Die unabhängige Zeitung für Baden-Württemberg 1,70 € Montag, 23. Februar 2015 Foto: dpa Montage: Stecker Nr. 44 | 9. Woche | 71. Jahrgang | E 4029 Dem Ungeist die Stirn bieten Bootsflüchtlinge Antisemitismus Europa muss den Juden eine Heimat bieten. Sie sind Teil seiner Geschichte. Von Armin Käfer Das Geschäft der Schleuser A Auf dem Weg von Syrien nach Europa ist die türkische Hafenstadt Mersin häufig Zwischenstation: ein Menschenhändler erzählt. SEITE 3 Tagesthema Entdecken Sport Das Land der Alten: Japan hat viele Senioren, aber zu wenig Kinder SEITE 2 Wenn der Magen verrückt spielt: neue Therapien gegen Sodbrennen SEITE 14 Huub Stevens in Not – beim VfB läuft die nächste Trainerdiskussion SEITE 21 Athen sagt Kampf gegen Korruption zu Mit dem Kampf gegen Steuerbetrug und Korruption will die griechische Regierung die Europartner von ihrem Reformwillen überzeugen. Die Maßnahmen sind nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur Teil der Vorschläge, die Regierungschef Alexis Tsipras den Geldgebern vorlegen will. Eine erste vorläufige Reformliste soll das Athener Links-rechts-Bündnis nach Angaben griechischer Medien bereits am Sonntag an die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank und den Internationalen Währungsfonds zur Vorabsprache geschickt haben. Die eigentliche Übersicht soll gemäß der Einigung mit der Eurogruppe an diesem Montag eingehen. Stimmen die drei „Institutionen“ den groben Reformvorschlägen zu, will die Eurogruppe am Dienstag beraten. Der griechische Finanzminister Gianis Varoufakis gab sich überzeugt, dass die Geldgeber die Vorschläge akzeptieren werden. Ob ein drittes Hilfspaket nötig wird, zeigt sich spätestens Ende Juni. dpa – Kommentar: Reformen einmal anders SEITE 3 – Zugeständnisse in der Wortwahl SEITE 4 Schutz gegen Hacker Kein Fall für die klassische Betriebshaftpflicht: Schäden durch Internetkriminalität können Unternehmen schnell Millionenbeträge kosten. Deshalb wächst jetzt auch in Deutschland der Markt für Cyberversicherungen. SEITE 7 Mitsprache vereinbart Stuttgarts OB Fritz Kuhn hat sich mit der Landesregierung über wichtige Eckpunkte für die geplante Gedenkstätte Hotel Silber geeinigt – unter anderem auf die Größe der Ausstellungsfläche. Zudem dürfen die Bürgerinitiativen mitbestimmen. SEITE 17 Historischer Triumph Es ist ein Triumph von historischer Dimension: Nach 28 Jahren haben die nordischen Kombinierer wieder WM-Gold gewonnen – mit dem Team um Einzelweltmeister Johannes Rydzek. Auch die deutschen Skispringer gewinnen Gold im Mix. SEITE 27 Wetter SEITE 6 Montag 5°/1° Dienstag 7°/2° Mittwoch 5°/0° Ausführliches Inhaltsverzeichnis SEITE 2 16009 4 190402 901701 Gewalt überschattet Gedenken in Kiew Tausende erinnern an die Opfer der Maidan-Eskalation. In Charkow gibt es Tote bei einem Bombenattentat. Von Nina Jeglinski Ukraine ls der „Marsch der Würde“ in Kiew mit Präsident Petro Poroschenko und seinen Gästen, unter anderen Bundespräsident Joachim Gauck, gerade das Parlamentsgebäude im Regierungsviertel passierte, ist im 500 Kilometer entfernten Charkow bei einer Kundgebung regierungstreuer Kräfte eine Bombe explodiert. Mindestens zwei Menschen wurden durch den mit Nägeln gefüllten Sprengsatz getötet, zehn verletzt. Das ukrainische Innenministerium sprach von einem Terroranschlag und kündigte eine „schnelle und gründliche Aufklärung“ an. Zeitgleich hatten in Kiew und Charkow die Menschen zu Tausenden mit Gedenkmärschen an die Opfer der Maidan-Proteste vor einem Jahr erinnert. In der ukrainischen Hauptstadt hatten sich am Sonntagmittag 12 000 Menschen versammelt, um an den Orten vorbeizuziehen, die im vergangenen Winter Schauplatz der Ereignisse waren, an deren Ende die Flucht des damaligen prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch und seiner Regierung stand. Der Marsch in Kiew verlief ohne Zwischenfälle. Viele Teilnehmer schwenkten die ukrainische Nationalflagge, einige trugen Plakate mit der Aufschrift „Wir sind Europa“. Poroschenko hatte in zahlreichen Gesprächen, die er seit dem frühen Sonntagmorgen mit den angereisten Staats- und Regierungschefs führte, stets betont: „Die Ukraine wird sich von ihrem Kurs Richtung Europa durch niemanden abbringen lassen.“ Auch die frühere Ministerpräsidentin A Julia Timoschenko, die heute vor einem Jahr aufgrund eines Parlamentsbeschlusses aus der Haft in Charkow freigelassen wurde, ist dieser Meinung: „Vor einem Jahr haben wir unseren Marsch in die Eigenständigkeit begonnen, wir alle wollen frei sein“, sagte sie der Stuttgarter Zeitung. Gauck hakte sich bei der Kundgebung demonstrativ bei Poroschenko ein. Er hatte erklärt, mit dem Besuch in Kiew wolle er „ein Zeichen der Solidarität mit der ukrainischen Demokratiebewegung setzen“. Regierungseinheiten und prorussische Aufständische im umkämpften Osten des Landes einigten sich unterdessen schriftlich auf den Abzug schwerer Waffen. „Alle haben zugestimmt und bekräftigt, dass die zweiwöchige Frist ab dem 22. Februar laufen soll“, sagte Separatistensprecher Eduard Bassurin. Der Abzug ist Teil eines Friedensabkommen, das die Konfliktparteien vergangene Woche in Minsk geschlossen hatten. Bereits am Samstag hatten beide Seiten mit dem Austausch von 200 Gefangenen vorsichtige Hoffnungen auf eine leichte Entspannung der Lage geweckt. Die Fraktionschefin der Grünen im EUParlament, Rebecca Harms, hat die vergangenen Tage in der Ostukraine verbracht. „Um einen Waffenstillstand dauerhaft umzusetzen, braucht es UN-Blauhelmtruppen“, sagte sie der StZ. Die von Poroschenko ins Gespräch gebrachte EU-Polizeitruppe reiche nicht aus. Die Debatte über UNTruppen müsse nun „ernsthaft beginnen“. – Kommentar: Langer Prozess SEITE 3 Syrien empört über türkischen Einsatz Nach monatelanger Belagerung durch die Terrormiliz Islamischer Staat haben türkische Soldaten Dutzende Wachsoldaten eines osmanischen Grabes aus Syrien in Sicherheit gebracht. Das Grab wurde geräumt, das Mausoleum zerstört. Der Einsatz sei erfolgreich verlaufen, teilte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu mit. Laut türkischen Streitkräften kam dabei aber ein Soldat bei einem Unfall ums Leben. Die Regierung in Damaskus verurteilte den Einsatz als eine „offenkundige Aggression“. Ihr Konsulat in Istanbul sei über die Operation informiert worden, die türkische Regierung habe aber nicht auf das Einverständnis gewartet. dpa – Türkei zieht Soldaten aus Syrien ab SEITE 5 Mohr Vorlage zur Prüfung Muslime protestieren gegen Mega-Moschee er Streit über den Bau der neuen Moschee soll – so die Idee – alle anderen islamischen Holland Der geplante schee in der Käsestadt Gouda, welche die Gotteshäuser in der Stadt ersetzen. Auch viele anGroßbau in Gouda ruft größte der Niederlande werden soll, dere Einwohner von Gouda lehnen das Mammutviele Gegner auf den nimmt immer kuriosere Formen an. Jetzt maprojekt ab mit der Begründung, man wolle nicht Plan. Von Helmut Hetzel chen sogar Muslime selbst dagegen mobil. Der zum „Mekka der Niederlande“ werden. Grund: sie werden von ihren Glaubensbrüdern, Viel Wirbel gibt es um das Vorhaben schon seit die im Vorstand für die Moschee namens „El-Wahda“ (Die Ein- Wochen. Denn gebaut werden soll auf dem Gelände einer eheheit) sind, erpresst. Die Muslime von Gouda sollen pro Familie maligen Kaserne – aber nicht nur die Moschee soll dort entste„freiwillig“ 1500 Euro für den Neubau spenden. Andernfalls hen, sondern auch eine Schule und ein Kindergarten. Dagegen dürften sie das neue islamische Gotteshaus fünf Jahre lang nicht protestierte der Moschee-Vorstand, weil dort Lehrerinnen und besuchen. „Sie drohen uns auch noch mit anderen Strafen“, sagt Erzieherinnen arbeiten würden; der Anblick von Frauen aber Mohamed Massoudi: „Zum Beispiel damit, dass man uns im To- könne die männlichen Muslime von ihrem Freitagsgebet ablendesfall die rituelle Leichenwaschung vorenthalten wird.“ ken. Doch der Stadtrat von Gouda ließ sich von seinem BebauMassoudi hat sich mit 350 weiteren Muslimen zu einer Anti- ungsplan nicht abbringen. Damit die männlichen Muslime bei Moschee-Gruppe zusammengeschlossen. Unter ihnen sind vie- ihren Gebeten durch den möglichen Anblick von Frauen in der le liberal eingestellte Gläubige. Sie befürchten, dass in dem neu- unmittelbaren Nachbarschaft der Moschee nicht gestört weren Bau radikale islamische Kräfte wie etwa Salafisten das Sagen den, haben die Räte jetzt allerdings beschlossen, dass zwischen haben könnten und regelmäßig radikale Prediger zu den Frei- der Moschee, der Schule und dem Kindergarten eine riesige tagsgebeten eingeladen würden. Sie wollen lieber ihre bisheri- Mauer hochgezogen wird. Auf diese Weise soll sichergestellt gen kleinen Gebäude behalten. Doch die geplante Großmo- sein, dass kein weibliches Wesen von der Andacht ablenkt. D www.stuttgarter-zeitung.de // Oscars Bilder von der Hollywood-Show // Reisen usgerechnet in der deutschen Hauptstadt ist der Titel „jüdisches Berlin“ offenbar immer noch ein Reizwort. Deshalb verschickt die Jüdische Gemeinde ihr gleichnamiges Journal jetzt in einem Schutzumschlag. Sie wolle somit „die Wahrscheinlichkeit von Anschlägen reduzieren“, heißt es. Der Alltag der Juden in Deutschland, so ein Mitglied des Gemeindeparlaments, sei „sehr von Ängsten geprägt“. Manche halten es für klüger, bei Spaziergängen in der Stadt auf die Kippa zu verzichten, um nicht auf offener Straße angepöbelt oder gar verprügelt zu werden. Solche Zustände sind blamabel für unser Land, 70 Jahre nach dem Holocaust. Sie zeugen von der Allgegenwart antisemitischer Reflexe – und diese von der Unausrottbarkeit historischer Dummheit. Die Verhältnisse in Berlin fügen sich in ein hässliches Bild von Europa: Für Juden ist das Leben hier eine prekäre Normalität – ein Leben in Unsicherheit, das penetranten Anfeindungen ausgesetzt ist. Diese gipfelten jüngst in dem Mord an einem Wachmann vor der Synagoge von Kopenhagen, dem Anschlag auf einen koscheren Supermarkt in Paris und der Schändung eines jüdischen Friedhofs im Elsass. Neben spektakulären Terrorakten gibt es auch einen ganz gewöhnlichen Terror. Jeder vierte Jude in Deutschland wird mindestens einmal im Jahr wegen seiner Religionszugehörigkeit beleidigt. In Frankreich richten sich rassistische Übergriffe überwiegend gegen Juden – obwohl diese nur ein Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die antijüdische Aggression wurzelt in alten Vorurteilen. Der Sumpf braunen Gedankenguts ist in Deutschland keineswegs ausgetrocknet. Auch andernorts sind viel zu viele anfällig für judenfeindliche Ressentiments. Der tradierte Antisemitismus wird inzwischen überlagert von einem importierten Judenhass. Ihn pflegen die Sprösslinge muslimischer Einwanderer, die ihr Bekenntnis zum Islam mit kriegerischem Fanatismus verwechseln. Zudem müssen die Juden in Europa immer wieder als Sündenböcke für Kritik an der Politik des Staates Israel herhalten. Dabei sind sie für die Engstirnigkeit eines Benjamin Netanjahu so wenig verantwortlich wie friedliebende Muslime für die Gewalt, die weltweit im Namen Allahs verübt wird. Netanjahu hat seine Glaubensgenossen in Europa nun zum wiederholten Male aufgefordert, aus der feindlichen Diaspora nach Israel auszuwandern. Das sind fatale Lockrufe. Dabei mag unbeachtet bleiben, dass Juden auch in Israel Opfer von Terroranschlägen werden können. Das Leben dort bietet keineswegs mehr Sicherheit. Netanjahus Ratschlag ist ein Ausfluss zionistischen Denkens, das Israel als Zufluchtsort aller Juden propagiert. Angesichts der leidvollen Geschichte ist das nicht zu kritisieren. Doch das Judentum ist seit mehr als 1500 Jahren auch ein Teil Europas. Juden haben die Historie, Kultur und Literatur des Alten Kontinents entscheidend mitgeprägt. Ihr Exodus hat leider schon begonnen. Die Zahl der Juden, die etwa Frankreich verlassen, steigt stetig. Wenn Franzosen, Deutsche oder Dänen jüdischen Glaubens der Einladung Netanjahus in Scharen Folge leisten, wäre das jedoch nichts weniger als eine Kapitulation vor dem Ungeist der Antisemiten. Daran kann den Juden nicht gelegen sein – und Europa schon gar nicht. Das Schicksal der Juden wird zur Nagelprobe für Toleranz und Liberalität in Europa. Wurden diese Werte nicht hier erfunden? Juden waren an dieser zivilisatorischen Errungenschaft wesentlich beteiligt. Es ist schlimm genug, dass Synagogen heutzutage vor allem daran zu erkennen sind, dass sie von der Polizei bewacht werden. Wirklichen Schutz genießen sie allenfalls, wenn der zivilisierte Teil der Bevölkerung dem Hass die Stirn bietet. Antisemitismus kann sich nur dort entfalten, wo eine Mehrheit ihn stillschweigend duldet. mit Hund Tierisch gut unterwegs
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