + a2 f¨
uhrt, weil u′ = 1 ist, das gesuchte Integral
auf den Prototyp zur¨
uck:
Z
Z
Z
dx
1
a
1
dx
du
=
=
= √ arctan( √ (x + )) + K .
a 2
2
2
x + ax + b
(x + 2 ) + d
u +d
2
d
d
3. Hat der Nenner zwei verschiedene Nullstellen c1 6= c2 , so ist
x2 + ax + b = (x − c1 )(x − c2 ). In diesem Fall gibt es Zahlen A, B, so dass
A
B
1
=
+
(x − c1 )(x − c2 )
x − c1 x − c2
f¨
ur alle x 6= c1 , c2 .
Diese Darstellung von f (x) als Summe von zwei Br¨
uchen nennt man eine Partialbruchzerlegung. Hat man die Zahlen A, B bestimmt, kann man das Integral
direkt ablesen. Dann ist n¨amlich
Z
Z
Z
dx
A dx
B dx
=
+
= A·ln(|x−c1 |)+B·ln(|x−c2 |)+K .
(x − c1 )(x − c2 )
x − c1
x − c2
3.4.8 Beispiele
1.
Z
dx
=
2
x − 6x + 9
Z
dx
1
=−
+K,
2
(x − 3)
x−3
Z
1
x+1
dx
dx
2.
=
= arctan(
) + K.
2
2
x + 2x + 5
(x + 1) + 4
2
2
Z
Z
dx
dx
x+1
2
√
√ ) + K.
3.
=
arctan(
=
3
1
x2 + x + 1
(x + 2 )2 + 4
3
3
Z
4.
Z
dx
=
2
x + 2x − 3
Z
dx
dx
1
+
=
x+3 4 x−1 1
1
|x − 1|
+K.
(ln(|x − 1|) − ln(|x + 3|)) + K = ln
4
4
|x + 3|
Z
dx
1
=−
(x + 3)(x − 1)
4
Z
Hat das Nennerpolynom einen h¨oheren Grad, oder ist der Z¨ahler ein echtes Polynom, so kann man das Integral u
¨ber die rationale Funktion f durch passende
Zerlegung auf schon bekannte Integrale zur¨
uckf¨
uhren. Daf¨
ur hier zwei Beispiele.
66
Kapitel 3. Integralrechnung
3.4.9 Beispiele
1. Sei f (x) =
legung lautet hier:
x
.
(x+2)2 (x−1)
Der Ansatz f¨
ur die Partialbruchzer-
x
A
B
C
=
+
+
.
2
2
(x + 2) (x − 1)
x + 2 (x + 2)
x−1
Diese Gleichung ist genau dann f¨
ur alle x 6= 1, −2 erf¨
ullt, wenn
x = A(x + 2)(x − 1) + B(x − 1) + C(x + 2)2 =
(A + C)x2 + (A + B + 4C)x + (−2A − B + 4C) .
Durch Koeffizientenvergleich folgt:
A + C = 0,
A + B + 4C = 1,
−2A − B + 4C = 0
ur x 6= 1, −2:
und das bedeutet: A = − 91 , B = 23 , C = 91 . Wir erhalten f¨
Z
Z
Z
Z
x dx
dx
dx
dx
1
2
1
=−
+
+
,
2
2
(x + 2) (x − 1)
9
x+2 3
(x + 2)
9
x−1
und daher
Z
1
2
1
f (x)dx = − ln |x + 2| −
+ ln |x − 1| + K .
9
3(x + 2) 9
. Zur Substitution u = x2 + x + 1 geh¨ort
2. Sei f (x) = x21−x
+x+1
zerlegen wir f folgendermassen:
f (x) =
x2
du
dx
= 2x + 1. Daher
−1
2x + 1
3
1
1−x
=
· 2
+ · 2
.
+x+1
2 x +x+1 2 x +x+1
Das erste Teilintegral k¨onnen wir mithilfe der Substitution u = x2 + x + 1
bestimmen:
Z
Z
2x + 1
1
dx =
du = ln(|u|) + K = ln(|x2 + x + 1|) + K .
2
x +x+1
u
Das zweite Teilintegral finden wir unter den gerade behandelten Beispielen.
Zusammen erhalten wir
Z
Z
√
2x + 1
dx
3
1
2x + 1
1
2
dx+
=
−
ln
|x
+x+1|+
3 arctan √ +K .
−
2
2
2
x +x+1
2
x +x+1
2
3
In manchen F¨allen ist es m¨oglich, auch u
¨ ber Pole von Funktionen hinweg zu integrieren oder die Intervallgrenzen nach unendlich auszudehnen und doch einen endlichen Integralwert zu erhalten. Damit ist gemeint, dass einer der folgenden Grenzwerte existiert und endlich ist:
Z ∞
Z x
Z b
Z b
f (t)dt := lim
f (t)dt
oder
f (t)dt := lim
f (t)dt
a
x→∞
a
−∞
x→−∞
x
3.5. Taylorentwicklung und Integration
67
und falls f auf [a, b) bzw. (a, b] stetig, aber unbeschr¨ankt ist:
b
Z
Z
f (t)dt := lim
x→b
a
x
f (t)dt
Z
oder
a
b
f (t)dt := lim
a
x→a
Z
b
f (t)dt .
x
Diese Grenzwerte werden als uneigentliche Integrale bezeichnet. Dazu einige Beispiele:
•
•
R∞
0
R∞
1
e−t dt = limx→∞
1
t2
dt = limx→∞
Rx
0
Rx
e−t dt = limx→∞ (1 − e−x ) = 1.
1
1 t2
dt = limx→∞ 1 −
1
x
= 1.
• Aber der folgende Grenzwert ist unendlich:
Z x
1
lim
dt = lim ln(x) = ∞ .
x→∞ 1 t
x→∞
Das entsprechende uneigentliche Integral existiert also nicht.
•
R1
0
dt
√
t
= limǫ→0
• Aber limx→0
R1
R1
ǫ
1
x t
dt
√
t
= limǫ→0 2(1 −
√
ǫ) = 2 .
dt = ∞.
• Hier ein beidseitiger Grenzwert:
Z ∞
1
dx = lim (arctan(R) − arctan(−R)) = π .
2
R→∞
−∞ 1 + x
• Ohne Beweis: Die Fl¨ache unter der Gaussschen Glockenkurve betr¨agt:
A=
3.5
Z
∞
−∞
exp(−
√
x2
) dx = 2π .
2
Taylorentwicklung und Integration
Jede stetige Funktion ist Riemann-integrierbar, besitzt also eine Stammfunktion auf
jedem abgeschlossenen Intervall im Definitionsbereich. Aber diese Stammfunktion
2
oder f (x) = e−x
braucht nicht elementar zu sein. Die Integranden f (x) = sin(x)
x
zum Beispiel haben keine elementaren Stammfunktionen. Man verwendet vielmehr
das Integral, um damit neue Funktionen zu definieren. Die beiden genannten Funktionen lassen sich aber durch konvergente Potenzreihen darstellen, und diese Reihenentwicklung er¨offnet eine andere explizite Beschreibung des Integrals durch summandenweise Integration.
Hier zun¨achst einige Beispiele f¨
ur solche Darstellungen von Funktionen durch
Potenzreihen:
68
Kapitel 3. Integralrechnung
• Die Exponentialfunktion hat folgende Reihenentwicklung
3.5.1 Beispiele
x
e =
∞
X
xn
n=0
n!
= 1+x+
x2 x3
+
+ ...
2!
3!
f¨
ur alle x ∈ R.
Genauer konvergiert die angegebene Reihe f¨
ur jedes fest gew¨ahlte x gegen den
x
Wert e . Bricht man die Reihe nach einer bestimmten Anzahl von Summanden ab, erh¨alt man einen N¨aherungswert f¨
ur ex , und verwendet man ge¨
ugend
viele Summanden, kann man jede gew¨
unschte Genauigkeit erreichen. Auf diese Weise ist die Berechnung der Funktionswerte der Exponentialfunktion auf
die Berechnung von Polynomen zur¨
uckgef¨
uhrt, und nach diesem Prinzip geben
Taschenrechner die Werte an.
• Die Reihenentwicklung der Sinusfunktion lautet:
∞
X
x3 x5
x2n−1
=x−
+
...
sin(x) =
(−1)n−1
(2n − 1)!
3!
5!
n=1
f¨
ur alle x ∈ R.
• Und hier ist noch die Reihenentwicklung des Cosinus:
cos(x) =
∞
X
(−1)n
n=0
x2 x4
x2n
=1−
+
...
(2n)!
2!
4!
f¨
ur alle x ∈ R.
3.5.2 Satz Sei f : I → R eine C ∞ Funktion und sei x0 ∈ I fest gew¨ahlt. Nehmen wir
an, dass die Funktion f sich auf dem Intervall I durch eine konvergente Potenzreihe
darstellen l¨asst, also
f (x0 + x) =
∞
X
an xn
n=0
f¨
ur alle x0 + x ∈ I.
Dann sind die Koeffizienten der Reihe eindeutig bestimmt. Es gilt n¨amlich
an =
f (n) (x0 )
n!
f¨
ur alle n ∈ N0 .
Man spricht hier von der Taylorentwicklung der Funktion f um den Entwicklungspunkt x0 .
Beweis. In den angegebenen Beispielen k¨onnen wir leicht nachpr¨
ufen, dass die Koeffizienten an tats¨achlich die behauptete Form haben. Gehen wir davon aus, dass
man bei der Reihe Summation und Differentiation vertauschen darf, dann ergibt
sich durch vollst¨andige Induktion:
f
(m)
(x0 + x) =
∞
X
n=m
an n(n − 1) . . . (n − m + 1) xn−m .
Setzen wir nun x = 0 ein, wird daraus f (m) (x0 ) = am m!, wie behauptet. Der subtile
Punkt ist das Vertauschen von Ableiten und Grenzwertbildung der Reihe. Das ist
3.5. Taylorentwicklung und Integration
69
hier erlaubt, weil die Konvergenz der Reihe sogar gleichm¨assig ist, also an benachbarten Stellen x vergleichbar schnell. Auf diese Konvergenzfragen werde ich im 3.
Semester genauer eingehen.
q.e.d.
3.5.3 Beispiel Die Taylorentwicklung der Logarithmusfunktion f (x) = ln(x) um
den Entwicklungspunkt x0 = 1 lautet:
ln(1 + x) =
∞
X
n=1
(−1)n−1
x2 x3
xn
=x−
+
...
n
2
3
f¨
ur alle |x| < 1 .
F¨
ur x > 1 konvergiert diese Reihe nicht, x = 1 dagegen darf man noch einsetzen
und erh¨alt dann eine Reihenentwicklung f¨
ur ln(2).
Aber es gibt auch C ∞ -Funktionen, die nicht durch ihre Taylorreihen dargestellt
werden.
3.5.4 Beispiel Die Funktion f sei definiert durch
1
− |x|
f¨
ur x 6= 0
f (x) = e
0
f¨
ur x = 0
Diese Funktion ist beliebig oft differenzierbar und man kann durch vollst¨andige
Induktion zeigen, dass f¨
ur jedes n ∈ N gilt:

1
f¨
ur x > 0
 pn ( x1 ) · e− x
(n)
f¨
ur x = 0 , wobei pn ein Polynom ist.
f (x) = 0
1

− |x|
1
n
f¨
ur x < 0
(−1) pn ( |x| ) · e
Also ist f (n) (0) = 0 f¨
ur alle n ∈ N. Das bedeutet, dass die Taylorreihe zum Entwicklungspunkt x0 = 0 an jeder Stelle verschwindet. Die Funktion f ist aber nicht die
Nullfunktion. Also kann sie nicht durch ihre Taylorreihe dargestellt werden.
Kommen wir nun wieder auf die eingangs genannten Funktionen zur¨
uck, die keine
elementare Stammfunktion haben.
l¨asst sich stetig nach 0 fortsetzen durch den Wert 1,
• Die Funktion f (x) = sin(x)
x
sin(x)
denn limx→0 x = 1. Ausserdem besitzt f eine Taylorentwicklung. Dazu
brauchen wir nur die Sinusreihe einzusetzen:
∞
sin(x) X
x2n−2
x2 x4
f (x) =
(−1)n−1
=
=1−
+
... .
x
(2n − 1)!
3!
5!
n=1
Wegen der angedeuteten gleichm¨assigen Konvergenz der Taylorreihe darf man
bei der Integration die Grenzwertbildung der Reihe und die Integration miteinander vertauschen. Durch summandenweise Integration ergibt sich nun:
Z x
Z x
∞
∞
X
X
x2n−1
x2n−2
n−1
dx =
(−1)n−1
=
f (x) dx =
(−1)
(2n
−
1)!
(2n
−
1)
·
(2n
−
1)!
0
0
n=1
n=1
x−
x5
x3
+
... .
3 · 3! 5 · 5!
70
Kapitel 3. Integralrechnung
2
• Die Funktion f (x) = e−x hat eine Taylorentwicklung, die sich durch Einsetzen
in die Exponentialreihe ergibt, n¨amlich:
−x2
=
e
∞
X
(−x2 )n
n=0
n!
=
∞
X
(−1)n
n=0
x2n
.
n!
Das Integral lautet also:
Z
x
−x2
e
0
∞
X
x2n+1
(−1)
dx =
.
(2n + 1) · n!
n=0
n
• Zum Schluss noch die Bestimmung der Taylorreihe der Arcustangensfunktion
auf dem Umweg u
¨ ber ihre Ableitung. Die Funktion f (x) = arctan(x) hat die
1
′
onnen wir f ′ (x) als geometrische Reihe
Ableitung f (x) = 1+x
2 . Falls |x| < 1, k¨
schreiben in der Form
∞
X
1
2
4
6
f (x) =
=
1
−
x
+
x
−
x
.
.
.
=
(−1)n x2n .
1 + x2
n=0
′
Durch summandenweise Integration wird daraus:
∞
2n+1
X
x3 x5
n x
+
... =
(−1)
f (x) = arctan(x) = x −
3
5
2n + 1
n=0
f¨
ur |x| < 1 .
Diese Taylorreihe konvergiert auch f¨
ur x = 1 und liefert eine Reihendarstellung
der Zahl π, n¨amlich
∞
X
1 1 1
1
π = 4 · arctan(1) = 4 · (1 − + − . . .) = 4 ·
(−1)n
.
3 5 7
2n + 1
n=0