SWR2 DIE BUCHKRITIK

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Luiz Ruffato: Teilansicht der Nacht
Band 3 der Serie "Vorläufige Hölle"
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
Verlag Assoziation A
160 Seiten
18 Euro
Rezension von Eva Karnofsky
Freitag, 24. Februar 2017 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Luiz Ruffato zählt zu den derzeit wichtigsten Schriftstellern Brasiliens. Vor allem sein 2013
übersetzter São-Paulo-Roman Es waren viele Pferde hat ihm hier sehr viel Lob
eingetragen. Nach bedeutenden Literaturpreisen in seiner Heimat hat er im vergangenen
Jahr den Internationalen Hermann Hesse Preis erhalten. Von seinem fünfbändigen Werk
„Vorläufige Hölle“, das die Geschichte des brasilianischen Proletariats literarisch
bearbeitet, wurde mit Teilansicht der Nacht nun der dritte Band übersetzt. Eva Karnofsky
hat ihn gelesen.
In Teilansicht der Nacht führt Luiz Ruffato den Leser nach Cataguases, eine Kleinstadt im
Innern des Bundesstaates Minas Gerais im Südosten Brasiliens. Ruffato kennt die Stadt
gut, denn er stammt von dort. Auch schon Feindliche Welt war dort angesiedelt, Band 2
seiner fünfbändigen literarischen Auseinandersetzung mit dem vergessenen Teil
Brasiliens, mit den Armen, den neu Eingewanderten und den Arbeitsmigranten aus dem
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Binnenland. So sind einige der Nebenfiguren dem Leser auch bereits in Feindliche Welt
begegnet. Die einzelnen Bände der Serie sind jedoch jeweils eigenständige Romane.
So auch Teilansicht der Nacht. Der Roman spielt in den Siebzigerjahren, und Brasilien
ächzt unter einer finsteren Militärdiktatur, was auch den Titel des Bandes erklärt. Zwar
sind es vor allem Intellektuelle der Mittel- und Oberschicht, die zu jener Zeit verschleppt
und ermordet werden, doch auch die Menschen in den Armenvierteln von Cataguases, in
denen der Roman ausschließlich angesiedelt ist, spüren die Folgen. Um des
vermeintlichen Fortschritts willen, den die Militärs sich auf die Fahnen geschrieben haben
und ohne Rücksicht auf Mensch und Natur durchsetzen, werden die Armen aus ihren
gewachsenen Nachbarschaften gerissen und umgesiedelt. „Paradies“ heißt
ironischerweise das Viertel mit Miniatur-Häuschen, in das sich die einfachen Leute
einkaufen können.
Doch besser geht es ihnen dort nicht. Ihre vorherigen sozialen Strukturen werden
zerschlagen, und sie sind nun obendrein verschuldet.
Soziale Sicherheit spielt für die Militärs keine Rolle, und so steht, wer seinen Job in der
Weberei oder in einem anderen Industriebetrieb der Stadt verliert, mittellos da. Niemanden
kümmert es, wenn in einer Favela, einem Armenviertel, ein Mensch aufgrund von
Verwahrlosung leidet oder gar stirbt.
Eine durchgehende Handlung hat der Roman nicht. Vielmehr schildert ein allwissender
Erzähler in der dritten Person Episoden aus dem Leben von Bewohnern der Armenviertel
von Cataguases. Er ist ganz nah dran an den Menschen und zusammen genommen
ergeben seine Geschichten ein Bild davon, was sie dort tagtäglich ertragen müssen. Wenn
es stark regnet etwa, saufen ihre Hütten ab, und selbst die Matratzen sind durchweicht.
Ob Flöhe oder Krätze, Spulwürmer oder Keuchhusten - keine Krankheit, die man nicht dort
fände. Und zu Zeiten der Militärherrschaft kümmerte sich der Staat noch weniger darum
als heute.
Kaum ein Mann, der nicht aus Frust oder Verzweiflung dem Alkohol verfallen wäre und im
Suff, gegenüber Frau und Kindern vor allem, zur Gewalt neigte. So wundert es auch nicht,
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wenn der Direktor eines Wanderzirkus, der kaum weniger arm ist als seine Zuschauer, tot
auf einem Bolzplatz gefunden wird. Erstochen, weil er sich mit einem Besucher angelegt
hat, der keinen Eintritt bezahlen wollte.
Vom Bürgermeister haben die Menschen am Rande der Stadt keine Hilfe zu erwarten,
denn der ist ständig auf Reisen und taucht nur auf, wenn die Presse anwesend ist und er
sich in ein gutes Licht rücken kann. Auch auf die Polizei ist kein Verlass.
Am meisten zu Herzen geht die Geschichte von Vicente, der auf sich gestellt bei seiner
alleinstehenden, geistig verwirrten Mutter aufwuchs und schließlich als junger Mann,
selbst ebenfalls aufgrund der Umstände geistig verwirrt, in einem Abwasserrohr ertrinkt.
Den Menschen bleiben nur ihre Träume und Erinnerungen, die nicht immer so schön sind
wie die von Terezinha, die in jungen Jahren einmal Karnevalskönigin war.
Luiz Ruffato schreibt schnörkellos, in einer realistischen, nichts verschleiernden Sprache,
die auf den Leser brutal wirkt, weil die Verhältnisse brutal sind. Seine Sätze sind kurz,
nicht immer vollständig, die Dialoge kommen umgangssprachlich und ebenfalls knapp
daher. Wenn viele Krankheiten herrschen, zählt Ruffato sie alle auf. Wenn jemand sich
über die Straße schleppt, schildert der Erzähler dies Schritt für Schritt, sodass man fast
glaubt, es zu sehen, als Zuschauer dabei zu sein.
Selten hat jemand über eine brasilianische Favela so eindringlich und einprägsam
geschrieben wie Luiz Ruffato in Teilansicht der Nacht.
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