Was ist eine Nation? Eine Vorlesung zu Ehren von Ernest Renan Europäische Union 1, Wintersemester Bernd Lutterbeck Was ist eine Nation? Vier Thesen und eine Mahnung Imagologie der Europäer – Völkertafeln und Nationalcharaktäre – Europa und die Türken Deutschland und Frankreich: Die Explosion der Nationalstaaten Ernest Renan zur Nation Huntingtons Provokation Der Ausflug in die Geschichte Europas ist beendet Meine These 1 1. Nach dem Zusammenbruch der römisch/christlichen Ordnung des Mittelalters ist ein Machtvakuum in Europa entstanden. Vor allem: Man wusste jetzt nichts mehr voneinander. Stattdessen hat man sich – – ein Bild der anderen gemacht und die Vorstellungen über sich selbst erhöht. Geronnen ist diese (vorurteilhafte) Sicht in Völkertafeln und Zusammenstellungen von Nationalcharaktären. Noch um 1900 gibt es für diese Sicht der Nachbarn Belege. Meine These 2 2. Damit waren die mentalen Voraussetzungen bei den Menschen geschaffen, um ihre Vorurteile mit dem machtpolitischen Instrument des Nationalstaats aufzuladen. Das Gemisch aus territorial begründeter Macht, Ökonomie und «Psycho-Sozialem» war explosiv. Meine These 3 3. Im 19., vor allem dem 20. Jahrhundert haben sich die Spannungen zwischen den Völkern Europas in einer Orgie der Gewalt entladen. Der Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich hat alle anderen Konflikte überlagert. Die Kriege zwischen diesen Völkern stehen für das Elend des gesamten Kontinents, das erst 1945 ein gewisses Ende hatte. Meine These 4 4. Zwei Einsichten musste man aus dem Elend der Kriege gewinnen: – Den europäischen Nationalstaaten wohnt ein zerstörendes Element inne. Die (westfälische) Ordnung, die auf den Nationalstaaten aufbaut, muss abgelöst werden. – Die Neuordnung kann nur gelingen, wenn der Hauptkonflikt, das Verhältnis Deutschland – Frankreich, bereinigt wird. Conclusio Politisch und kulturell durchblickende Zeitgenossen wussten das alles schon im 19. Jahrhundert, vor den großen Kriegen. Ich nenne nur einen: den Priester und Religionswissenschaftler Ernest Renan. Seine Rede von 1871 über die «Nation» wird unzählige Male zitiert. In der Ahnengalerie der Europäischen Union taucht er trotzdem nicht auf. Das soll sich ändern. Ihm zu Ehren diese Vorlesung. Aber Vorsicht! Lassen Sie sich nicht zu einem schwärmerischen Verständnis der EU verleiten! Geben Sie keine Ruhe, bevor Sie nicht die Provokation von Samuel Huntington verstanden und bewertet haben! Ersetzen Sie nicht das eine Feindbild durch ein neues! Stereotype halten sich ggf. Jahrtausende «Wie nun einem yeden volck sein eigen tadel und nachteil anhanget/ also sein die Schwaben so ein unkeüsch volck/ das es selten zü rechten mannbaren alter kumpt/ und bey andern völckern ein Sprüchwort darauß worden ist. Schwabenland gibt hüren genüg/ Frankenland rauber und betler genüg/ Böhem kätzer/ Beyer dieb/ Schwitzerland hencker/ Sachsen sauffer/ der Rhein frässi/ Friesenland und Westualer/ trewlos oder meyneidig.» Tacitus 98 n. Chr., in einer Übersetzung von 1534 Stanzel 1998, S. 58 Germania vomitans Germania mit einer Miniatur des Heidelberger Fasses, kotzt, weil sie (wieder einmal) volltrunken ist. Italia Gallia mit dem Füllhorn, das die Fruchtbarkeit dieser Länder symbolisiert. Die Allegorie von 1611 spielt auf die Trunksucht an, die den Deutschen seit Jahrhunderten als Nationaleigenschaft zugeschrieben wird. Stanzel 1998, S. 70/1 Imagologie im 15. Jahrhundert Das spätmittelalterliche Alexander-Epos sieht die anderen Völker durch die Brille Spaniens: Die Menschen in Spanien sind lebhaft und tatkräftig. Die Franzosen sehen wir als mutige Krieger. Die Engländer sind falschherzige Prahlhänse. Die Italiener [Lombarden] sind Feiglinge. Die Deutschen Diebe. Hale 1994, S. 67 Imagologie im 20. Jahrhundert Text aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts Von einem Teilnehmer der EU1-Vorlesung In ungeklärter Übersetzung Französische Grammatik für höhere Töchter, 1753 Schulze/Paul 1994, S. 1123 ff Nationalcharaktäre Spanier Franzose Wälscher Leopoldstich, um 1720 Stanzel 1998, S. 17 Teutscher Engländer Schwede Pole Ungar Moßkowiter Türke/ Grieche Standestypen: Ewiger Kreislauf, um 1800 Bettler Händler Stanzel 1998, S. 22 Finanzier Edelmann Spanier Krieger Schwede Kriegsversehrter Völkertafel, Steiermark um 1720 Völkertafel, Steiermark um 1720 Stanzel 1998, S. 14/15 Die Türken massakrieren die (europäischen) Christen Druckschrift von 1542 Wie die gefangenen Christen von den Türken gehalten und verkaufft werden Holzschnitt von 1596 Idee Europa 2003, S. 95 Ein Zufallsfund in den Ferien, beim Radfahren Klagenfurt (Austria) Hauptstadt von Kärnten Alter Platz, im Sommer 2003 Dreifaltigkeitssäule in Klagenfurt Cross of Lorraine Mit Davies 1996, p 1229 und Google wird man fündig: «Godefroy de Boullion, duke of Lorraine [Lothringen], flew this cross in his standard when he took part in the capture of Jerusalem in 1099 during the first crusade. Later this kind of cross was attributed to him and his successors. » Türkischer Halbmond Nach dem Sieg über die Türken 1683 wurde die ursprüngliche Pestsäule umgebaut: The Cross of Lorraine hält den Halbmond nieder. Erst hat (der christliche) Gott die Pest besiegt, dann die Türken. Der Frieden, eine Kanone auf Rädern Honoré Daumier 1868 Honoré Daumier: Der Zustand Europas im Jahre 1869 «Krieg und Frieden begegnen sich beim Federballspiel - mit Helm, Lanze und Leibpanzer bewehrt die eine, mit dem Ölzweig des Friedens die andere. Ihr Spielball ist Europa, ein Kopf mit gequältem Gesichtsausdruck und dem Zinnenkranz der städtischen Zivilisation auf dem Haupt. Der Spielstand zeigt die kriegerische Figur am Zuge, während der Frieden erschrocken zusieht, wie sein letzter Schlag den «Europa»-Ball dem Krieg zutreibt.» Idee Europa 2003, S. 207 Germania, bewacht das den Deutschen Kostbarste-den Rhein L. Clasen: Germania auf der Wacht am Rhein von 1860 Marianne und Germania 1996, S. 39 Marianne, kämpft für die Freiheit N. Vallain: La Liberté von 1793/94 Marianne und Germania 1996, S. 38 Noch feiert Deutschland Der Krieg radikalisiert: Honoré Daumier am 6.3.1871 Am 2.9.1870 französische Niederlage in Sedan. Am 18.1.1871 wurde Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen. Die Maler wechseln, die Motive bleiben: Europa ist am Ende Der Friede F. Von Kaulbach von 1916 Der Krieg Otto Dix von 1924 Idee Europa 2003, S. 238, 242 1871 – 1918 – 1945: Die Bilanz ist die gleiche Berühmte Europareden 11.3.1882 Ernest Renan (F) 6.9.1946 Staatssekretär James Byrnes (US) Premierminister 19.6.1946 Winston Churchill (UK) Was ist eine Nation? Universität Sorbonne (Paris) Amerika ist eine europäische Macht Staatsoper Stuttgart Für ein vereintes Europa unter deutscher und französischer Führung Universität Zürich 12.3.1947 Präsident Harry Truman (US Amerika als Schutzmacht der Freiheit Kongress (Washington,D.C.) 5.6.1947 Außenminister George Marshall (US) Rede über den Wiederaufbau Europas Harvard University (Cambridge) 9.5.1950 Außenminister Robert Schumann (F) Schumann-Plan: Erklärung über die Montanunion. Monnet hat die Rede aber geschrieben. wohl ein Ministerium in Paris Außenminister Joschka Fischer (D) Die Europäische Union als Föderation 12.5.2000 HumboldtUniversität zu Berlin Wer war Ernest Renan (1823-1892)? • • • • • • • • 1823 Geburt, Bretone, aus verarmter Familie Religionswissenschaftler Buch über das Leben Jesu geschrieben, allein in Deutschland 32 Auflagen Professor am College de France, eine Berühmtheit im damaligen Frankreich. Er war der führende Altertumsforscher und Religionswissenschaftler zumindest Frankreichs. Großer Kenner deutscher Literatur, Bildungswesen. War dem guten Leben zugetan, siehe seinen Bauch Verliert auf Betreiben der katholischen Kirche seinen Lehrstuhl Nach 1870 bekam er seinen Lehrstuhl wieder, wurde sogar Mitglied der Académie Française. 1892 erhält er ein Staatsbegräbnis. Renan: Rede an der Sorbonne «Eine Nation ist eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem faßt sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen.« Renan: Was ist eine Nation? «Die Existenz einer Nation ist ein tägliches Plebiszit – (Man möge mir den metaphorischen Ausdruck verzeihen) – ein Plebiszit, das alle Tage stattfidet, so wie die Existenz eines Individuums eine dauernde Bestätigung des Lebensprinzips ist.» Renan: Rede an der Sorbonne «Eine Nation ist eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem faßt sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen.« Renans Fazit war seiner Zeit um viele Jahrzehnte voraus «Die Nationen aber sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen. Aber das ist nicht das Gesetz dieses Jahrhunderts, in dem wir leben. Gegenwärtig ist die Existenz der Nationen gut, sogar notwendig. Ihre Existenz ist die Garantie der Freiheit, die verloren wäre, wenn die Welt nur ein einziges Gesetz und einen einzigen Herrn hätte.» Renan (F) und Strauss (D) im Disput Argument Ernest Renan David Friedrich Strauss Rasse Es gibt keine reine Rasse, die Politik bezieht sich daher auf eine Chimäre. Rasse ist etwas, was entsteht und wieder vergeht. Staatsgemeinschaft = Politische Gemeinschaft Deutscher ist nur der, der von Deutschen abstammt. Der Staat ist ein Gefäß für eine völkische Substanz. Staatsgemeinschaft = Blutsgemeinschaft Sprache Die Sprache lädt dazu ein, sich zu vereinen; sie zwingt nicht dazu. Man ist Franzose, weil man französisch spricht Geographie Ich kenne keine willkürlichere, keine verhängnisvollere Theorie. Mit ihr kann man jede Gewalt rechtfertigen Ein wesentlicher Faktor Religion Die Religion ist eine individuelle Angelegenheit geworden. Sie hat ihre Bedeutung nur noch im Innern jedes Einzelnen. Polen bezieht seine Identität daraus, daß sie polnisch im ethnischen Sinn und katholisch ist Interessen Die Nation hat darüber hinaus eine Gefühlsseite, sie ist Seele und Körper zugleich. Ein Zollverein ist kein Vaterland. Die Gemeinschaft der Interessen schließt Handelsverträge. David Strauss war vom liberalem Mann der Paulskirche zu einem bekennenden AnhängerBismarks mutiert. Dieser Wandel war Renan entgangen. Deutschland hatte ein ethnozentrisches Nationen-Bild Brockhaus von 1814: «Nation ist ein durch gleiche Abstammung und Sprache ausgezeichneter Teil der Menschheit» Und das neue Ausländerrecht der Bundesrepublik? Welches Nationen-Bild hat Deutschland heute? Für Renan ist «Nation» ein geistiges Prinzip • Eines gehört der Vergangenheit an - der gemeinsame Besitz an Erinnerungen. • Das andere gehört der Gegenwart an - der gegenwärtige Wunsch zusammenzuleben, das gemeinsame Erbe hochzuhalten Aber: Eine Nation kann nur groß werden, wenn sie die Fähigkeit hat zu vergessen. Der clash of civilisations Der amerikanische Politologe Huntington hat 1993 einen Aufsatz geschrieben, der bis heute die Gemüter erregt. Seine Auffassung wird kontrovers diskutiert. Seine Hauptthese: «Nach dem Ende des kalten Krieges sind die Weltkonflikte nicht mehr ideologisch und ökonomisch, sondern kulturell und zivilisatorisch bedingt. "Der nächste Weltkrieg, wenn es ihn gibt, wird ein Krieg zwischen den Zivilisationen sein.» Huntington 1993 Der Riss durch Europa – nach Huntington • Besteht die konfessionelle Grenze zwischen dem lateinischen und orthodoxen Europa fort? • Ist das Schisma von 1054 sozusagen endgültig? • Sind die religiösen Grenzen auch territoriale? Momentaufnahmen nach den Anschlägen von Beslam Der dauernde Streit um die Mitte Europas Huntingtons These ist empirisch zweifelhaft… …aber mächtig Brzezinski 1997 Europa ist weitergekommen, ein wenig jedenfalls Sie erinnern «Germania vomitans»? Jetzt hat Russland Deutschland als versoffenstes Land abgelöst «Wandertopos» sagen die Gelehrten
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