Kap. 44

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44
Differentialgleichungen mit getrennten Variablen
Lösungsbegriff für explizite Differentialgleichungen erster Ordnung:
44.1 Definition. Es seien D ⊆ R × K offen und f ∈ C(D, K) . Für ein Intervall
I0 ⊆ R heißt eine differenzierbare Funktion ϕ : I0 7→ K Lösung der Differentialgleichung
ẋ = f (t, x) ,
(1)
wenn Γ(ϕ) ⊆ D ist und ϕ̇(t) = f (t, ϕ(t)) für alle t ∈ I0 gilt.
44.2 Bemerkungen. a) Eine Lösung ϕ : I0 7→ K von (1) liegt automatisch in
C 1 (I, K) .
b) Im Fall K = R kann f geometrisch als Richtungsfeld interpretiert werden, das
jedem Punkt (t, x) ∈ D die Gerade durch (t, x) mit Steigung f (t, x) zuordnet. Die
Tangenten an den Graphen einer Lösung von (1) stimmen dann in jedem Punkt mit
diesen vorgegebenen Geraden überein.
44.3 Bemerkungen. a) Es seien I, J ⊆ R Intervalle, f ∈ C(I, R) und g ∈ C(J, R) .
Das Problem
ẋ = f (t) g(x)
(2)
wird als Differentialgleichung mit getrennten Variablen bezeichnet. Ist x0 ∈ J und
g(x0 ) = 0 , so ist offenbar ϕ(t) = x0 eine (stationäre) Lösung von (2). Zu t0 ∈ I
kann es aber auch andere Lösungen mit x(t0 ) = x0 geben, vgl. Beispiel (9) und die
Bemerkungen 45.2.
b) Nun sei g(x) 6= 0 für alle x ∈ J . Man schreibt (2) symbolisch als
dx
= f (t) dt
g(x)
(3)
und erhält als Lösung“
”
Z
Z
dx
=
f (t) dt .
g(x)
(4)
Mit Stammfunktionen G ∈ C 1 (J) von
ϕ ∈ C 1 (I0 ) von (2) also
G(ϕ(t)) = F (t) + C
1
g
und F ∈ C 1 (I) von f gilt für eine Lösung
für ein C ∈ R ,
(5)
woraus man ϕ im Prinzip berechnen kann.
44.4 Satz. Es seien I, J ⊆ R offene Intervalle, f ∈ C(I) , g ∈ C(J) und g(x) 6= 0
für alle x ∈ J . Zu t0 ∈ I und x0 ∈ J gibt es dann ein offenes Intervall I0 ⊆ I mit
t0 ∈ I0 , so daß das Anfangswertproblem
ẋ = f (t) g(x) ,
x(t0 ) = x0
genau eine Lösung ϕ ∈ C 1 (I0 ) hat. Mit G(x) :=
diese gegeben durch
ϕ(t) = G−1 (F (t)) ,
t ∈ I0 .
(6)
Rx
dξ
x0 g(ξ)
und F (t) :=
Rt
t0
f (τ ) dτ ist
(7)
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VI. Gewöhnliche Differentialgleichungen
44.5 Beispiel. a) Auf I × J := R × (0, ∞) sei
ẋ = − xt
(8)
gegeben. Aus x dx = −t dt folgt mit t0 q= 0 und x0 > 0 sofort
2
1
(x2 − x20 ) = − t2 , also x2 = x20 − t2 , ϕ(t) = x = x20 − t2 auf I0 := (−x0 , x0 ) .
2
b) Das Existenzintervall I0 der Lösung hängt also von dem Anfangswert x0 ab.
44.6 Beispiel. a) Die Differentialgleichung
ẋ =
q
|x|
(9)
besitzt die stationäre Lösung x = 0 . Wegen √dxx = dt für x > 0 sind Lösungen von
√
(9) über R × (0, ∞) gegeben durch 2 x = t + C (> 0 !) oder
)2 ,
ϕ(t) = ( t+C
2
t ∈ IC := (−C, ∞) .
Entsprechend sind Lösungen von (9) über R × (−∞, 0)
ϕ(t) = −( C−t
)2 , t ∈ (−∞, C) .
2
gegeben durch
b) Für a ≤ b erhält man auf ganz R definierte Lösungen von (9) durch




)2 , t > b
( t−b
2
ϕa,b (t) =
0 , a≤t≤b .


 −( a−t )2 , t < a
2
(10)
Für Anfangswertprobleme
ẋ =
q
|x|,
x(0) = x0
(11)
hat dies folgende Konsequenzen: Im Fall x0 6= 0 ist (11) nach Satz 44.4 nahe (0, x0 )
eindeutig lösbar, doch kann sich die Lösung an der Stelle ϕ(t) = 0 verzweigen. Im
Fall x0 = 0 hat (11) in jeder Umgebung von (0, 0) etwa die Lösungen 0 und ϕ0,0 ,
ist also selbst lokal nicht eindeutig lösbar.
44.7 Beispiel. a) Für die Differentialgleichung
ẋ = ex sin t
(12)
besitzt wegen ex > 0 jedes Anfangswertproblem eine eindeutige Lösung über einem
geeigneten Intervall I0 . Wegen e−x dx = sin t dt sind Lösungen von (12) gegeben
durch e−x = cos t + C (> 0 !) . Mit der Anfangsbedingung x(0) = x0 wird C =
e−x0 − 1 und somit
ϕ(t) = − log (cos t + e−x0 − 1) ,
t ∈ I0 = I0 (x0 ) .
(13)
b) Existenzintervall und Struktur der Lösung hängen sehr stark von dem Anfangswert x0 ab: Für e−x0 −1 > 1 , also x0 < − log 2 , existiert ϕ auf ganz R und ist dort
C ∞ und 2π -periodisch; für x0 = log 2 existiert ϕ nur auf (−π, π) und ist dort unbeschränkt, und für x0 > − log 2 existiert ϕ(t) nur für | t | < arccos (1 − e−x0 ) (→ 0
für x0 → ∞ ).
44 Differentialgleichungen mit getrennten Variablen
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44.8 Transformationen. a) Die Differentialgleichung
ẋ = f (at + bx + c)
(14)
wird mittels u(t) := at + bx(t) + c transformiert in
u̇ = a + b f (u) .
(15)
Beispiel: Für die Gleichung
ẋ = (t + x)2
du
setzen wir also u = t + x und erhalten u̇ = 1 + u2 , also 1+u
2 = dt , somit
arctan u = t + C , u = tan(t + C) und schließlich x(t) = tan(t + C) − t .
b) Die Differentialgleichung
ẋ = f ( xt )
wird mittels u(t) :=
u̇ =
1
t
(16)
x(t)
t
transformiert in
(f (u) − u) .
(17)
Im Beispiel
ẋ = 1 +
x
t
+
x2
t2
.
du
dt
erhalten wir u̇ = 1t (1 + u2 ) , also 1+u
2 = t , somit arctan u = log t + C , dann
u = tan(log t + C) und schließlich x(t) = t tan(log t + C) .