SWR2 DIE BUCHKRITIK

SWR2 MANUSKRIPT
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SWR2 DIE BUCHKRITIK
Rafel Chirbes: Paris-Austerlitz
Roman
aus dem Spanischen übertragen von Dagmar Ploetz.
Verlag Kunstmann München
160 Seiten
20 Euro
Rezension von Widmar Puhl
Freitag, 21. Oktober 2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Im August 2015 starb der spanische Romancier Rafael Chirbes im Alter von 66 Jahren.
Ein Jahr später ist aus seinem Nachlass der Roman „Paris-Austerlitz“ erschienen – eine
Überraschung. Er handelt von einem homosexuellen Liebespaar in Paris. Bisher war das
große Thema des virtuosen Erzählers die Spaltung der Gesellschaft seit dem spanischen
Bürgerkrieg. Chirbes durch seine Romane zur Stimme der Vergangenheitsbewältigung
geworden. Nun geht es ausschließlich um die Liebe.
Eine Buchkritik von Widmar Puhl.
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Austerlitz heißt der Bahnhof in Paris, wo alle Züge von und nach Madrid ankommen und
abfahren. Hier landet in dem Roman „Paris-Austerlitz“ von Rafael Chirbes der namenlose
Ich-Erzähler, ein junger Maler ist auf der Flucht vor seinen neureichen Eltern. Bis auf ein
paar Mal-Utensilien und Klamotten hat er nichts – keinen Job, kein Geld. Da lernt er
Michel kennen und verliebt sich in die unbekümmerte Vitalität des kettenrauchenden
Arbeiters Mitte Fünfzig. Michel nimmt ihn auf, in seine Wohnung, sein Leben, sein Bett.
Erst sind sie nur glücklich und genießen gemeinsame Streifzüge durch die Kinos, Bars,
Parks und Galerien von Paris. Doch irgendwann will der junge Mann wieder malen.
Er söhnt sich oberflächlich mit seinen Eltern in Madrid aus und kommt abgesichert nach
Paris zurück. Mit einem monatlichen Scheck aus Papas Mieteinnahmen nimmt er sich
neben der ärmlichen Bude von Michel eine Zweizimmerwohnung mit mehr Platz und Licht
als Atelier. Er findet einen Job als Illustrator, malt viel, bereitet sogar eine Ausstellung vor.
Während er an seiner Unabhängigkeit arbeitet, bricht bei Michel Lungenkrebs aus. Auch
der Alters-, Bildungs- und Klassenunterschied wird immer spürbarer. Dagegen kommt
keine Liebe an – nicht, wenn sie so besitzergreifend ist wie bei Michel. Wie häufig in
solchen Situationen setzt ein endloser Beziehungsstress ein, mit immer neuen Rückzügen
und Annäherungen.
Es ist ein Kampf um die Liebe und gegen Abhängigkeiten, ein Kampf, der durch Himmel
und Hölle führt, reich an Tränen, Kummer, Wutausbrüchen und Verzweiflung. Es gibt
wilden Versöhnungssex und körperlichen Widerwillen aus Überdruss, es gibt Eifersucht,
Notlügen und gegenseitige Überforderung.
In diesem Roman, der aus dem Nachlass von Rafael Chirbes stammt, schließt sich in
zweifacher Hinsicht ein Kreis. Erstens kehrt der spanische Autor, der im August 2015
starb, zum Thema Liebe und Sexualität zurück, das er schon mit seinem Erstling „Mimoun“
bearbeitet hatte. Auch in diesem Roman ging es um Männerliebe, wenn auch nicht so
ausschließlich wie in „Paris-Austerlitz“. Zweitens hat diese Geschichte wie „Mimoun“ einen
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zentralen Ich-Erzähler – und ist nicht mehr vielstimmig wie seine Romane über die FrancoDiktatur und deren Spätfolgen.
„Paris-Austerlitz“ ist ein Kammerstück von 160 Seiten mit zwei sehr dominanten
Hauptfiguren und einigen wenigen Trabanten, die das ungleiche Zweigestirn in großer
Entfernung umkreisen: Da sind zum einen die fernen, lieblosen Väter der beiden. Auch ein
gemeinsamer, heterosexueller Freund tritt auf und wird in den letzten Monaten Michels
wichtigster Vertrauter, geht aber zum Ich-Erzähler auf Distanz. Ein Kunstagent taucht auf
und wieder ab. Er verkauft viele Bilder auf eigene Rechnung und lässt die geplante
Ausstellung platzen. Diese Männer sind wenig sympathisch.
Nicht besser kommen auch die Frauen weg. Die Mutter des jungen Malers besucht ihn
einmal, kauft ihm teure Sachen, akzeptiert jedoch seine Beziehung nicht. Trotzdem ist sie
beleidigt, dass ihr Junge ihr seinen Michel nicht vorstellt. Eine gemeinsame Freundin wirft
dem Maler vor, er habe Michel nur ausgenutzt und wisse gar nicht, was Liebe sei.
Tatsächlich kommt ihm die Liebe schleichend abhanden, obwohl er sich redlich mit
nachlassender Kraft darum bemüht.
Aber auch die Liebe erweist sich als fragil, kompliziert und widersprüchlich. Dieses Buch
ist eine atmosphärisch dichte, sprachlich wuchtige Suche nach der oft berufenen großen
Liebe: Chirbes beschreibt sie zum Teil drastisch als Prozess voller Innigkeit und
Körperlichkeit, Anziehung und Abstoßung.
Der Aufbau mit Rückblenden vom Ende her und der Stil sind virtuos, die detaillierten SexSzenen mögen manche Leser schockieren, wirken aber sehr realistisch. Vor allem die
Psychologie einer exemplarischen schwulen Beziehung ist einfach brillant.
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