Gesundheitsgespräch Multiple Sklerose Sendedatum: 16.04.2016 Experte: Prof. Dr. Reinhard Hohlfeld, Leiter des Instituts für Klinische Neuroimmunologie am Klinikum Großhadern Autor: Holger Kiesel Die Krankheit mit den vielen Gesichtern Man nennt sie auch die "Krankheit mit den 1.000 Gesichtern“. Die Symptomatik bei Multipler Sklerose (MS) ist vielfältig und häufig diffus. Die Erkrankung verläuft schleichend oder in Schüben. MS ist nicht tödlich, aber ihre Begleiterscheinungen (Inkontinenz, Potenzprobleme oder starke Spastiken) bedeuten oft eine massive und in vielen Fällen ständig zunehmende Einschränkung der Lebensqualität. Deshalb geht es in der MS-Therapie einerseits darum, das angeschlagene Immunsystem zu regulieren, andererseits gilt es, die Begleitsymptome zu bekämpfen und so die Lebensqualität der Erkrankten zu erhalten oder sogar wieder zu verbessern. Dem Text liegt ein Gespräch von Holger Kiesel mit Prof. Dr. Reinhard Hohlfeld, Leiter des Instituts für Klinische Neuroimmunologie am Klinikum Großhadern, zugrunde. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de Seite 1 Definition und Diagnose - Was ist MS und wie stellt man es fest? Multiple Sklerose ist eine entzündliche Erkrankung, die nicht mittels eines einzigen Tests oder einer singulären Symptomatik festgestellt werden kann. "Das Bild, aus dem sich letztlich die Diagnose der MS ergibt, setzt sich aus verschiedensten Mosaiksteinen zusammen." Prof. Reinhard Hohlfeld Es handelt bei MS um eine entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems (ZNS): Gehirn und Rückenmark sind von der Entzündung betroffen. Die peripheren Nerven, etwa in Armen und Beinen, sind jedoch nicht betroffen. In Schüben MS verläuft in der Regel - zumindest am Beginn der Erkrankung - schubweise. Die durchschnittliche Häufigkeit liegt bei etwa einem Schub pro Jahr. Die Betroffenen zeigen bei einem Schub innerhalb von Stunden oder Tagen neurologische Symptome: • • • • motorische Ausfallerscheinungen sensorische Probleme Sehstörungen Schwindel Im fortgeschrittenen Stadium kommen häufige Müdigkeit und Konzentrationsprobleme dazu. Die Symptome verschwinden anfangs oft wieder Meist halten die Symptome eines Schubes über einige Wochen an und verschwinden danach - jedenfalls im Anfangsstadium - oft allmählich wieder. Manchmal bleiben von einem Schub aber auch Einschränkungen zurück oder die dadurch entstandenen Beschwerden bleiben komplett erhalten. Ein Charakteristikum für Multiple Sklerose ist, dass (im Unterschied zu anderen neurologischen Erkrankungen) Entzündungsherde an verschiedenen Stellen des Zentralen Nervensystems auftreten. Unterstützende Diagnostik Zur zuverlässigen Diagnose von MS können verschiedene Tests herangezogen werden: • Unter anderen kann eine Untersuchung des Nervenwassers (Lumbalpunktion) Aufschluss geben. In der Flüssigkeit finden sich Hinweise auf entzündliche Veränderungen. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de Seite 2 • Ein anderes wichtiges Verfahren zur Sicherung der Diagnose ist die Magnetresonanztomographie (MRT). Im Kernspin können vorhandene Entzündungsherde sichtbar gemacht werden. Diagnose absichern Theoretisch könnte die für MS charakteristische Symptomatik auch auf verschiedenste andere neurologische Krankheitsbilder hinweisen. Deshalb sollten mögliche alternative Ursachen für die Beschwerden in der Diagnostik frühzeitig ausgeschlossen werden. Prof. Reinhard Hohlfeld: "Im Prinzip wären 50 bis 100 verschiedene Differentialdiagnosen denkbar. Meist ist die Symptomkonstellation, die zu sehen ist, allerdings doch so typisch für MS, dass die Diagnose recht frühzeitig richtig gestellt wird." Formen von Multipler Sklerose MS tritt hauptsächlich in drei Formen auf: • • • Schubförmige MS Sekundär-progrediente MS (schleichender Verlauf statt Schübe, schubförmige MS geht oft später in diese Form über) Primär-progrediente MS (verläuft von Anfang an schleichendfortschreitend) Die Mehrzahl der Betroffenen erkrankt im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. MS kann aber gelegentlich auch deutlich früher (sogar schon im Kindesalter) oder später auftreten. Unter den Betroffenen sind etwa dreimal mehr Frauen als Männer. Die Gründe dafür sind unklar. Ursachen - Was ist schuld an MS? Die letztendliche Ursache von Multipler Sklerose ist bislang unklar. Einflussfaktoren gibt es dagegen viele – unter anderem der eigene Körper. Denn MS gilt als Autoimmunerkrankung, einer Krankheit, bei der sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper richtet. Auslöser von MS Für die Wissenschaftler ist mittlerweile in weiten Teilen gut nachvollziehbar, was MS im Körper der Betroffenen bewirkt. Wichtige Erkenntnisse dazu stammen aus pathologischen Untersuchungen am Menschen bzw. aus sogenannten "Tiermodellen“. Hierbei wird MS in Versuchsanordnungen an verschiedenen Säugetierarten "imitiert“. Dagegen ist der letztliche Auslöser der Erkrankung nach wie vor unbekannt. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de Seite 3 Wissenschaftlicher Verdacht Im Moment geht die Forschung davon aus, dass es sich bei Multipler Sklerose um eine Autoimmunerkrankung handelt, d.h. um eine Störung, bei der sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper richtet. Der genetische Faktor Multiple Sklerose ist keine Erbkrankheit im klassischen Sinne. Es gibt für MS zwar eine gewisse genetische Prädisposition: Das bedeutet, dass jemand, der einen Betroffenen in der Familie hat, selbst ein leicht erhöhtes Risiko trägt, an MS zu erkranken. An der Ausprägung dieser Veranlagung sind allerdings vermutlich hunderte von Genen beteiligt, sodass es nicht möglich ist, über einen einzelnen Gentest eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine MSErkrankung festzustellen. Fazit: Es müssen zur Genetik noch andere Faktoren hinzukommen. "Selbst bei genetisch identischen eineiigen Zwillingen sind nur in 30 Prozent der Fälle beide an MS erkrankt." Prof. Reinhard Hohlfeld Umwelteinflüsse Im Bereich der Umweltfaktoren, die Multiple Sklerose vermutlich begünstigen, sind hauptsächlich drei zu nennen: • • • Vitamin D-Mangel Virusinfektionen die individuelle Darmflora Vitamin-D-Mangel Forscher haben festgestellt, dass Multiple Sklerose in sonnenreichen, äquatornahen Gegenden seltener vorkommt als in weiter entfernten Regionen. Sonnenlicht regt die Vitamin D-Produktion an. Vitamin D wiederum stärkt das Immunsystem. Daraus schlossen die Wissenschaftler, dass Vitamin D-Mangel möglicherweise Autoimmunreaktionen begünstigt, die letztlich zu MS führen können. Virusinfektionen Das menschliche Immunsystem befindet sich im ständigen Kampf gegen verschiedenste Viren und Bakterien. Es kann aber durchaus vorkommen, dass die aktivierten Abwehrzellen sich versehentlich statt gegen den Eindringling gegen den eigenen Körper richten. Die fehlgeleiteten Zellen setzen dann eine Autoimmunreaktion in Gang, die das Nervensystem schädigt. Es ist auffällig, dass nahezu alle MS-Patienten irgendwann im Leben eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus durchgemacht haben. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de Seite 4 Die individuelle Darmflora Forscher der Abteilung für Neuroimmunologie am Max-Planck-Institut in Martinsried haben im Tiermodell (MS bei Mäusen) festgestellt, dass die Tiere keine Schübe mehr bekommen, sobald man sie in eine absolut keimfreie Umgebung umsiedelt. Die Ursache dafür scheint im Verdauungstrakt der Mäuse zu liegen. Die Versuche legen nahe, dass eine bestimmte Zusammensetzung der Darmflora bei den Tieren - und damit möglicherweise auch beim Menschen - die Entwicklung von MS positiv verändern könnte. "Das könnte letztlich auch bedeuten, dass es in Zukunft vielleicht möglich wird, durch eine gezielte Manipulation der Darmflora, etwa über eine bestimmte Ernährung oder bestimmte Antibiotika, den Verlauf der MS positiv zu beeinflussen." Prof. Reinhard Hohlfeld Impfungen als Auslöser? Bei einigen wichtigen Impfungen (Grippe, Hepatitis) kann inzwischen ausgeschlossen werden, dass sie im Zusammenhang mit MS ein Risiko darstellen. Virusinfektionen dagegen können Schübe auslösen. Deshalb kann im Zweifelsfall geimpft werden. Aber: MS-Patienten sollten keine Lebendimpfstoffe erhalten! Therapie - Wie kann MS behandelt werden? Im Bereich der MS-Therapie muss unterschieden werden zwischen der Behandlung eines akuten Schubes und der Linderung der Begleitsymptome. Behandlung eines akuten Schubes Ein akuter MS-Schub wird in der Regel kurz (drei bis fünf Tage), aber in hoher Dosierung mit Kortison-Infusionen behandelt. Das Mittel hat einen entzündungshemmenden Effekt, sodass der Schub abklingt. Durch diese sogenannte Pulstherapie werden die negativen Auswirkungen einer längerfristigen Kortisonbehandlung (Gewichtszunahme, Knochenschwund) vermieden. Aber: Einen positiven Einfluss auf die Langzeitentwicklung der MS hat eine solche Behandlung der akuten Schübe nicht. Immunmodulation und Immunsuppression Zur Regulierung des Immunsystems (Immunmodulation) und zur Unterdrückung unerwünschter Reaktionen der körpereigenen Abwehr (Immunsuppression) bei Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de Seite 5 MS gibt es eine ganze Reihe wirksamer Medikamente. Zu den Basistherapeutika in diesem Bereich zählen: • • • Die Interferon-Beta-Präparate: Interferon ist ein Hormon, das der Körper bei jedem Infekt auch selbst ausschüttet. Das Mittel Copaxone mit dem Wirkstoff Glatirameracetat. Zwei orale Medikamente, Teriflunomid (Aubagio) und Dimethylfumarat (Tecfidera) Diese Medikamente reduzieren die Schubrate. Der Vorteil dieser Präparate ist, dass sie vergleichsweise geringe Nebenwirkungen haben. Die komplexe Wirkung solcher Mittel auf das Immunsystem ist bislang nicht im Detail erforscht. "Eskalation“ der Therapie Bei besonders aktiven Verlaufsformen der MS, oder wenn die Basistherapie nicht ausreicht, , kommen stärkere Medikamente zum Einsatz. Sie verringern die Zahl der Schübe im Mittelwert um 50 bis 70 Prozent. Man spricht dann von einer sogenannten "Eskalation“ der Therapie. Diese Präparate bewirken allerdings wegen der stärkeren Dämpfung des Immunsystems auch ein erhöhtes Infektionsrisiko. Eines der Mittel (Tysabri mit dem Wirkstoff Natalizumab) kann sogar (in seltenen Fällen) eine manchmal tödliche Gehirnentzündung auslösen. Andere vorwiegend für die Eskalation ein Betracht kommende Medikamente sind das Fingolimod (Gilenya) und das Alemtuzumab (Lemtrada). Die Zulassung weiterer Medikamente aus dieser Kategorie wird für 2016/2017 erwartet. "Der Einsatz starker Medikamente ist immer eine Abwägungssache. Je aggressiver die MS, desto drastischer muss man dagegen vorgehen." Prof. Reinhard Hohlfeld Progrediente MS Bei mehr als der Hälfte der MS-Erkrankten verläuft die MS nicht schubförmig, sondern progredient (d.h. mit stetig zunehmender Behinderung). Es gibt eine häufige "sekundär progrediente" Form der MS und eine seltene "primär progrediente" Form. Bei der sekundär progredienten MS ist der Verlauf anfangs noch schubförmig und erst danach stetig zunehmend, während bei der primär progredienten MS die Behinderung von Anfang an stetig fortschreitet. Im Gegensatz zur schubförmigen MS gibt es für die progrediente MS noch sehr begrenzte Therapiemöglichkeiten. Deswegen konzentriert sich die aktuelle MS Forschung ganz besonders auf die progrediente MS. Ein Zusammenschluss internationaler MS Gesellschaften (Progressive MS Alliance) fördert die Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de Seite 6 Erforschung der propredienten MS ebenso wie die Deutsche MS Gesellschaft (DMSG). An den Symptomen ansetzen Neben der Regulierung des Immunsystems ist auch die Kontrolle der Symptome ein wichtiger Teil der Therapie, die sogenannte Symptomatische Therapie. Dazu können unter anderen folgende Maßnahmen gehören: • • • • Schmerzbekämpfung Linderung von Spastiken Kontrolle der Blasenfunktion Behandlung von Depressionen "Die Kunst bei der Symptomtherapie liegt darin, die einzelnen Faktoren richtig gegeneinander abzuwägen. Das erfordert häufig viel Geduld, denn dabei muss oft einiges ausprobiert werden. Deshalb werden in diesem Bereich die Möglichkeiten nicht immer optimal ausgeschöpft." Prof. Reinhard Hohlfeld Perspektiven - Wie lebt man mit MS? Multiple Sklerose ist keine unmittelbar lebensbedrohliche Erkrankung, jedoch häufig mit äußerst unangenehmen Begleiterscheinungen verbunden. Unangenehme Begleiterscheinungen Im Rahmen der vielfältigen Symptomatik können zahlreiche Störungen auftreten, die eine massive Einschränkung der Lebensqualität mit sich bringen: • • • • • Störungen der Blasen- und Darmfunktion Potenzprobleme Vermehrte Dekubitusbildung Starke Spastiken und Ataxien (Störungen der Bewegung, evtl. auch beim Stehen und Sitzen) Störungen der Gehfunktion bis hin zur Immobilität (Rollstuhl) Lebenserwartung MS ist eine chronische, nicht heilbare, aber als solches weder tödliche noch lebensbedrohliche Erkrankung. Die Lebenserwartung ist dennoch etwas reduziert, vor allem wenn mit fortschreitendem Verlauf der Erkrankung zunehmend schwerwiegendere Einschränkungen auftreten. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Prof. Reinhard Hohlfeld Beratung durch die Deutsche MS-Gesellschaft Die Deutsche Multiple-Sklerose-Gesellschaft (DMSG) bietet umfangreiche Informationen zum Thema MS und berät Betroffene, etwa bei der Suche nach einem Arzt oder der passenden Therapie. http://www.dmsg.de/ Hilfe durch das MS-Kompetenznetz Das MS-Kompetenznetz hingegen ist ein Zusammenschluss von Forschern und Ärzten mit der Zielsetzung, die Therapiemöglichkeiten und das Verständnis für die Erkrankung zu verbessern. Beide Organisationen arbeiten Hand in Hand, um die MS zu bekämpfen und die Situation der Betroffenen zu verbessern. http://www.kompetenznetz-multiplesklerose.de/ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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