Kap. 43

185
VI. Gewöhnliche Differentialgleichungen
43.
44.
45.
46.
47.
43
Wachstumsprozesse
Differentialgleichungen mit getrennten Variablen
Klassische Mechanik
Lineare Systeme
Lineare Differentialgleichungen
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Wachstumsprozesse
Das Wachstum einer zeitabhängigen Population x = x(t) kann oft durch eine Differentialgleichung
ẋ(t) = a(x, t) · x(t)
(1)
beschrieben werden. Hängt die Wachstumsrate a nicht explizit von x ab, so handelt
es sich um eine homogene lineare Differentialgleichung erster Ordnung.
43.1 Feststellung. Es seien I ⊆ R ein Intervall und a ∈ C(I, K) . Mit einer
Stammfunktion A ∈ C 1 (I) von a sind alle K -wertigen Lösungen von
ẋ(t) = a(t) · x(t)
(2)
über einem Intervall I0 ⊆ I gegeben durch x(t) = C eA(t) , C ∈ K .
43.2 Beispiele und Bemerkungen. a) Für eine Lösung x(t) = C eA(t) von (2)
ist entweder x(t) = 0 für alle t ∈ I0 (im Fall C = 0 ) oder x(t) 6= 0 für alle t ∈ I0
(im Fall C 6= 0 ). Für K = R folgt im zweiten Fall dann x(t) > 0 für alle t ∈ I0
oder x(t) < 0 für alle t ∈ I0 .
b) Eindeutigkeit der Lösung durch Spezifikation eines Anfangswertes x(t0 ) = x0 für
ein t0 ∈ I0 :
x(t) = x0 exp(
Rt
t0
a(t) dt) ,
t∈I,
(3)
ist die eindeutige Lösung des Anfangswertproblems
ẋ(t) = a(t) · x(t) ,
x(t0 ) = x0 .
(4)
c) Im Fall einer konstanten Wachstumsrate a hat man über I = R die allgemeine Lösung x(t) = C eat von (2) und die eindeutige Lösung x(t) = x0 ea(t−t0 ) des
Anfangswertproblems (4).
Es werden nun inhomogene lineare Differentialgleichungen erster Ordnung
ẋ = a(t) x + b(t) ,
a, b ∈ C(I, K) ,
(5)
besprochen. Durch D : x 7→ ẋ − a x wird offenbar ein (stetiger) linearer Operator von C 1 (I, K) nach C(I, K) definiert, dessen Kern N(D) nach Feststellung 43.1
eindimensional ist.
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VI. Gewöhnliche Differentialgleichungen
43.3 Feststellung. Es seien E, F Vektorräume und D : E → F linear. Gilt
D xs = b für ein xs ∈ E , so ist der affine Raum
xs + N(D) = {x = xs + x0 | Dx0 = 0}
(6)
die Menge aller Lösungen der Gleichung Dx = b .
43.4 Variation der Konstanten. Für eine spezielle Lösung von (5) macht man
den Ansatz
xs (t) := C(t) eA(t) .
(7)
!
Dies führt auf ẋs (t) = (Ċ(t) + a(t)C(t))eA(t) = a(t)C(t)eA(t) + b(t) , also
Ċ(t) = b(t) e−A(t) ,
(8)
und daraus kann C(t) durch Integration berechnet werden.
43.5 Logistisches Wachstum. a) Oft ist ein durch eine konstante Wachstumsrate
a > 0 verursachtes exponentielles Wachstum einer Population nicht realistisch. Ein
anderes Modell wird durch die Wachstumsrate a(x) = b(g − x) beschrieben, bei der
die Grenzpopulation g > 0 nicht überschritten werden kann. Die Differentialgleichung
ẋ = b (g − x) x =: ax − bx2 ,
a, b, g > 0 ,
(9)
hat offenbar die nicht interessante Lösung x = 0 und die Grenzlösung x = g . Für
Lösungen x > 0 erfüllt y := x1 die Differentialgleichung
ẏ = −ay + b .
(10)
Der Grenzlösung x = g entspricht die konstante Lösung y = g1 = ab ; nach Feststellung 43.3 ist dann y(t) = g1 + C e−at die allgemeine Lösung von (10), und alle
positiven Lösungen von (9) sind gegeben durch
x(t) = ( g1 + C e−at )−1 ,
C ≥ 0.
(11)
b) Die Lösung (11) enthält 3 unbekannte Parameter. Man kann diese bestimmen,
wenn x(t) für 3 verschiedene Zeitpunkte bekannt ist. Die Resultate können allerdings stark von der Wahl dieser Zeitpunkte abhängen; dies ist z. B. der Fall bei den
Daten zum Wachstum der Weltbevölkerung.
c) Statt dessen verwendet man die Größe der Weltbevölkerung in allen Jahren von
1950 bis 2007 . Wie in Abschnitt 16 bestimmt man die Parameter so, daß die Summe der Fehlerquadrate minimal wird. Damit erhält man die Aussage g = 12, 3 · 109
für die Grenzbevölkerung.
43.6 Bernoulli-Differentialgleichung. Es ist (9) Spezialfall von
ẋ = a(t) x + b(t) xα ,
α > 0.
(12)
Für positive Lösungen von (12) löst die Funktion y := x1−α stets die lineare Differentialgleichung
ẏ = (1 − α) (a(t) y + b(t)) .
(13)