Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Charles C. Mann: Amerika vor Kolumbus
Die Geschichte eines unentdeckten Kontinents
Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg, 2016
720 Seiten
29,95 Euro
Rezension von Johannes Kaiser
Dienstag, 21. Februar 2017 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
SWR2 MANUSKRIPT
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten
Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung
bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
Der 61jährige amerikanische Journalist und Buchautor Charles Mann hat
bereits mit seinem vorherigen Buch ‚Kolumbus Erbe‘ viel Aufsehen erregt, wies
es doch nach, dass der weltweite Austausch von Pflanzen, Tieren und Arten mit
Kolumbus begann und die Welt total veränderte. Sein jetzt vorgelegtes Buch
räumt unter anderem mit der Illusion auf, die Indianer seien edle Wilde
gewesen, die ihre Umwelt im wilden Naturzustand beließen und schützten. Wie
schon der Vorgänger wurde es von der National Academy of Sciences als
bestes Buch des Jahres ausgezeichnet.
__________________________________________________
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
SWR2 MANUSKRIPT
Vielleicht sollte man, so schlägt Charles Mann vor, nicht mehr von der Alten und
der Neuen Welt sprechen. Immerhin war Amerika bereits vor 30 000 Jahren
vom Polarkreis bis Feuerland von indianischen Ureinwohnern erschlossen
worden, während Europa noch zu einem Großteil von Eis bedeckt und
entsprechend spärlich besiedelt war. Als wir in Europa noch als Sammler und
Jäger durch die Wälder zogen, blühten in den Anden die ersten Hochkulturen
auf, wurde dort bereits 1000 Jahre vor den Sumerern Landwirtschaft betrieben,
Mais und Gemüse kultiviert, wurden Städte und Tempel errichtet.
Es sind solche durch Ausgrabungen belegte Fakten, die das ganze Buch zu
einer Entdeckungsreise durch uralte indianische Zivilisationen machen, die
vorwegnahmen, was im Vorderen Orient Europas Kultur begründete: Schrift
und Mathematik, Handwerk und Landwirtschaft, religiöse Kulte und
Schöpfungsmythen. Gerade die Indianer der Anden können auf Jahrtausende
alte Hochkulturen zurückschauen, auch wenn von denen nur noch Rudimente
vorhanden sind. Archäologen entdecken immer neue Beweise dafür, dass
Zentral- und Südamerika dicht besiedelt waren.
Charles Mann hat nicht nur mit vielen von ihnen gesprochen und
Ausgrabungsstätten besucht, sondern sich auch durch zahllose
Forschungsberichte gearbeitet. Immer wieder erstaunt, wie die Wissenschaftler
aus Ruinen und uralten Müllhalden, aus Tonscherben und in Steinstelen
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
SWR2 MANUSKRIPT
gehauenen Zeichnungen, Geweberesten und Mumienknochen das Entstehen
und Vergehen ganzer Reiche herauslesen können, selbst Intrigen und Kriege
zwischen verfeindeten Nationen. Charles Mann erzählt das so dicht und
packend, als wenn er dabei gewesen wäre. Allerdings verschweigt er nicht,
dass sich die Forscher in der Interpretation der Relikte nicht immer ganz einig
sind. Fotos und alte Landkarten ergänzen und veranschaulichen die Texte.
In drei großen Kapiteln zeigt Mann, dass die Indianergesellschaften nicht nur
viel größer, älter und fortschrittlicher waren, als bisher vermutet, sondern auch
weit größeren Einfluss auf die Umwelt hatten.
So lebten in Zentral- und Südamerika bereits vor über 3000 Jahren Millionen
Menschen. Ursprüngliche Natur gab es nur noch an wenigen Stellen. Bis in
3000 Meter Höhe wurde intensiv Landwirtschaft auf Terrassen betrieben. Selbst
im Amazonasbecken siedelten offenkundig zahlreiche Indianergemeinschaften,
verwandelten mindestens ein Viertel des Urwaldes in Fruchtbaumplantagen und
Gärten, die Ernährungsgrundlage für hunderttausende Indianer.
Ausgrabungen zeigen zudem, dass die Indianer nicht nur in Mittel- und
Südamerika die Landschaft nach ihrem Willen geformt hatten, sondern auch in
Nordamerika. Als die ersten europäischen Kolonisten dort eintrafen, war die
Küste Neuenglands mit Dörfern übersät. Felder mit Mais, Kürbissen und
Bohnen umgaben die Häuser, ernährten zusammen mit Jagd und Fischfang
hundertausende Indianer. Statt sich an die Natur anzupassen, schreibt Charles
Mann, schufen sich die Indianer ihre eigene Umwelt.
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
SWR2 MANUSKRIPT
Es waren keineswegs primitive Jäger- und Sammlergesellschaften, vielmehr
Zivilisationen, die handwerklich sehr geschickt waren, mehrere Sprachen
beherrschten, Handel trieben, Bündnisse schmiedeten, demokratische
Entscheidungsstrukturen kannten.
Doch warum sind all diese Kulturen untergegangen? Die Antwort ist so schlicht
wie dramatisch. Nicht Schwert und Gewehr der Kolonisatoren, sondern deren
eingeschleppte Seuchen töteten Millionen Indianer binnen weniger Jahrzehnte.
Genetische Untersuchungen alter Knochen zeigen, dass die Indianer gegen
Pocken, Masern, Grippe und andere Krankheiten keine Abwehrkräfte besaßen.
Während die Europäer gegen sie weitgehend immun waren, starben die
Indianer wie die Fliegen. Forscher schätzen, dass 95% aller Indianer binnen
des ersten Jahrhunderts nach Ankunft der Europäer deren Seuchen erlagen.
Dörfer und Städte verödeten, ganze Landstriche wurden entvölkert, die
aufwendig kultivierten Landschaften verwilderten. Die angeblich unberührte
Natur der amerikanischen Nationalparks und des Amazonas entstand erst als
Ergebnis des Massensterbens der Indianer.
Es ist das unzweifelhafte Verdienst von Charles Manns Buch, uns zu zeigen,
wie in Amerika vor Kolumbus bewundernswerte Hochkulturen entstanden,
blühten und untergingen. Unser Bild der indianischen Gesellschaften muss
dringend korrigiert werden.
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.