187 44 Differentialgleichungen mit getrennten Variablen Lösungsbegriff für explizite Differentialgleichungen erster Ordnung: 44.1 Definition. Es seien D ⊆ R × K offen und f ∈ C(D, K) . Für ein Intervall I0 ⊆ R heißt eine differenzierbare Funktion ϕ : I0 7→ K Lösung der Differentialgleichung ẋ = f (t, x) , (1) wenn Γ(ϕ) ⊆ D ist und ϕ̇(t) = f (t, ϕ(t)) für alle t ∈ I0 gilt. 44.2 Bemerkungen. a) Eine Lösung ϕ : I0 7→ K von (1) liegt automatisch in C 1 (I, K) . b) Im Fall K = R kann f geometrisch als Richtungsfeld interpretiert werden, das jedem Punkt (t, x) ∈ D die Gerade durch (t, x) mit Steigung f (t, x) zuordnet. Die Tangenten an den Graphen einer Lösung von (1) stimmen dann in jedem Punkt mit diesen vorgegebenen Geraden überein. 44.3 Bemerkungen. a) Es seien I, J ⊆ R Intervalle, f ∈ C(I, R) und g ∈ C(J, R) . Das Problem ẋ = f (t) g(x) (2) wird als Differentialgleichung mit getrennten Variablen bezeichnet. Ist x0 ∈ J und g(x0 ) = 0 , so ist offenbar ϕ(t) = x0 eine (stationäre) Lösung von (2). Zu t0 ∈ I kann es aber auch andere Lösungen mit x(t0 ) = x0 geben, vgl. Beispiel (9) und die Bemerkungen 45.2. b) Nun sei g(x) 6= 0 für alle x ∈ J . Man schreibt (2) symbolisch als dx = f (t) dt g(x) (3) und erhält als Lösung“ ” Z Z dx = f (t) dt . g(x) (4) Mit Stammfunktionen G ∈ C 1 (J) von ϕ ∈ C 1 (I0 ) von (2) also G(ϕ(t)) = F (t) + C 1 g und F ∈ C 1 (I) von f gilt für eine Lösung für ein C ∈ R , (5) woraus man ϕ im Prinzip berechnen kann. 44.4 Satz. Es seien I, J ⊆ R offene Intervalle, f ∈ C(I) , g ∈ C(J) und g(x) 6= 0 für alle x ∈ J . Zu t0 ∈ I und x0 ∈ J gibt es dann ein offenes Intervall I0 ⊆ I mit t0 ∈ I0 , so daß das Anfangswertproblem ẋ = f (t) g(x) , x(t0 ) = x0 genau eine Lösung ϕ ∈ C 1 (I0 ) hat. Mit G(x) := diese gegeben durch ϕ(t) = G−1 (F (t)) , t ∈ I0 . (6) Rx dξ x0 g(ξ) und F (t) := Rt t0 f (τ ) dτ ist (7) 188 VI. Gewöhnliche Differentialgleichungen 44.5 Beispiel. a) Auf I × J := R × (0, ∞) sei ẋ = − xt (8) gegeben. Aus x dx = −t dt folgt mit t0 q= 0 und x0 > 0 sofort 2 1 (x2 − x20 ) = − t2 , also x2 = x20 − t2 , ϕ(t) = x = x20 − t2 auf I0 := (−x0 , x0 ) . 2 b) Das Existenzintervall I0 der Lösung hängt also von dem Anfangswert x0 ab. 44.6 Beispiel. a) Die Differentialgleichung ẋ = q |x| (9) besitzt die stationäre Lösung x = 0 . Wegen √dxx = dt für x > 0 sind Lösungen von √ (9) über R × (0, ∞) gegeben durch 2 x = t + C (> 0 !) oder )2 , ϕ(t) = ( t+C 2 t ∈ IC := (−C, ∞) . Entsprechend sind Lösungen von (9) über R × (−∞, 0) ϕ(t) = −( C−t )2 , t ∈ (−∞, C) . 2 gegeben durch b) Für a ≤ b erhält man auf ganz R definierte Lösungen von (9) durch )2 , t > b ( t−b 2 ϕa,b (t) = 0 , a≤t≤b . −( a−t )2 , t < a 2 (10) Für Anfangswertprobleme ẋ = q |x|, x(0) = x0 (11) hat dies folgende Konsequenzen: Im Fall x0 6= 0 ist (11) nach Satz 44.4 nahe (0, x0 ) eindeutig lösbar, doch kann sich die Lösung an der Stelle ϕ(t) = 0 verzweigen. Im Fall x0 = 0 hat (11) in jeder Umgebung von (0, 0) etwa die Lösungen 0 und ϕ0,0 , ist also selbst lokal nicht eindeutig lösbar. 44.7 Beispiel. a) Für die Differentialgleichung ẋ = ex sin t (12) besitzt wegen ex > 0 jedes Anfangswertproblem eine eindeutige Lösung über einem geeigneten Intervall I0 . Wegen e−x dx = sin t dt sind Lösungen von (12) gegeben durch e−x = cos t + C (> 0 !) . Mit der Anfangsbedingung x(0) = x0 wird C = e−x0 − 1 und somit ϕ(t) = − log (cos t + e−x0 − 1) , t ∈ I0 = I0 (x0 ) . (13) b) Existenzintervall und Struktur der Lösung hängen sehr stark von dem Anfangswert x0 ab: Für e−x0 −1 > 1 , also x0 < − log 2 , existiert ϕ auf ganz R und ist dort C ∞ und 2π -periodisch; für x0 = log 2 existiert ϕ nur auf (−π, π) und ist dort unbeschränkt, und für x0 > − log 2 existiert ϕ(t) nur für | t | < arccos (1 − e−x0 ) (→ 0 für x0 → ∞ ). 44 Differentialgleichungen mit getrennten Variablen 189 44.8 Transformationen. a) Die Differentialgleichung ẋ = f (at + bx + c) (14) wird mittels u(t) := at + bx(t) + c transformiert in u̇ = a + b f (u) . (15) Beispiel: Für die Gleichung ẋ = (t + x)2 du setzen wir also u = t + x und erhalten u̇ = 1 + u2 , also 1+u 2 = dt , somit arctan u = t + C , u = tan(t + C) und schließlich x(t) = tan(t + C) − t . b) Die Differentialgleichung ẋ = f ( xt ) wird mittels u(t) := u̇ = 1 t (16) x(t) t transformiert in (f (u) − u) . (17) Im Beispiel ẋ = 1 + x t + x2 t2 . du dt erhalten wir u̇ = 1t (1 + u2 ) , also 1+u 2 = t , somit arctan u = log t + C , dann u = tan(log t + C) und schließlich x(t) = t tan(log t + C) .
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