Was ist eine Nation ? - Universität Leipzig

Apl. Prof. Dr. Edin Sarcevic
GRUNDLAGEN VON STAAT UND VERFASSUNG
7: Nation vs. Volk
Was ist eine Nation ?
Mittelalterlich: „Nationes“ – gleichbedeutend mit „gens“.
Lateinisch: „natio“ (nasci = geboren werden) = Abstammungsgemeinschaft.
1249: Universität von Paris unterschiedet die normanische, die picardische, die englische
und die gallische Nation, unter die auch die Italiener, Spanier und Griechen subsumiert werden. Die englische Nation umfaßte zudem deutsche, polnische und skandinavische Studenten.
1414 – 1471: Konzil von Konstanz – „natio germanica“ – die deutschsprachige Vertreter der
geistlichen Stände des heiligen Römischen Reiches sowie die Geistlichkeiten Englands, Ungarns, Polens und der skandinavischen Länder.
Johann Gotfried Herder (1744 – 1803), „Nation“ und „Volk“ sind Synonyme:
-
Der Einzelne fühlt sich nur im Volke geborgen.
Volk ist ein Organismus, eine Schicksalsgemeinschaft mit gemeinsamer Geschichte, Religion und Sprache.
Das Volk ist eine kollektive Wesenseinheit: „Die Natur erzieht die Familien; der
natürliche Staat ist also auch ein Volk, mit einem Nationalcharakter. (…) Nichts
scheint also dem Zweck der Regierung so offenbar entgegen als die unnatürliche
Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschen = Gattungen und
Nationen unter einem Scepter. Der Menschensscepter ist viel zu schwach und
klein, so daß widersinnige Teile in ihn eingeimpft werden könnten; zusammengeleimt werden sie als eine brechliche Maschine die man Staats=Maschine nennt,
ohne inneres Leben und Sympathie der Theile gegen einander.“
Friedrich Schleiermacher (1768-1834) postulierte ethnische Reinheit:
„Jedes Volk (…), das sich zu einer gewissen Höhe entwickelt hat, wird entehrt, wenn
es Fremdes in sich aufnimmt, sei dieses auch in sich gut (…).“
Joseph Ernst Renan (1823-1910) prägte die Formel von der Willensgemeinschaft:
„Gemeinsamer Ruhm in der Vergangenheit, ein gemeinsames Wollen in der Gegenwart, gemeinsam Großes vollbracht zu haben und es noch vollbringen wollen – das
sind die wesentlichen Voraussetzungen, um ein Volk zu sein.
Josif Dschugaschwilli (1879-1953)
„Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen
Wesensart.“
Zwei Arten der Nation: Saatsnation (staatsnationale Schule: F, GB, USA, CH – politischer Nationenbegriff) und Kulturnation (kulturnationale Verständnisart: D, I, osteuropäische Länder– ethnischer Nationenbegriff).
Apl. Prof. Dr. Edin Sarcevic
GRUNDLAGEN VON STAAT UND VERFASSUNG
7: Nation vs. Volk
Zwei Arten der Nation: Staats- und Kulturnation
Staatsnation („westliche“ Konzeption):
 politisches Gemeinwesen von Bürger - sie sind vor dem Recht gleich, unabhängig
von sozialer Stellung, Abstammung, Sprache oder Religion;
 geht von einem politischen bzw. voluntaristischen Nationenbegriff aus;
 in Westeuropa: Kultur, Nation u. Sprache sind sekundäre Funktionen oder spielen
gar keine Rolle;
 Volk und Nation sind identisch: ethnische Unterschiede werden ignoriert;
 gründet auf dem Territorialitätsprinzip.
Kulturnation („mittel- oder südosteuropäische“ Konzeption):
 kulturelles Gemeinwesen von Bürger - Zusammengehörigkeitsgefühl - das sich auf
die Sprache, die Kultur, das gemeinsame Schicksal, Abstammung, Religion etc.
stützt;
 geht von einem ethnischen Nationenbegriff aus;
 gründet auf dem Personalitätsprinzip;
 Volk und Nation unterscheiden sich, sie sind nicht identisch.
Historische Ursachen der Unterscheidung:
Wo sich die nationale Identität am vorhandenen Staat formen konnte  voluntaristisches
Element - Nationen beruhen auf dem Willen zur politischen Gemeinschaft  politische Gemeinschaft als Staatsnation.
Wo der gemeinsame Staat zunächst fehlte  bezieht sich “Nation” auf “natürliche”, d.h.
vorstaatliche Kategorien (Sprache, Abstammung, Kultur, Religion)  Kulturnation.
Nationalitätsprinzip: Wo sich die Einheit zwischen Nation, Volk und Staat verwirklicht hat.
Selbstbestimmungsrecht:
- UNO-Satzung, Art. 1 § 2; Art. 55, 73 und 76 + UN-Menschenrechtspakte (16.12.1996 i.K. getreten 1976) - die völkerrechtliche Anerkennung;
- Deklaration der UN über freundschaftliche Beziehungen und die Zusammenarbeit der
Staaten v. 24.10.1974  inhaltliche Präzisierung;
- Schlussakte der KSZE v. Helsinki  einschlägige Formulierungen.
- „Sozialistisches Selbstbestimmungsrecht“ - pervertierte Form: Brezniew-Doktrin.
- Selbstbestimmungsrecht als Verfassunggebung.
- Selbstbestimmungsrecht als „politischer Status eines Volkes“ (innerer + äußerer Status).
- Inhalte des Selbstbestimmungsrechts heute: Entkolonisierung, Bodenschätze, Staatsbildung, Sezession, Anschluss, Minderheiten, Autonomie, Vertragskündigung, Annexion,
Abwehr von oktroyierter Verfassung.