SWR2 DIE BUCHKRITIK

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Byung-Chul Han: Die Austreibung des Anderen
Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016
112 Seiten
20 Euro
Rezension von Philip Kovce
Donnerstag, 27. Oktober 2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Wenn es darum geht, wie wir uns selbst und unsere Gegenwart verstehen können, dann
ist der Philosoph Byung-Chul Han ein gefragter Zeitgenosse. Er legt regelmäßig Bücher
vor, welche die globalisierte Welt, die digitale Gesellschaft und die individuelle Existenz
reflektieren. Sein jüngstes Werk handelt von der Austreibung des anderen – vom Verlust
des Gegenübers in unserer selbstbezogenen Zeit. Philip Kovce hat es gelesen.
Wer behaupten wollte, dass wir uns in der heutigen Gesellschaft alle gleichen, der sähe
sich vor große Probleme gestellt. Lebensentwürfe, Berufswege, Partnerschaften – nie war
so Vieles so verschieden wie dieser Tage. Jeder unterscheidet sich inzwischen von seinen
Nachbarn, seinen Verwandten, seinen Freunden. Wir leben nicht mehr in der gleichen
Welt. Wir leben in einer Welt, die in Verschiedenheiten zerfällt.
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Der Philosoph Byung-Chul Han, der an der Universität der Künste in Berlin lehrt, bestreitet
die Unterschiedlichkeit der Welt nicht. Allerdings entdeckt er in der Art und Weise, wie wir
uns von anderen unterscheiden, eine ewige Wiederkunft des Gleichen. Von der
Austreibung des anderen handelt Hans jüngster zeitdiagnostischer Verdichtungsversuch –
davon, dass wir zwar als Ware mit anderen konkurrieren, uns aber als Wesen nicht mehr
von anderen differenzieren. Wir gleichen uns dadurch, dass wir uns warenförmig
unterscheiden.
Die Phänomene, die laut Han dieser Wesensgleichschaltung und also der Austreibung des
anderen zugrunde liegen, könnten alltäglicher nicht sein: Es geht um Selfies und
Smartphones, Flüchtlinge und Facebook, Burn-Out und Depression, um Filme Lars von
Triers und Skulpturen von Jeff Koons, aber auch um Terrorismus und
Selbstmordattentäter – es geht darum, wie wir uns selbst und andere inszenieren und
eliminieren. Bei aller Empörung, die in Hans kurzen, klaren Sätzen mitschwingt, bei aller
Anklage, die er erhebt, ist sein Urteil dennoch gerechtfertigt – denn stimmt es etwa nicht,
dass Smartphones nicht nur Nützlichkeitsversprechen, sondern auch Arbeitslager sind?
Dass sich selbst auflauernde Selfie-Paparazzi Ich und Du dort suchen, wo weder Ich noch
Du zu finden sind? Dass verzweifelte Selbstmordattentäter die konsequentesten
Interpreten der Aufmerksamkeitsökonomie sind?
Der Ton, den Han anschlägt, vereinfacht nicht, er verdichtet. Er bringt außerdem Obertöne
hervor, die das Verständnis öffnen und weiten. Entsprechend ist Hans Kritik nicht bloß
Gesellschaftskritik, sondern stets auch Selbstkritik – des Autors und der Leser. Wer
unversehrt durch das Buch blättern will, der darf sich nicht gemeint fühlen.
Gemeint darf sich bei Han allerdings jeder fühlen, auch dann, wenn dieser vom
Neoliberalismus redet: Denn der Neoliberalismus ist bei Han weniger ein gut ausgeheckter
Plan irgendwelcher böser Kapitalisten als ein trojanisches Pferd, das wir nicht nur selbst
gezimmert haben, sondern sogar bewohnen. Im Bauch des trojanischen Pferdes lauert
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unser unternehmerisches Selbst der eigenen Biografie auf – und lässt nur noch gelten,
was Geld bringt.
Dass diese Zeitdiagnose nicht nur ein empörter und anklagender, sondern ein atmender
Gedankengang ist, liegt schließlich daran, dass neben den Terror des Gleichen und die
Gewalt des Globalen Betrachtungen etwa über die Schwelle, den Blick, die Stimme und
das Zuhören treten, welche die Austreibung des anderen nicht bloß zusammenfassen,
sondern rückabzuwickeln helfen. Wenn Han vom Zuhören spricht, das dem Sprechen
vorausgeht, ja Voraussetzung für die Sprache des anderen ist, wenn er im Blick das
Sehen und Gesehen-Werden des Menschen offenlegt oder der Schwelle im Unterschied
zu Grenze und Grenzenlosigkeit, Abstand und Abstandslosigkeit eine Nähe und Ferne
bescheinigt, die erst Lebendigkeit verbürgen, dann ist man längst dabei, der Austreibung
des anderen entgegenzuwirken.
Was ist das Neue an Hans Buch? Dass wir auf andere angewiesen sind, ist nichts Neues.
Doch dass der andere weit mehr ist als bloß eine bestimme Variable meiner
Bedürfnisformel, dass ich wesentlich durch andere und dank anderer existiere, dass ich
mich selbst nicht im eigenen Spiegel, sondern angesichts des anderen erkenne, diese
ewig-aktuelle Einsicht ringt Han der selbstbezogenen Gegenwart ab, indem er den
anderen als Geheimnis und Wahrheit, Freund und Feind, Himmel und Hölle beschreibt.
Han stimmt uns auf ein Schwellenleben angesichts des anderen ein, den auszutreiben
nichts anderes als ein Akt der Selbstzerstörung ist.
Wer sich mit Byung-Chul Han dem anderen wieder annähern will, der tut dies, indem er
Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute
liest.
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