Titelseite als PDF-Vorschau

Gysi empfängt Jauch ...
Feiertage auf Schanzen
In der Warteschleife
... und erklärt, warum er »Wer
wird Millionär?« meidet. Seite 16
Gleich zwei WM-Medaillen in Falun
fürs deutsche Skispringen Seite 19
Flüchtlinge in Berlin werden
nicht sofort versorgt. Seite 11
Foto: dpa/Fredrik Sandberg
Foto: nd/Ulli Winkler
Montag, 23. Februar 2015
STANDPUNKT
Zweimal Maidan
Roland Etzel zur gespaltenen
Wahrnehmung der Ukraine-Krise
Wer die Vorgänge von vor einem
Jahr in der Ukraine am Wochenende aus Kiewer und aus Moskauer Sicht nacherzählt bekommt, kann nicht glauben, dass
hier von der selben Sache gesprochen wird. Zu krass sind die
Wahrnehmungsunterschiede zu
dem, was auf Kiews Maidan geschah. Es blüht – auf beiden Seiten – Legendenbildung der finstersten Art. Was die Mehrheit der
Ukrainer tatsächlich denkt, ist
nicht bekannt. Von den nonstop
berichtenden Fernsehsendern erfährt man es jedenfalls nicht.
Die Reden zum Kiewer Maidan-Gedenkmarsch waren in beängstigendem Maße unversöhnlich. Die raubeinige Reaktion der
Moskauer Anti-Maidan-Proteste
ebenso. Wen immer es nach noch
mehr Konfrontation gelüstet –
beide Seiten boten dafür Hassprediger in Hochform.
Dominierte die dort wiedergegebene Stimmung tatsächlich alle
Handlungen in der Sache, bliebe
vernunftgesteuerter Diplomatie
wohl kein Fußbreit Raum. Aber
so ist es offensichtlich nicht, noch
nicht. Der Gefangenenaustausch
spricht dafür ebenso wie die Unterzeichnung eines Dokuments
zum Abzug schwerer Waffen.
Mit Verzögerungen, auch zeitweiligen Verletzungen derartiger
Vereinbarungen muss dabei immer gerechnet werden. Um so
wichtiger ist die auswärtige Begleitmusik. Die ukrainischen Akteure achten darauf sehr genau,
die in Kiew wie die in Donezk.
Werden die Kompromisssucher
bedient oder die Scharfmacher?
Darauf müssen sie achten, denn
allein sind sie recht schwach und
pleite sowieso – die in Kiew wie
die in Donezk.
UNTEN LINKS
In seiner neuen Legislaturperiode
gerade mal 100 Tage im Amt,
haben die Sachsen ihren Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich
im wahrsten Wortsinn in die
Wüste geschickt. Nicht allein. Die
Sächsische Staatskapelle hat den
CDU-Politiker bei seiner Investorenpflege in die Vereinigten Arabischen Emirate begleitet. Nicht
ohne Grund: Irgendwer musste ja
für harmonische Töne sorgen.
Das war schließlich bitter nötig
geworden, nachdem in Dresden –
ausgerechnet da, wo Großinvestitionen aus Abu Dhabi seit Jahren 4000 Arbeitsplätze sichern –
Tausende Menschen wochenlang
gegen die Islamisierung des
Abendlandes auf die Straße gingen. Dass der Ministerpräsident
dafür ausdrücklich Verständnis
signalisierte, mag die Großinvestoren aus den Emiraten ein wenig
irritiert haben. Aber Pegida, so
Tillich, habe bei seinen Gesprächen in der Wüste keine Rolle
gespielt. Man kann sagen, was
man will – der CDU-Mann erweist
sich immer wieder als besonders
wendiges Wesen. oer
ISSN 0323-3375
70. Jahrgang/Nr. 45
Bundesausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
Kein Ende der Fahnenstange
Hendricks will
Atommüll verteilen
Athen hat gute Aussichten auf Verlängerung des Hilfsprogramms der Euro-Länder
Ministerin kritisiert Weigerung der
Bundesländer zu Castor-Lagerung
Windige Zeiten: Flaggen vor der griechischen Botschaft in Brüssel
Berlin. Mit dem Kampf gegen Steuerbetrug
und Korruption will die griechische Regierung die Euro-Partner von ihrem Reformwillen überzeugen. Diese Maßnahmen sind nach
Informationen der Deutschen Presse-Agentur
Teil der Vorschläge, die Regierungschef Alexis Tsipras den Geldgebern vorlegen will. Eine erste vorläufige Reformliste hatte die Athener Koalition nach Angaben griechischer Medien bereits am Sonntag an EU-Kommission,
Europäische Zentralbank und Internationalen
Währungsfonds zur Vorabsprache verschickt.
Die eigentliche Übersicht soll gemäß der Einigung von Freitagabend mit der Eurogruppe
Foto: Reuters/Yves Herman
an diesem Montag eingehen. Stimmen die drei
Institutionen den Reformvorschlägen zu, will
die Eurogruppe am Dienstag in einer Telefonkonferenz beraten. Bei Billigung sollen die
nationalen Parlamente einiger Euro-Länder –
darunter der Bundestag – darüber abstimmen, ob das Ende Februar auslaufende Hilfsprogramm um weitere vier Monate verlängert
wird.
Bedingung der Euro-Partner ist es, dass das
aktuelle Rettungsprogramm erfolgreich beendet wird. Erst bei Abschluss können etwa
die auf Eis liegende Kredittranche von 1,8 Milliarden Euro sowie zugesagte Zinsgewinne der
EZB aus griechischen Anleihen von 1,9 Milliarden Euro fließen. Grundlage seien die Vorgaben der aktuellen Hilfsvereinbarungen, wobei weitgehende Flexibilität möglich sei, hieß
es. Griechenland sagte zu, keine vereinbarten
Reformmaßnahmen zurückzunehmen und die
Forderungen aller Gläubiger zu erfüllen.
Regierungschef Alexis Tsipras hatte am
Samstag in einer Fernsehansprache erklärt, es
müsse noch vieles getan werden, damit das
Land aus der Krise herauskomme. Den Griechen stünden schwierige Zeiten bevor: »Wir
haben eine Schlacht, aber nicht den Krieg gewonnen.« Agenturen/nd Seiten 2, 3, 7 und 9
Einigung auf Abzug schwerer Waffen
Schritte zum Abbau der Konfrontation in Ostukraine / Brandreden in Kiew zum Maidan-Jahrestag
Ein Gefangenenaustausch und
ein geplanter Waffenabzug wecken – im Widerspruch zu den
Reden der Politiker in Kiew –
Hoffnungen auf Entspannung in
der Ostukraine.
Von Roland Etzel
Die Nachrichten aus den ukrainische Kriegsgebieten vom Wochenende sind positiv: Die Regierung in Kiew und die Separatisten
im Osten des Landes haben sich
schriftlich darauf verständigt, mit
dem Abzug schwerer Waffen von
der Front zu beginnen. »Die Dokumente zum Beginn des Abzugs
schwerer Waffen von der gesamten Frontlinie wurden unterzeichnet«, teilte Olexander Rosmasnin, General der ukrainischen
Truppen, am Sonntag laut AFP mit.
Die Separatisten bestätigten die
Angaben über ihre Nachrichtenagentur. Ein Kiewer Fernsehsender meldete, es könne noch am
Sonntag damit begonnen werden.
Auch wenn trotz vereinbarter
Waffenruhe offenbar immer wieder geschossen wird, bedeutet
dies, dass das vor elf Tagen in
Minsk ausgehandelte Abkommen
keineswegs so tot ist, wie es seine
Gegner in Kiew, den USA und teilweise auch in Westeuropa darstellen. Es zeigt auch, dass es auf
beiden Seiten Milizenführer gibt,
die ihrem jeweiligen Oberkommando nur bedingt folgen.
Erfolgreich umgesetzt wurde
am Samstag ein im Ergebnis von
Minsk vereinbarter Gefangenenaustausch beider Seiten an der
Frontlinie: 139 ukrainische Regierungssoldaten und 52 Bewaffnete aus Donezk/Lugansk durften
nach Hause gehen.
Nicht unbedingt vom Geiste des
Ausgleichs geprägt waren die Festivitäten, die das ganze Wochenende über von der Kiewer Führung veranstaltet wurden. Man
gedachte auf dem Kiewer Maidan
der fast 100 Toten, die bei den Besetzungen und Krawallen gestor-
ben waren, als der gewählte Präsident Viktor Janukowitsch vor einem Jahr aus dem Amt gejagt wurde. Präsident Petro Poroschenko
nannte sie die »himmlischen Hun-
»Es sind Menschen,
die unseren Werten
vertrauen.«
Bundespräsident Joachim
Gauck in Kiew
dert«. Er behauptete, der Berater
des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Wladislaw Surkow,
habe damals den Einsatz von Heckenschützen organisiert.
Auch Janukowitschs Verteidiger hatten Opfer zu beklagen, die
aber in Kiew keiner Erwähnung
wert waren. Um so mehr in Moskau. Dort waren am Samstag
Zehntausende Menschen gegen
den Machtwechsel in der Ukraine
vor einem Jahr auf die Straße gegangen. Viele schwenkten russische Flaggen und trugen das orange-schwarze Sankt-Georgs-Band
der Nationalisten, das auch die Separatisten in der Ostukraine als
Symbol nutzen.
Für den Sonntag hatte die Kiewer Führung zu einem »Marsch
der Würde« aufgerufen; dabei
Bundespräsident Joachim Gauck,
Polens Präsident Bronislaw Komorowski, der EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk und weitere
Staatsgäste. Gauck sagte vor Journalisten, die Menschen seien »aus
Stolz und Demut und Trauer« zusammengekommen. Es seien
Menschen, »die nach Europa wollen« und »die unseren Werten vertrauen«.
Bei einem Anschlag auf einen
weiteren Gedenkmarsch in der ukrainischen Stadt Charkow sind am
Sonntag zwei Menschen getötet
und ein Dutzend weitere verletzt
worden. mit AFP
Berlin. Da sich unter den Bundesländern nicht
genug Freiwillige für die Zurücknahme von
Atommüll aus dem Ausland finden, will Bundesumweltministerin Barbara Hendricks
(SPD) die Castoren nun bundesweit unterbringen. Sie beabsichtige, die Behälter »auf
verschiedene Standorte in einem bundesweit
ausgewogenen Verhältnis« zu verteilen, erklärte Hendricks im »Tagesspiegel«. Sie habe
ihre Mitarbeiter angewiesen, ein entsprechendes Konzept zu erarbeiten, fügte Hendricks hinzu. Sollte dies »nicht akzeptiert
werden, liegt es allein bei den Unternehmen,
ihrerseits zu erklären, wohin sie mit den Castoren in Deutschland wollen«.
Bei den Castoren geht es um 21 Behälter
mit deutschem Atommüll, die ab 2017 aus
der britischen Wiederaufbereitungsanlage
Sellafield zurückgebracht werden sollen.
Schleswig-Holstein hat die Aufnahme eines
Teils der Behälter angeboten, besteht aber auf
der Beteiligung auch weiterer Länder. Baden-Württemberg will fünf weitere Castoren
zwischenlagern, die 2015 aus der französischen Atomanlage La Hague kommen.
Die Ministerin warf vor allem Hessen und
Bayern vor, sich »vornehm« zurückzuhalten.
Dies sei wenig einsichtig. »Schließlich gehörten sie jahrzehntelang zu den Hauptbefürwortern der Atomkraft und zu wesentlichen Verursachern des Mülls«, so Hendricks.
Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg schlugen sich auf die Seite der SPD-Politikerin. »Frau Hendricks' Schritt ist konsequent und richtig«, sagte der Kieler Umweltminister Robert Habeck (Grüne). Sein Stuttgarter Kollege Franz Untersteller (ebenfalls
Grüne) ergänzte: »Es ist ein Treppenwitz der
Geschichte, dass sich Bundesländer, die jahrzehntelang die Atomkraft unterstützt haben,
einfach wegducken, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen.« Agenturen/nd
CETA: Gabriel für
»rote Linien«
SPD-Kompromisspapier zu
Freihandelsabkommen EU – Kanada
Berlin. Bundeswirtschaftsminister Sigmar
Gabriel (SPD) hat zusammen mit sozialdemokratischen EU-Amtskollegen einen Kompromiss für das Freihandelsabkommen mit
Kanada (CETA) vorgeschlagen. Demnach soll
es rote Linien für den umstrittenen Investitionsschutz vor privaten Schiedsgerichten geben, an dem – auch in Gabriels eigener Partei – immer wieder scharfe Kritik geübt wurde. Stattdessen wird in dem Beschlusspapier
die Einrichtung eines Handels- und Investitionsgerichtshofes vorgeschlagen. Außerdem
soll die Änderung von Gesetzen, auch wenn
dies die Gewinnmargen deutlich senkt, keinen Klagegrund mehr darstellen. Zudem ist
eine Berufungsoption geplant, wenn Investoren in solchen Verfahren Recht bekommen. Und Investoren müssen sich entscheiden, ob sie vor einem nationalen Gericht klagen oder vor einem Schiedsgericht.
CETA gilt als Blaupause auch für das angestrebte Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA. Bis zum kommenden Jahr sollen die nationalen Parlamente über CETA abstimmen.
Unterdessen wirft Foodwatch der Bundesregierung vor, TTIP schönzureden. »Das
Versprechen, unsere Standards bleiben erhalten, erweckt den falschen Eindruck«, erklärte der stellvertretende Geschäftsführer
der Verbraucherschutzorganisation, Matthias Wolfschmidt. »Sowohl in der EU als auch
in den USA sind viele geltende Standards
schlecht, zum Beispiel in der Landwirtschaft.« Auch Wolfschmidt hält die Schiedsgerichte für problematisch. »Geheime Verhandlungen vor privaten Richtern, keine Berufungsmöglichkeit – es besteht keinerlei
Notwendigkeit, eine solche Paralleljustiz neben einer funktionierenden, staatlichen Gerichtsbarkeit zu installieren.« dpa/nd