Nr. 104 | Juni 2015 Das außenpolit ische J o ur n al Goodbye Neutralität? Sicherheit in Skandinavien Schweden: Ewig lockt die NATO Alles neu in Helsinki? Neutralität: Was bleibt? Analyse Arktis: Aufbruch im Ewigen Eis Streitplatz Ukrainekrise II WeltBlick Indien: Modis verflixtes erstes Jahr Brasilien: Wie weiter, Dilma? Kommentar 2+4 und die Geschichte ISSN 0944-8101 | 4,80 € Inhalt 4WeltBlick 4 Indien auf dem Weg zur Hindu-Nation? Marcel Baumann 8 Brasilien: Gegenwind für Dilma Joachim Wahl 12 15 Tunesien – Arabischer Hoffnungsschimmer Werner Ruf Briefe aus … Minsk und Tel Aviv 18Nachruf: Władysław Bartoszewski Laurence Weinbaum 20 Sicherheit in Skandinavien 21 Schweden – Von der Neutralität zur NATO Al Burke 26 NATO-Beitritt Finnlands? Seppo Hentilä 32 Schweden, Russland und die NATO Bo Pellnäs 37 Die Erosion schwedischer Neutralität Gregor Putensen 43 Skandinavien: Militärausgaben Kai Kleinwächter WeltTrends • Das außenpolitische Journal • 100 • Januar/Februar 2015 • 23. Jahrgang • S. 2–3 44 Analyse: Krisenregion Arktis? Helga Haftendorn 54 Historie: David besiegt Goliath in Vietnam Kai M. Schellhorn 58 Streitplatz: Ukrainekrise II Russland und der Westen Europas Wulf Lapins 58 Die ukrainische Krise – Eine russische Sicht Sergej Birjukow 61 Politik im Bilde: Moderne Ikonen 66 Anne Klinnert Buch des Monats 68 Dieter Segert Kommentar: 2+4 und die Geschichte 70 Hans Misselwitz Wort und Strich 72 We l t B l i c k Wie weiter, Dilma? Zu den Auseinandersetzungen in Brasilien Joachim Wahl Zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit weht Dilma Rousseff der Wind scharf ins Gesicht. Korruptionsaffären und die schwächelnde Wirtschaft setzen die brasilianische Präsidentin und ihre Arbeiterpartei unter Druck. Die Opposition wittert derweil ihre Chance, gegen bestehende Sozialprogramme zu agitieren, und fordert eine Rückkehr zu neoliberalen Wirtschaftspolitiken. I m Januar 2015 trat Dilma Rousseff ihre zweite Amtszeit an. Mit 51,6 Prozent war es der knappste Wahlsieg, den die brasilianische Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) seit 2002 errungen hat. Die Bedingungen ihrer zweiten Regierung gestalten sich ungünstiger als 2003 zum Amtsantritt von Inácio Lula da Silva. Mit dem Rückgang der Nachfrage nach Rohstoffen haben sich die Voraussetzungen für die Realisierung des brasilianischen Wirtschaftsmodells geändert, das aus einer Kombination von staatlicher Wachstumsförderung und Sozialprogrammen bestand. Es gelang damit, etwa 30 Millionen Menschen aus der schlimmsten Armut zu befreien. Nach Angaben des brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik (IBGE) wuchs das BIP 2014 um 0,1 Prozent gegenüber 7,5 Prozent im Jahr 2010. Die Zentralbank Brasiliens rechnet für die kommenden zwei Jahre mit einem weiteren Rückgang des BIP. Außerdem wird ein Rückgang der Investitionstätigkeit um 8,2 Prozent prognostiziert. Ursachen für den Einflussverlust der PT Seit 2003 ist eine Allianz verschiedener politischer Kräfte (Frente Neodesenvolvimentista) die Basis der PT-Regierungen, die Wachstums- und Sozialpolitik miteinander kombinieren. Ein solches Vorgehen entsprach den Interessen einer bestimmten Kapitalfraktion und nützte breiten Volksschichten. Trotzdem war die von der PT geführte Mitte-links-Regierung stets eine umstrittene Koalition. Die Veränderung der wirtschaftlichen Situation wirkt sich gegenwärtig zugunsten jener Kräfte aus, die eng mit dem internationalen Kapital verbunden sind. Sie haben den Druck auf die PT-Regierung und Präsidentin Rousseff erhöht, die staatliche Interventionspolitik WeltTrends • Das außenpolitische Journal • 104 • Juni 2015 • 23. Jahrgang • S. 8–11 WeltBlick zurückzufahren, Sozialprogramme einzuschränken und den Eliten Gewinne zu sichern. Mit der zunehmend aggressiven Haltung der oberen Mittelklasse wurde eine restaurative Offensive eingeleitet. Beispiele hierfür sind die Kampagne gegen kubanische Ärzte, die mediale Ausschlachtung der Korruptionsfälle im Staatsunternehmen Petrobras sowie die Proteste gegen das Gesetz über die Versteigerung neu erschlossener Erdölvorkommen. Das Wahlergebnis vom Oktober 2014 spiegelt ein verändertes Kräfteverhältnis wider. Es zeigt den Einflussverlust der PT in der Bevölkerung. Verluste musste die Arbeiterpartei besonders in den großen Städten, in denen 80 Prozent der Brasilianer inzwischen leben, hinnehmen. Diese Veränderungen schlagen sich in der Zusammensetzung des neuen Abgeordnetenhauses nieder. Die PT und ihr Koalitionspartner, die Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung, PMDB büßten über 20 Parlamentssitze ein. Gemeinsam verfügen sie aber noch über die Mehrheit im Kongress. Zugewinne verzeichnete dagegen die Oppositionspartei PSDB (Partido Socialdemocrático Brasileiro, Sozialdemokratische Partei Brasiliens), die nun 55 Abgeordnete im Kongress stellt. Verkompliziert hat sich die Zusammensetzung des Hauses durch die größere Zahl der Parteien (28). Von 513 Abgeordneten sind 248 Millionäre. Gewählt wurden Abgeordnete, die sowohl religiöse Fundamentalisten wie auch Großagrarier vertreten. Insgesamt gilt Brasiliens neues Abgeordnetenhaus als das konservativste seit 1964. In der Koalition hat sich das Gewicht der bürgerlichen PMDB erhöht. Deutlich gestärkt wurden auch jene Kräfte, die die politische Krise ausnutzen wollen und zur „Rettung der Regierung“ mehr Ministerposten forderten. Noch Ende 2014 ernannte die Präsidentin die beiden PMDB-Politiker Joaquim Levy und Kátia Abreu zum Finanzminister bzw. zur Landwirtschaftsministerin. Joaquim Levy ist ein Repräsentant der neoliberalen Schule, während Kátia Abreu als langjährige Präsidentin der mitgliedsstarken Konföderation für Landwirtschaft und Viehzucht offen die Interessen des Agrobusiness vertritt und eine Agrarreform ablehnt. Auch im Abgeordnetenhaus und im Senat setzten sich führende Vertreter der PMDB durch: So wurde Eduardo Cunha, ein Lobbyist des Gesundheitssektors, Präsident des Abgeordnetenhauses. Renan Calheiros stieg zum Senatspräsidenten auf, obwohl eine Volksinitiative wegen Korruption seinen Rücktritt verlangt. Wie schon im Wahlkampf bleibt die neue Regierung politisch in der Defensive. Die PT hat es versäumt, die Proteste vom Juni 2013 zu nutzen, um trotz der aufkommenden Gegenbewegung weitere Reformen durchzusetzen. Die erste Amtshandlung des neuen Finanzministers Joaquim 9 10 WeltTrends 104 Kampfbereit – Dilma Rousseff nach den Wahlen Levy war derweil die Ankündigung von Ausgabenkürzungen. Das erste Kürzungspaket beträgt umgerechnet ca. 35 Milliarden Euro und umfasst unter anderem die Arbeitslosenunterstützung, Gehaltszulagen und Witwenrenten. Vorgesehen ist zudem eine Kürzung des „Programms zur Beschleunigung des Wachstums“, mit dem der Staat Großprojekte finanziert. Mit diesen Maßnahmen wendet sich Levy von der antizyklischen Politik ab und leitet eine Austeritätspolitik ein, letztlich ein neoliberales Programm. Der Aufschrei der PT-Wählerbasis war gewaltig, hatte Dilma Rousseff doch im Wahlkampf erklärt, dass es mit ihr keine Kürzungen im Sozialbereich geben werde. Ausgelöst durch Enthüllungen ehemaliger Petrobras-Direktoren leitete die Bundespolizei zudem Untersuchungen zu Korruptionsfällen ein. Betroffen sind Bauunternehmen, leitende Petrobras-Angestellte und Politiker, darunter ehemalige Minister sowie Parlamentarier aus Opposition und Regierung. Verhaftet wurden 26 Personen, deren Namen inzwischen veröffentlicht wurden, darunter führende Vertreter von PSDB und PMDB, z. B. der neu gewählte Präsident der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha. Die Medien nutzen die defensive Haltung von Rousseff und der PT und gehen in aller Öffentlichkeit zur Gegenoffensive über. Bisheriger Höhepunkt waren die Aktionen am 15. März 2015. Als die Präsidentin im Fernsehen sprach, rief die Opposition zum „paneloco“, zum „Kochtopftrommeln“, auf, an dem sich in den Großstädten zahlreiche Vertreterinnen der oberen Mittelklasse beteiligten. Gleichzeitig organisierte die Opposition Straßenproteste, WeltBlick an denen sich etwa 1,5 Millionen Menschen beteiligten. Man skandierte „Weg mit Dilma!“ und forderte sogar einen „Militärputsch“. Obwohl sich die Opposition in ihren konkreten Forderungen nicht einig ist, geht es ihr generell um eine Schwächung der Regierung und um die Durchsetzung ihres neoliberalen Programms. In dieser angespannten Situation reagiert die Regierung mit Zugeständnissen wie etwa der angekündigten Öffnung der Bundessparkasse für ausländisches Kapital. Rückkehr zum Neoliberalismus? Soziale Bewegungen und politische Parteien riefen für den 13. März zu einer Demonstration auf, an der sich rund eine Million Menschen beteiligten. Ihr Protest richtete sich gegen die von der Opposition betriebene Radikalisierung der Auseinandersetzung. Zugleich forderten die Teilnehmer die Regierung auf, sich aktiv gegen die Opposition zu positionieren. Die Passivität der Regierung könne zu einer weiteren Schwächung der PT-Wählerbasis führen, so die Befürchtung, was die Linke Brasiliens als Ganzes treffen würde. Selbst Ex-Präsident Lula erklärte, dass sich die PT von ihrer Basis entfernt habe und zu einer Kabinettspartei zu werden drohe. Es besteht die reale Gefahr, dass jene Bevölkerungsschichten, die einst von den sozialen Maßnahmen profitierten, sich nun von der PT ab- und dem Oppositionslager zuwenden. Die Linke weiß, dass sie sich gegen einen Rückfall Brasiliens in eine Phase neoliberaler Politik positionieren muss, ist sich aber über die Wege, Methoden und konkreten Zielstellungen im Unklaren. Große Teile der Opposition fordern ein Plebiszit zur Einberufung einer außerordentlichen verfassungsgebenden Versammlung. Dieser Forderung aus dem Jahr 2013 hatte die Präsidentin zugestimmt; jedoch konnte sie sich nicht gegen das Abgeordnetenhaus durchsetzen. Der Weg zu einem Plebiszit führt unter den gegenwärtigen Bedingungen nur über eine breite Mobilisierung aller demokratischen und sozialen Kräfte. Joachim Wahl geb. 1936, Lateinamerikanist, ehem. Leiter des Büros der Rosa-LuxemburgStiftung im Cono Sur [email protected] 11
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