finden sich hier: den Text meines Referats.

Mythos Europa – auf der Suche nach einer
gemeinsamen Erzählung
Da verwandelt sich also, so berichten Homer und Ovid, der Göttervater Zeus in einen Stier, lässt die schöne Europa auf seinen Rücken steigen und schwimmt mit ihr
davon. Eine naive Jungfrau, die zuerst entund dann verführt wird – das dürfte so
ziemlich der einzige Mythos sein, den die
Nationen Europas gemeinsam haben. Und
es ist leider die Sorte Mythos, die sich nicht
für Sonntagsreden eignet, und schon gar
nicht dazu, bei Europäern patriotische Gefühle zu erwecken.
Das ist schade, denn ein gemeinsamer Mythos wird dringend benötigt, wenn die disparaten Staaten des Kontinents irgendwann
einmal zu einer wie immer gearteten Einheit zusammenwachsen sollen. Ich meine
damit nicht jene aus Verträgen zusammengebastelte Einheit, für die sich ausser den
Politikern, die sie miteinander ausgehandelt
haben, niemand begeistern kann, sondern
eine Einheit, die auch im Bewusstsein ihrer
Bürger ankommt, und zwar über die erleichterte Feststellung hinaus, dass man für
eine Reise von Berlin nach Paris kein Passbüro und keine Wechselstube mehr braucht.
Ein wirkliches Zusammengehörigkeitsgefühl kann nur dort entstehen, wo es auch eine gemeinsame Erzählung über die Ursprünge dieser Zusammengehörigkeit gibt –
und genau daran mangelt es in Europa.
Die Länder des Kontinents haben zwar eine
gemeinsame Geschichte – und die war selten sehr erbaulich –, aber History ist nun
mal nicht dasselbe wie Story, und wenn es
darum geht, Gefühle zu erwecken, ist Story
allemal stärker. Jede Nation erzählt sich andere Geschichten über die Geschichte, pickt
sich aus der Chronologie der Jahrhunderte
andere Details heraus, die sie für die bedeutsamsten und entscheidendsten hält. Im
traditionell zerstrittenen Europa, wo es
kaum zwei Nachbarn gibt, die nicht schon
einmal aufeinander losgegangen wären,
zeigt sich das Problem dieser selektiven Erinnerung am offensichtlichsten, wenn es
sich bei dem betreffenden historischen Ereignis um einen Krieg handelt, denn den hat
immer ein Land gewonnen und das andere
verloren. Sieger und Besiegte erinnern sich
nun mal nicht auf dieselbe Weise, obwohl
die Geschichtenerzähler oft sehr geschickt
darin sind, eine Niederlage in einen Sieg
umzumünzen.
Diese nationalen Mythen – und ich betone
noch einmal: jedes Land hat andere – beeinflussen nicht nur unsere Vorstellung von
der Vergangenheit, sondern bestimmen
immer auch unser Selbstbild in der Gegenwart. Oder umgekehrt gesagt: Wir bestärken unser nationales Selbstbild, indem wir
ganz bestimmte Geschichten aussuchen und
sie im Erzählen und Wiedererzählen so lang
zurechtbiegen, bis sie dem Bild, das wir
von uns selber haben, entsprechen.
Das hat zur Folge, dass historische Wendepunkte je nach Nation völlig unterschiedlich erinnert werden. Mein Geschichtslehrer
am Gymnasium zum Beispiel war der Meinung, das wichtigste Datum der europäischen Geschichte sei das Jahr 1519. (Er
sagte „fünfzehnneunzehn“, und der nasale
Ton, in dem er das aussprach, wird sich für
mich immer mit dieser Jahreszahl verbinden.) Für ihn lag die Bedeutung dieses Datums darin, dass Karl V. zum Kaiser gekrönt wurde und damit ein Reich entstand,
„in dem die Sonne nie unterging“.
Für das Geschichts- oder Geschichtenbewusstsein eines Portugiesen hat dasselbe
Datum vielleicht eine ganz andere, viel
wichtigere Bedeutung: 1519 brach Ferdinand Magellan zur ersten Weltumsegelung
auf. Und für einen Schweizer könnte das
Wichtigste im selben Jahr der Amtsantritt
Ulrich Zwinglis am Zürcher Grossmünster
und damit der Beginn der Reformation in
der Schweiz sein. Die Geschichte haben wir
gemeinsam – aber die Geschichten, die in
jedem Land davon übrigbleiben, sind ganz
verschiedene. Und es macht einen grossen
Unterschied für das Selbstverständnis einer
Nation aus, ob sie sich lieber an einen Kaiser, an einen Entdecker oder an einen Reformator erinnert.
Was sind das eigentlich für Erzählungen,
die wir als Mythen bezeichnen? Bitte gestatten Sie mir hier ein längeres Zitat des
Politikwissenschaftlers Herfried Münkler
von der Humboldt-Universität. Er hat das,
was ich meine, sehr viel präziser formuliert,
als ich es selber könnte: „Mythen sind Erzählungen, denen es nicht um historische
Wahrheit, sondern politische Bedeutsamkeit
geht. Sie stiften Bedeutung – im Raum, indem sie Ereignisse mit bestimmten Orten
verbinden, und in der Zeit, indem sie Geschichten erzählen, die der Geschichte Bedeutsamkeit verleihen und sie von der Vermutung des bloß Vergangenen befreien. Politische Mythen sind Interpunktionen der
Zeit. (…) Sie verleihen Identität und stiften
so Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen.“
Aber, und das scheint mir eine Frage zu
sein, die für die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer europäischen Einigung von
grosser Bedeutung ist, aber wo ist ein Mythos, den alle Europäer als den ihren empfinden könnten? Wo sind die mythischen
Idole, die dazu geeignet wären, nicht nur
einer einzelnen Nation, sondern dem ganzen Kontinent als Vorbild zu dienen? Der in
Tiergestalt erscheinende Göttervater Zeus
kann es ja wohl nicht sein.
Europa, und das steht seiner Einigung im
Weg, hat viele Erzählungen, aber keine gemeinsame Erzählung. Das ist ein emotionaler Mangel, den auch das hundertste Treffen
von Staats- und Regierungschefs nicht
wettmachen kann. Auf der organisatorischen Ebene lässt sich Europa durchaus zu
einem Staats- oder zumindest zu einem
Staatengebilde machen – aber keine gemeinsame Institution wird seinen Bewohnern das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer
gemeinsamen Nationalität vermitteln. Das
schafft noch nicht mal eine überall gültige
Verordnung betreffend ökologisch korrekter Glühbirnen.
Der Satz „Ich bin Europäer“ ist in der Regel
nicht mehr als ein politisch korrektes Lippenbekenntnis. Denn stärker als das Geschichtsbewusstsein ist das Geschichtenbewusstsein, und das wird nicht in der Schule
vermittelt, sondern auf ganz anderen Wegen
tradiert. Für die nationale Verortung jedes
einzelnen spielen Erzählungen, Legenden
und Mythen eine grössere Rolle als alle
Zahlen und Fakten.
Für diese Selbstverortung ist es völlig nebensächlich, ob die Ereignisse, an die wir
uns mit einer gewissen Ehrfurcht erinnern,
auch tatsächlich so stattgefunden haben,
wie man sie weitererzählt. Es spielt letzten
Endes keine Rolle, ob die Story der History
entspricht oder ob sie in den Bereich der
reinen Erfindung gehört. In der Schweiz
haben wir im Jubiläumsjahr 2015 diese Debatte mehr als genügend geführt und mussten feststellen: Die Schlacht bei Morgarten
bliebe auch dann noch ein wichtiges Datum
der eidgenössischen Geschichte, wenn sie
gar nicht stattgefunden hätte. Oder wie es
der alte Schülerspruch besagt: Man weiss
nicht, ob Wilhelm Tell jemals existiert hat,
es steht nur fest, dass er den Landvogt
Gessler erschoss.
Um Europa auch in den Köpfen seiner Bürger zu einer wirklichen Einheit werden zu
lassen, müsste man alle seine Erzählungen
unter einem gemeinsamen Motiv subsummieren können. Und das ist, will mir scheinen, eine unlösbare Aufgabe. Wie will man
die Heldentaten des Cid und den Sturm auf
die Tuillerien unter einen Hut bringen? Wo
ist die Gemeinsamkeit zwischen der Unterzeichnung der Magna Charta und, sagen
wir, der Schlacht auf dem Amselfeld? Jedes
dieser Ereignisse spielt für das Selbstverständnis einer europäischen Nation eine
grosse Rolle – aber eben: immer nur für eine Nation. Es sind keine gesamteuropäischen Geschichten.
Einem zu vereinenden Europa fehlt der
Gründungsmythos. Seine Befürworter können sich nicht pathetisch auf heroische Figuren oder Ereignisse einer wirklichen oder
imaginierten Vergangenheit berufen, sondern müssen vor allem mit dem argumentieren, was dank eines mehr oder weniger engen politischen Zusammenschlusses nicht
mehr ist: Keine Grenzkontrollen mehr!
Kein Geldwechsel zumindest im Euroraum!
Und vor allem das am häufigsten gehörte
Argument: Seit siebzig Jahren kein Krieg in
Europa mehr! Wobei dieser Satz auch nur
stimmt, wenn man grosse Gebiete in der
Osthälfte des Kontinents diskret aus der
Definition von Europa verschwinden lässt.
Aber eben: Der Wegfall unerfreulicher Zustände ist zwar angenehm, aber es fehlt ihm
die emotionale Wirkungskraft mythisch
überhöhter Erzählungen. Argumente können den Verstand überzeugen, aber sie lassen die Herzen nicht höher schlagen. Und
wenn Europa wirklich nach Einheit streben
will, muss es nicht nur die Köpfe, sondern
auch die Herzen seiner Bürger gewinnen.
Was wäre also zu tun? Frühere Jahrhunderte hatten es da einfacher. Solang Informationen und ihre Verbreitung das Privileg einer kleinen Elite waren, konnte man sich
historische Ereignisse einfach so zurechterfinden, wie man sie im aktuellen politischen
Kontext gerade brauchte. Man konnte eine
Geschichte erfinden, in der Kaiser Konstantin dem Papst Silvester die Oberherrschaft
über die Westhälfte des römischen Reiches
vermachte, oder, wenn man Schweizer Patriot war, konnte man aus einer Episode bei
Saxo Grammaticus den eidgenössischen
Volkshelden Wilhelm Tell destillieren.
Heute ist das Kreieren von Mythen schwieriger geworden. Ereignisse lassen sich –
auch wenn das manche autokratischen Regierungen durch die Kontrolle der Informationsmedien immer wieder versuchen –
nicht mehr einfach behaupten. Man versucht deshalb immer mehr, die Überzeugungskraft von Erzählungen durch diejenige von Bildern zu ersetzen. Um noch einmal Professor Münkler zu zitieren: „Die
Wirkung von Geschichtsmythen entfaltet
sich nicht bloß über Erzählungen, sondern
dazu dienen auch Bilder und Feste.“ Moderne Politiker – und ihre Imageberater –
wissen über die Macht der Bilder sehr gut
Bescheid. Als sich François Mitterand und
Helmut Kohl auf einem Soldatenfriedhof
bei Verdun die Hände reichten, hatte diese
kleine Geste eine stärkere Wirkung als hundert Ansprachen über die Bedeutung der
deutsch-französischen Aussöhnung. Und es
spielt dabei keine Rolle, ob die Geste auf
Grund einer spontanen Rührung zustande
kam, oder ob sie ihrer Wirkung halber vorbedacht war.
Nur eben: Zum Thema der europäischen
Einigung fehlen auch wirkungsmächtige
Bilder. Die einzige visuelle Assoziation, die
einem sofort einfällt, ist das immer gleiche,
wenn auch regelmässig neubesetzte Gruppenbild von Regierungschefs, die sich nach
ihrer tausendsten Konferenz wieder einmal
in strenger Ordnung aufgestellt haben, um
in die Kameras zu lächeln. Es ist kein Bild,
das man sich voller Nationalstolz auf eine
Wappenscheibe gemalt ans Fenster hängt.
Europa fehlt ein einigender Mythos. Und
ich meine: Solang es ihn nicht gibt und solang keine spannendere Erzählung über das,
was den Kontinent verbindet, gefunden
wird, solange wird es auch kein wirklich
geeintes Europa geben können.