Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Elif Shafak: Der Geruch des Paradieses
Roman
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Verlag Kein und Aber Zürich 2016
560 Seiten
25 Euro
Rezension von Claudia Kramatschek
Donnerstag, 02.02.2017 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Die Nachrichten aus der Türkei werden von Tag zu Tag bedrohlicher. Recep Erdogan
strebt offenbar allumfassende Macht an – wer Kritik übt, wird als Staatsfeind hinter Gitter
gesperrt, das gilt auch für viele namhafte türkische Schriftsteller*innen. Elif Shafak, in
Istanbul und London beheimatet, ist noch in Freiheit – vielleicht weil sie auf Englisch
schreibt. Soeben ist ihr aktueller Roman erschienen, „Der Geruch des Paradieses“. Er
handelt vom Glauben an Gott. Eine Buchkritik von Claudia Kramatschek.
Zugegeben: Auf den ersten Seiten des neuen Romans der türkischen Autorin Elif Shafak
ist man mehrmals geneigt, das umfangreiche Werk mit genervtem Kopfschütteln aus der
Hand zu legen. Zu dick aufgetragen, zu konstruiert und unglaubwürdig zugleich mutet
dieser Anfang an. Alles beginnt mit dem üblichen Verkehrschaos in Istanbul: Wir sind im
Jahr 2016 und Shafaks Protagonistin – eine 35-jährige Mutter, die von allen nur Peri
genannt wird – ist mit dem Auto unterwegs zu einer Dinnerparty in einer der unzähligen
Villen der Reichen und Schönen. Gerade eben steckt sie noch fest im Stau, da
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entwendet ihr eine dreiste kleine Diebin in einem Moment der Unachtsamkeit die
Handtasche. Womit die Diebin nicht rechnet: Peri zieht sich die hochhackigen Schuhe
aus, rennt los – und erinnert sich unversehens an das Jahr 2000, als sie zum Studium
nach Oxford kam, wo sie mit dem Laufen begann. Lange hat Peri ihre Zeit in Oxford zu
vergessen versucht. Der Überfall aber setzt ihre Erinnerungen frei. Diese Erinnerungen
stehen im Fokus des Romans. Der blendet fortan – präzise wie ein Uhrwerk – zwischen
den Zeiten hin und her: hier die Gegenwart im Istanbul des Jahres 2016, wo die Party
allmählich voranschreitet; dort Peris Jahre in Oxford – ergänzt um jene Zeit, als Peri noch
Kind war. Das macht Sinn. Denn im Mittelpunkt des Romans steht ein Dilemma, das
nicht allein Peri von Kindesbeinen an umtreibt, sondern ins Herz unser aller Gegenwart
vordringt. Der gesamte Roman kreist letztlich nämlich einzig um die Frage: Wie hältst du
es mit deinem Glauben? Wie hältst du es mit Gott? Was Peri anbelangt, so wird ihr
Leben bereits als Jugendliche zum Schlachtfeld rivalisierender Weltanschauungen in
punkto Glauben: Ihr Vater ist ein glühender Anhänger von Atatürk und bekennt sich
ausschließlich zu einer säkularen Ratio; die Mutter wiederum hat sich unlängst einem
radikalen Imam angeschlossen, der einen strengen Islam verficht; der eine Bruder wird
ultranationalistisch, der andere wegen kommunistischer Umtriebe ins Gefängnis
geworfen. Zu jener Zeit beginnt die junge Peri mit Gott zu hadern. Als sie 2000 auf
Betreiben ihres Vaters zum Studium nach Oxford kommt, findet sie in Professor Azur
ihren Herrn und Meister: Wegen seines gewagten Seminars zum Thema Gott gilt Azur
als Legende und Provokateur zugleich. Peri verliebt sich in Azur – und freundet sich nicht
zuletzt mit zwei Frauen an: Da ist die überbordende sinnliche Shirin, die sich lustig macht
über Peris Unentschiedenheit in Sachen Glaube – und da ist Mona, halb Amerikanerin,
halb Ägypterin, und eine überzeugte Kopftuchträgerin. Sünde, Glaube, Zweifel – und die
Suche nach einem Weg zwischen Sünde und Glaube, der nicht Apostasie wäre, sondern
ein Weg ins Offene, in dem der Glaube viele, ja alle Formen annehmen könnte: Das ist
die Frage, die auch Elif Shafak mit diesem Roman an sich, an ihre Heimat, an ihre Leser
stellt. Die Beschäftigung mit der Religion habe die Beschäftigung mit Gott abgelöst, heißt
es klarsichtig an einer Stelle des Romans. Tatsächlich sind viele Teile des Romans von
luzider Prägnanz. Die Frage von Identität wird ebenso gestreift wie die nach der Rolle der
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Frau. Vor allem kritisiert Shafak scharf die gegenwärtigen Verhältnisse in der Türkei, in
der es im Hinblick auf den Glauben ein immer stärkeres schwarz-weiß-Denken und
immer weniger religiöse Vielfalt gibt. Auch Peri muss am Ende erkennen: Wo die Liebe –
sei es die zu Gott, sei es die zu einem Menschen – zum Dogma wird, erschaffen wir
selbst die Götter, unter denen wir alsbald leiden. „Das Süße“ – Zitat – „wird sauer“. Auch
der Roman stößt stellenweise leider schwer auf: Elif Shafak – die mit Peri eindeutig ihr
alter ego erfunden hat – ist in ihrem Stil nicht frei von überbordender Üppigkeit und
ähnelt darin eher der fiktiven Shirin. Weniger wäre mehr gewesen, denkt man also immer
wieder. Dennoch sollte man „Der Geruch des Paradieses“ unbedingt lesen: Eingedenk
der aktuellen Angriffe auf das freie Wort in der Türkei ist der Roman knapp unterhalb
seines aufdringlichen Zuckergusses dann doch durchzogen von einer ätzenden Säure,
die aufklärerisch wirkt.
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