Weichenstellung in Wien

Macht der Worte
PICTURE-ALLIANCE / AKG-IMAGES
Verzögerung aus Furcht, Unsicherheit und Realitätsverweigerung:
1983 erschien »Die Ästhetik des
Widerstands« von Peter Weiss auch
in der DDR. Herausgeber Manfred
Haiduk zeichnet den mühsamen
Weg bis dahin nach.
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Protest gegen Kürzungen
in Griechenland
Putsch in
Brasilien
UESLEI MARCELINO/REUTERS
Umsturz im größten Land
Südamerikas: Senat setzt
Präsidentin Dilma Rousseff ab.
Von Peter Steiniger
Athen. Die Proteste gegen neue
Kürzungsmaßnahmen in Griechenland wurden auch am Donnerstag
fortgesetzt. Nachdem das Parlament in Athen am vergangenen
Sonntag zahlreiche weitere Verschlechterungen der Lebensbedingungen, von denen vor allem Rentner, Selbständige und Angestellte
betroffen sind, abgesegnet hatte,
demonstrierten am Donnerstag
in Athen Berufstätige aus dem
Gesundheitswesen und der Energieversorgung. Auch die Rechtsanwälte wollten ihren Ausstand
fortsetzen. Lehrer wollen ebenfalls
streiken, berichten griechische Medien übereinstimmend.
Die Regierung aus Syriza und
Anel unter Alexis Tsipras versucht,
mit den erneuten Kürzungen zusätzliche Milliarden der Gläubiger
zu bekommen. Athen hatte sich im
vergangenen Sommer dazu verpflichtet, mindestens 5,4 Milliarden Euro im Etat »zu sparen«. Die
Koalition plant daneben weitere
Einschnitte.
(dpa/jW)
Will den Kampf trotz der Niederlage fortsetzen: Brasiliens suspendierte Staatschefin Dilma Rousseff
deren Marsch zum Senat unter Einsatz
von Tränengas und Pfefferspray. Einen
Vorgeschmack auf kommende Repression erhielten auch linke Demonstranten in São Paulo, wo Einheiten der Militärpolizei brutal gegen sie vorgingen.
Dem Finale vorausgegangen waren
aggressive Kampagnen der Monopolmedien, von den weißen Mittelschichten beherrschte Demonstrationen gegen die Regierung und eine Kette von
politischen und juristischen Intrigen.
Von mächtigen Geldgebern im In- und
Ausland gesponserte »nicht parteiliche« rechtspopulistische Bürgerbewegungen wurden installiert. Im Internet
tobt eine hysterische Hasswelle gegen
eine fiktive kommunistische Gefahr.
Mit einer Reihe von politischen Fehlern und Zugeständnissen an die Rechte hatte die Regierung Rousseff selbst
das Spiel der Putschisten erleichtert.
Erst spät kam die PT aus der Defensive, mobilisierte ihrerseits die Straße
und suchte wieder den engen Schulterschluss mit den sozialen Bewegungen
und klassenkämpferischen Gewerkschaften.
Am 17. April hatte sich bereits die
Deputiertenkammer klar für das »Impeachment« ausgesprochen. Strippenzieher und Zeremonienmeister war
der inzwischen wegen Korruptionsanklagen suspendierte Parlamentspräsident Eduardo Cunha vom rechtsliberalen Sammelbecken »Partei der Demokratischen Bewegung« (PMDB).
Der Oberste Gerichtshof hatte das
Verfahren gegen den scheinheiligen
Evangelikalen zuvor monatelang verzögert. Gegen mehr als die Hälfte der
Politiker aus Abgeordnetenhaus und
Senat laufen Ermittlungen wegen
Käuflichkeit.
Mit der Entscheidung des Senats
vom Donnerstag ist die Staatschefin
für maximal 180 Tage suspendiert. Es
ist unwahrscheinlich, dass Rousseff das
Blatt vor dem Obersten Gericht oder im
Senat noch wenden kann, der sie endgültig absetzen und ihr für acht Jahre
die politischen Rechte entziehen kann.
Damit endet eine mehr als 13 Jahre
währende Ära, in der die PT die Politik
auf nationaler Ebene bestimmen konnte und in der Brasilien eine wichtige
Rolle für die lateinamerikanische Integration sowie im Streben nach einer
multilateralen Weltordnung spielte. An
Rousseffs Stelle tritt nun, theoretisch
bis zum Ablauf der Legislatur 2018, ihr
Stellvertreter Michel Temer (PMDB),
dessen Partei die Koalition mit der PT
aufgekündigt hatte. Temer selbst ist einer der Köpfe des parlamentarischen
Putsches. Bereits seit Wochen handelte
er mit den Posten seines künftigen Kabinetts und kündigte einen wirtschaftspolitischen Umbau mit Privatisierungen, Sozialabbau und der Einschränkung von Arbeiterrechten an.
Siehe Kommentar Seite 8
Weichenstellung in Wien
Neuer Kanzler in Österreich soll der Bahnmanager Christian Kern werden
A
lles scheint darauf hinauszulaufen, dass der Chef der
Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), Christian Kern, am heutigen Freitag als neuer Kanzler sowie
Chef der Sozialdemokratischen Partei
Österreichs (SPÖ) vorgestellt wird.
Acht der neun SPÖ-Landesverbände
hatten sich bis Donnerstag für den
50jährigen ausgesprochen. Unklar
ist die politische Haltung von Kern
zu wichtigen Fragen wie der Flüchtlingspolitik oder dem Umgang mit der
rechtsneoliberalen FPÖ.
Der mit dem ÖBB-Vorstandsvor-
sitzenden konkurrierende ehemalige
Intendant des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks ORF, Gerhard Zeiler, hat
nach eigenen Angaben seine Ambitionen für die höchsten Ämter in Staat und
Partei aufgegeben. Die Entscheidung
zugunsten von Kern fiel nach Medienberichten in einer Unterredung mit
SPÖ-Interimschef Michael Häupl.
Der Bundesparteivorstand muss die
Personalentscheidung am kommenden Dienstag offiziell absegnen. Am
18. Mai soll Kern von Bundespräsident
Heinz Fischer als 13. Bundeskanzler
nach 1945 vereidigt werden. »Er ist
ein absoluter Profi, und so, wie er die
Österreichischen Bundesbahnen gut gemanagt hat, wird er auch die Republik
gut managen«, zeigte sich der SPÖChef des Burgenlandes, Hans Niessl,
überzeugt.
Der bisherige Regierungschef Werner Faymann war am Montag überraschend zurückgetreten. In seiner fast
achtjährigen Amtszeit hatten die Sozialdemokraten bei 19 von 21 Wahlen
Stimmen verloren. Kern galt seit längerem als möglicher Nachfolger von
Faymann. Der ehemalige Wirtschaftsjournalist übte in den 1990er Jahren
verschiedene Funktionen in der damaligen Bundesregierung und der SPÖFraktion aus, bevor er in die Wirtschaft
wechselte. Seit 2010 leitet Kern die
Österreichischen Bundesbahnen.
Der Koalitionspartner, die Österreichische Volkspartei (ÖVP), hatte
mehrere Bedingungen zur Fortsetzung
der Regierung gestellt. Dazu gehört die
Beibehaltung des menschenfeindlichen
Umgangs mit Asylsuchenden. Neuwahlen strebt die ÖVP nach eigenem Bekunden bisher nicht an, sie will dies
aber von der künftigen Zusammenarbeit abhängig machen. (dpa/jW)
De Maizière verhängt
weitere Grenzkontrollen
LUKAS SCHULZE/DPA
D
er Ball ist im Netz, die Rechte
kehrt zurück an die Macht.
Das Ergebnis der brasilianischen Präsidentschaftswahlen vor nur
achtzehn Monaten ist Makulatur. Der
Putsch trägt keine Uniformen, sondern
beruft sich auf die Verfassung. Am
Donnerstag folgte der Senat in Brasilia nach einer Marathonsitzung einer
Empfehlung seines Ausschusses, gegen die vom Volk direkt bestimmte
Präsidentin Dilma Rousseff von der
linken Arbeiterpartei (PT) ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten. Der
Prozess zu ihrem Sturz gründet sich
auf konstruierte Vorwürfe zu geschönten Haushaltszahlen.
Während sich im Nationalkongress
das Spiel in vorhersehbarer Richtung
entwickelte – die meisten Senatoren
hatten sich bereits vorab festgelegt –
demonstrierten vor dem Gebäude Tausende Menschen zur Verteidigung der
Demokratie. Polizeikräfte stoppten
Berlin. Nachdem die Mitgliedsstaaten der EU den Weg freigemacht
haben, die Grenzkontrollen in
Deutschland, Dänemark, Norwegen, Österreich und Schweden
für weitere sechs Monate zu
verlängern, reagierte Bundesinnenminister Thomas de Maizière
(CDU) umgehend. Er ordnete am
Donnerstag an, die Maßnahme auf
dieser Grundlage »lageangepasst,
sichtbar und effektiv« fortzusetzen.
Dies war erwartet worden, nachdem er sich zu Wochenbeginn bereits mit seinem bayerischen Kollegen Joachim Herrmann (CSU) auf
Details verständigt hatte. »Solange
der Außengrenzenschutz nicht
wirksam funktioniert, brauchen
wir nationale Grenzschutzmaßnahmen, um Recht und Ordnung zu
gewährleisten«, sagte de Maizière.
(Reuters/jW)
wird herausgegeben von
1.832 Genossinnen und
Genossen (Stand 29.4.2016)
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