Manuskript Evangelische Perspektiven „Es war einmal…“ Die Wiederentdeckung des Story Telling Autor/in: Geseko von Lüpke Redaktion: Friederike Weede / Matthias Morgenroth Religion und Kirche Sendedatum: Sonntag, 18. Oktober 2015 / 08.30 - 09.00 Uhr http://www.br.de/themen/religion/index.html Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 1 ZUSPIELUNG Wort 1 (Schliephake) "Endlich war er da, an seinem Baum. Eigentlich war es gar nicht sein Baum. Er hat ihn nicht gepflanzt, er gehörte ihm auch nicht, aber seit Kindertagen stand dieser Baum hier auf dem Marktplatz. Er umarmte den Baum und hielt seine Wange an die knochige Rinde. Und plötzlich hatte er Bilder in seinem Kopf, erinnerte sich: Als Kind war er oft auf diesen Baum geklettert, hatte sich versteckt oben zwischen den Zweigen und Ästen. Und dann rief seine Mutter: 'Zachäus, komm runter, das Essen ist fertig“. Lang ist das her. SPRECHERIN Es ist mucks-mäuschen-still in den Gemeinderäumen des Michaelisklosters in Hildesheim. Die Kinder haben sich nach vorne gebeugt, die Ohren gespitzt. Manche lauschen mit geschlossenen, andere mit vor Spannung weit geöffneten Augen. Die Atmosphäre ist dicht, die Stille wie geladen, als der Pfarrer Dirk Schliephake, Beauftragter für Kindergottesdienst der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers die biblische Geschichte vom jüdischen Zöllner Zachäus und seiner Begegnung mit Jesus erzählt. Auch die Erwachsenen im Raum lauschen gespannt, um nichts von den Bildern zu verpassen, die sich da vor den inneren Augen aufblättern. Als sei es Sonntagabend und ‚Tatort‘-Zeit, nur viel direkter, unmittelbarer, authentischer. ZUSPIELUNG Wort 2 Und dann hörte ich an der Zollstation, wie die Kollegen sagten, "Da kommt einer aus Nazareth, der hat sogar einen Gelähmten geheilt". Den wollte ich sehen unbedingt. Und dann schloss ich die Zollstation zu und lief zu dem Marktplatz. Und die Leute ließen mich nicht durch: "Dich kennen wir! Du stellst Dich hinten an!“ Und dann sah ich meinen Baum wieder. Ich hatte ihn seit Kindertagen nicht mehr beachtet. Dann kletterte ich hinauf und versteckte mich und von oben konnte ich sehen, wie immer mehr Menschen auf den Platz kamen. Hier war ich sicher. Und dann hörte ich diese Stimme: „Zachäus, komm vom Baum runter. Ich will mit Dir und Deiner Familie zu Abend essen!" Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 2 SPRECHER Es ist eine jener Bibel-Geschichten, die davon erzählen, wie der Gottessohn jenseits aller Vorurteile jemanden wahr- und ernstnimmt, den die Gemeinschaft längst als ‚schlecht‘, als ‚Verräter‘, als ‚Kollaborateur‘ verstoßen hat. Eine Geschichte, in der alles neu wird. Ein uraltes Thema. Aber nicht von der Kanzel gepredigt, sondern frei erzählt. Mit ganz anderer Wirkung, sagt Dirk Schliephake. ZUSPIELUNG Wort 3 Erzählen ist mehr als nur Hören. Ich sage immer: „Wir malen mit Worten Bilder“. Das heißt, was ich als Erzähler sehe, wenn ich das erzähle, sehen das meine Zuhörer auch. ‚Kino im Kopf‘ sagen die Kinder. Das was ich fühle mit einem Menschen, dieses Gefühl haben die Zuhörer auch. Das was ich rieche, das was ich schmecke, was ich anfasse. Das ist sozusagen eine ganzheitliche, sinnorientierte Form der Verkündigung. Und diese selbstentdeckten Bilder, die bleiben. ZUSPIELUNG Atmo (knisterndes Lagerfeuer) SPRECHERIN Wenn heute in kirchlichen Gemeindehäusern ‚Bibelerzählen‘ auf dem Programm steht, dann schließt sich ein Kreis. Ein uralter, in dem auch die Geschichte des Christentums kaum mehr ist als ein Wimpernschlag. Wir alle kennen das unerklärliche Gefühl, dass sich auftut, wenn wir nachts am Feuer sitzen und beim Knistern des brennenden Holzes Geschichten lauschen, die erzählen von den Rätseln und Geheimnissen des Lebens, vom Profanen und Heiligen, von menschlichen Erfahrungen. Das ist wie eingeprägt in die Zellen unseres Körpers, sagt Jon Young, amerikanischer Erzählforscher und Wildnispädagoge, den es immer wieder zu den Buschleuten im Süden Afrikas zieht, wo alle Erzählkultur ihren Anfang nahm. ZUSPIELUNG Wort 4 This people have been practicing this way of being for 130.000 ... Diese Menschen erzählen sich seit mindestens 130.000 Jahren Geschichten. Sie sind die gemeinsamen Urahnen der Menschheit in der Kalahari und dem Rift-Valley, auf die Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 3 man uns alle genetisch zurückführen kann. Und vielleicht sitzen sie schon doppelt so lang. Die Frühgeschichtsforschung sagt, dass die ersten Menschen schon vor eine Viertelmillion Jahren an der Küste Südafrikas, nahe dem heutigen Kapstadt, um das Feuer saßen. Ich glaube wirklich, dass es soweit zurückgeht. …. I think it goes back that far SPRECHER Heilige Bücher gibt es in der langen Geschichte der menschlichen Spezies erst seit kurzem. Über Jahrhunderttausende wurden die Parabeln, Legenden, Mythen und Geschichten – die Essenzen menschlicher Erfahrungen – im nächtlichen Kreis am Feuer erzählt. Die orale Tradition des ‚Storytelling‘, des ‚Geschichtenerzählens‘ diente der Weitergabe kultureller Traditionen, sozialer Regelwerke, der Stammesgeschichte – aber auch der spirituellen Traditionen. SPRECHERIN Schöpfungsgeschichten boten Erklärungsmodelle für das Numinose, das Unbegreifliche der Welt, in die sich der staunende Mensch geworfen wusste. Eine Metaphern-Sprache versuchte, das Unaussprechliche und damit Heilige der Welt symbolisch fassbar zu machen. Die oft über zahllose Generationen unverändert erzählten Geschichten wirkten dabei wie eine Brücke zu den Ahnen, verbanden Mensch und Land, und wirkten wie ein Garant für kulturelle Traditionen. David Archie, Medizinmann bei den Squamisch, Ureinwohnern an der kanadischen Westküste, beschreibt, was wohl für alle nomadisierenden Völker zu allen Zeiten galt. ZUSPIELUNG Wort 5 It would not make any sense to us to have a lot of written … Es hätte keinen Sinn ergeben Dinge festzuhalten und aufzuschreiben, die wir dann hätten transportieren müssen. Also verwahrten wir die Informationen in unseren Herzen und Köpfen. Wohin wir auch kamen, feierten wir die erzählten Erinnerungen als tiefe Verbindung zum Land. (6:20) Wenn eine neue Erinnerung und Verbindung dazu kam, passierte das im Kontakt mit dem, was an Geschichten schon da war. (4:10) Sie wurden mündlich, ohne Schriftsprache, von Generation zu Generation weitergegeben. Indem es Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 4 von den Ältesten an die Jüngeren übermittelt wurde, entstanden keine Hierarchien, alle waren gleich wichtig und jeder war Teil des Ganzen. …. there is no seperation is equal, and everyone is included. SPRECHER Erst langsam wird den Kulturhistorikern und Anthropologen klar, dass die schriftlosen Völker der ‘grauen Vorzeit’, die alles mündlich weitergaben, nicht ‚primitiv‘ genannt werden können. Im Gegenteil: Geschichten in Jäger- und Sammlerkulturen zu erzählen war eine hohe Kunst, die ein spezielles Training erforderte, eine Übung in Naturverbundenheit, ein Training der Achtsamkeit. SPRECHERIN Die Erzähler und Erzählerinnen wurden darin ausgebildet, ihre Sinne so zu schärfen, dass sie eine maximale Wahrnehmung der lebendigen Welt entwickelten. Dazu gehörte es, Spuren zu lesen, Tiergeräusche zu verstehen, das Wetter zu lesen, mit der eigenen Intuition verbunden zu sein. Jon Young, der immer wieder bei den südafrikanischen KhoiSan, den Buschleuten in die Lehre geht, gibt einen Eindruck jener Kunst, die darin besteht, vergangene Erfahrungen so zu erzählen, dass die Zuhörer meinen, es geschähe alles in ihrer Gegenwart. ZUSPIELUNG Wort 6 When they share something, which has happened in the past … Wenn sie etwas erzählen, was in der Vergangenheit passiert, ob real oder im Land der Mythen, lassen sie uns über unsere Ohren, unseren Geruchssinn, unsere Emotionen, über alle verfügbaren Sinne am Geschehen teilhaben. Darin liegen die Kunst und die Macht des Geschichtenerzählens. (4:38) Dabei sind Spurenlesen und Geschichtenerzählen eng miteinander verbunden. Wenn Du von der Jagd zurückkommst, bringst Du eine Geschichte mit, die alle die nicht dabei waren, abends am Feuer von Deinen Erfahrungen lernen lässt. Und die Ältesten hören zu und stellen so sicher, dass wirklich alle mentalen Fähigkeiten des Erzählers entwickelt sind. … capacities are involved in sharing a story. Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 5 SPRECHER In jenen frühen Kulturen, die in unmittelbarer Symbiose mit der natürlichen Welt lebten, war das Geschichtenerzählen mehr als Unterhaltung. Es war eine Schule der Verbundenheit mit der lebendigen Welt, es war die Qualitätskontrolle für offene Sinne, es war Lernen fürs Leben, es war Gefahrenabwehr für’s Kollektiv. SPRECHERIN Geschichtenerzählen war überlebenswichtig, gerade in einer Welt voller Raubtiere, sagt der Anthropologe und Wildniskenner Jon Young und erzählt selbst eine Geschichte. ZUSPIELUNG Wort 7 There is an elder in Botswana in the central Kalahari, … Es gibt in der zentralen Kalahari Botswanas einen Ältesten namens Sanama. Er ist Heiler bei den KhoiSan, aber auch Geschichtenerzähler. Ich saß eines Abends bei ihm, als er mir sagte, er würde später den Kindern des Stammes eine Geschichte erzählen. Es sei die älteste Geschichte, die er kenne, meinte er. Und es ist sicherlich auch die kürzeste, denke ich. Der Unterhaltungswert für die Kinder war groß: Sie wussten, der alte Mann erzählt. Sie kannten die Geschichte. Und sie kamen alle zusammen. Das Feuer wurde entzündet. Und er begann: „Vor langer, langer Zeit fraßen die Löwen viele von uns Buschleuten. Ja, sie aßen viele von uns!“ Das war die ganze Geschichte, Anfang, Mitte und Ende. Die Kinder hatten sie schon Hundertmal gehört und wollten sie immer wieder hören. Sie dauerte 20 Sekunden. … to hear it anyway. It lasted 20 seconds. ZUSPIELUNG Atmo 2 (Musik der Buschleute) SPRECHER Diese existentiellen Gefahren, denen der Mensch in seiner langen Geschichte ausgesetzt war, haben wohl dazu geführt, dass er – unabhängig von Alter, Milieu und Kultur – so empfänglich ist für das Medium ‚Geschichte‘. Es galt, voneinander zu lernen, Wissen auszutauschen, sich über Gefahren zu informieren. Bis heute, so die Erkenntnis der Neurobiologie, funktioniert das Gehirn erfahrungs- und gefühlsorientiert so, dass es Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 6 entweder selbstgemachte Erfahrungen abspeichert oder aber authentisch erzählte Geschichten von existentiellen Erlebnissen. Beides hilft dem Menschen, in eigenen Krisensituationen richtig zu reagieren. SPRECHERIN Doch der Zauber des ‚Storytelling‘ an den Lagerfeuern der Vorzeit geht noch weiter. Mit den urzeitlichen Geschichten entstand Weltdeutung, mit Weltdeutung Bewusstsein, mit Bewusstsein Kultur, Identität, Gemeinschaft. Der Strom des Seins wurde in Erzählungen benannt, definiert, differenziert. Durch den zwischenmenschlichen Austausch über existentielle Erfahrungen im Geschichtenerzählen strukturierte sich Wahrnehmung, entstanden Strukturen im Gehirn. Ein unglaublicher Prozess zwischen äußerer und innerer Welt begann, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther: ZUSPIELUNG Wort 8 Der Sitz der Sprache ist das gesprochene Wort. (3/16:10) Hier werden also kulturell gemachte Erfahrungen transkulturell weiter gegeben und diese Erfahrungen werden immer wieder in jeder Generation im Hirn der jeweiligen Nachkommen zu erfahrungsbedingten Strukturen umgewandelt. Es ist ein toller Prozess, der jetzt schon fast esoterische Dimensionen annimmt, wenn man so oberflächlich draufschaut, denn hier wird ja etwas Immaterielles in Materie verwandelt. Eine Erfahrung, die ganz immateriell ist, hinterlässt im Hirn Spuren, die der Hirnforscher in Form von neuen Vernetzungen sehen kann. Und diese neuen Vernetzungen, diese materielle Struktur, erzeugt dann Gedanken und Bewusstsein und Worte, die man nun wieder gar nicht mehr sehen kann, die ganz und gar immateriell sind. SPRECHER Im Geschichtenerzählen – seien es Jagderlebnisse, exemplarische Lebenserfahrung, kulturelles Wissen, Welterklärung, Schöpfungsmythen oder Erfahrungen des Numinosen, Spirituellen, Religiösen – gestalteten sich über Jahrzehntausende Kulturen in ihrer ganzen Vielfalt. Ohne Schrift. Und die oralen Traditionen waren wie ein Netz aus Weisheiten, welches die Menschen durchs Leben trug. Orale Tradition bot Sicherheit, Orientierung, Sinn. Märchen entstanden daraus, Mythen, Heldengeschichten, aber auch Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 7 Handlungsanweisungen für die individuellen Übergänge, sagt der walisische Geschichtenerzähler und Mythologe Martin Shaw. ZUSPIELUNG Wort 9 Myth, poetry, folk tails are the kind of secret history of … Mythen, Dichtung, Märchen und Geschichten sind so eine Art geheime Geschichte der Welt. Sie sind als magisches Wissen Teil der Welt der Stammeskulturen, das über Jahrhunderte weiter gegeben wurde. Viele der Geschichten handeln von der Beziehung zwischen der Kultur – dem Stamm, dem Dorf, der Stadt – und den wilden Regionen drum herum: mythischen Orten voller Bären, Wälder, Berge und Flüsse. Und die Geschichten drehen sich dann oft darum, den sichern Ort – Familie, Arbeit, Heimat, Identität zu verlassen. (4:15) Wenn Du über einen guten Erzähler der richtigen Geschichte begegnest, kannst Du Dich in den Fragen Deines eigenen Lebens wiederfinden: Wo hast Du Deinen Weg verloren? Was ist die Krise Deines Lebens? Mit welchen Drachen musst Du kämpfen? Wo kann Kummer und Not zu Schönheit werden? Und auf diese Weise können Mythologie und Geschichten Dir helfen, Deinen Lebenssinn wiederzuentdecken. Sie sind wie Schatztruhen, die Bilder und Metaphern enthalten, die Dir dabei helfen mit Stil und Würde durchs Leben zu kommen. …with dignity and a little bit of style. SPRECHERIN Erst viel später wurden die Geschichten und Mythen, die über zahllose Generationen nur mündlich überliefert worden waren, verschriftlicht. In den großen Heldensagen und Märchen, aber auch in ‚heiligen Büchern‘, den Upanischaden des Hinduismus, in der Bibel, im Koran. Um sie herum bildeten sich nicht nur kulturelle und religiöse Institutionen, sondern auch Ideologien und Riten, welche ‚die Schrift‘ auslegten, die Schrift nicht mehr ‚das Wort‘. In der Moderne und ihrer medialen Vielfalt ist die uralte Tradition des ‚Story Telling‘ fast ausgestorben, damit aber auch der lebendige Zugang zum Wunder des Lebens verschüttet. Heute erzählen Kino, Fernsehen und Internet die Geschichten, die konsumiert werden, aber kaum mehr wirken. Doch es gibt Bemühungen, die alten Werkzeuge neu zu entdecken und den alten Zauber des Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 8 Erzählens neu zu wecken. Dazu gehört die Ausbildung zum Bibelerzähler, zur Bibelerzählerin, wie sie Dirk Schieplake in Kooperation mit den großen Kirchen anbietet. ZUSPIELUNG Wort 10 Diese Ausbildung will dieses alte Handwerk des Bibelerzählens, Kunstwerk und Mundwerk, wieder neu beleben. (29:10) Die Teilnehmerinnen veranstalten eigene Bibelerzählabende. Sie erzählen im Gottesdienst, in der Messe, im Kindergottesdienst, bei Frauennachmittagen, bei Männerabenden. Und plötzlich zieht dieses Erzählen Kreise, Kreise, Kreise. Und ich glaube es ist ein neuer ökumenischer Weg. (32:12) Das Geheimnis des Bibelerzählens ist tatsächlich, dass uns das so berührt, als wären wir damals selbst dabei gewesen. Das wichtige ist, dass diese Geschichten nicht abgeschlossen sind, dass wir möglichst offen erzählen, vielleicht mit einer Frage enden und dann mit den Leuten ins Gespräch kommen. Ich glaube, dass ist das Geheimnis, dass man an Erfahrungen, die die Menschen kennen – scheitern, gewinnen, gerettet werden, jemanden verlieren – dass man an diesen existentiellen Erfahrungen, die in Bibelgeschichten alle verborgen sind, wenn man die neu erzählt und damit berührt, dann öffnen sich diese Menschen und erweitern ihren Erfahrungsschatz und machen Erfahrungen der Nähe Gottes. ZUSPIELUNG Atmo 3 SPRECHER Da werden die kunstvollen Einstiege geübt, wie hier die Bibelpassage, wo Jesus auf dem See Genezareth über das Wasser zu den Jüngern läuft: Die Körperhaltung, die Betonung, der Kontakt zum Hörer, die Dramaturgie, die emotionale Durchdringung, die sinnliche Präsenz. SPRECHERIN Es sind dieselben Qualitäten, die seit Jahrzehntausenden von den Geschichtenerzählern in indigenen Kulturen trainiert werden. Denn auch dort überließ man das ‚Storytelling‘ nicht Hinz und Kunz, sondern suchte sich die Talente und trainierte sie. Dabei war die Ausbildung zum Erzähler auch eine Art spirituelle Schulung. Ging es für die Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 9 Geschichtenerzähler doch darum, die Welt mit sieben Sinnen zu erkennen zu lernen, größtmögliche Achtsamkeit zu entwickeln und so sehr mit dem Netz des Lebens in der Natur zu verschmelzen, dass in den Hörern ihrer Geschichten selbst das Gefühl der Verbundenheit entstand. Und je tiefer sie wahrnehmen gelernt hatten, desto mehr waren sie im Kontakt mit dem Ganzen, dem Göttlichen, dem Heiligen und konnten auch heilen, glaubt der Anthropologe und Kulturforscher Jon Young ZUSPIELUNG Wort 11 By ‚sacred‘ we mean ‚fully connected‘. The word ‘sacred’ in … ‘Heilig’ bedeutet ‘vollständig verbunden’. In vielen indigenen Sprachen ist das ‚Heilige‘ und die ‚Verbundenheit mit allem, was ist‘ praktisch das Gleiche. Geschichtenerzähler hatten die Fähigkeit, Menschen mit Dingen, Erfahrungen, ja mit ‚dem Wunder‘ zu verbinden. Und in vielen Kulturen waren sie zugleich die Heiler. Denn ‚Heilen‘ bedeutet doch, Zerbrochenes wieder zusammen zu fügen. Indem die Erzähler das mit Worten machten, heilten sie und heiligten , was Heiligkeit verloren hatte. Und das ist dann Heilung. …. That is healing to me! ZUSPIELUNG Atmo 4 (indianische Gesänge) SPRECHER Geschichtenerzähler brauchen Zuhörer, brauchen ein Gegenüber, brauchen Gemeinschaft. In einer Gesellschaft, in der niemand mehr richtig zuhört, gibt es auch keine Geschichtenerzähler. Und wo niemand aufmerksam, neugierig und emphatisch zuhört, erzählt auch niemand mehr seine eigene Lebensgeschichte, den eigenen Mythos, die eigene Heldenreise voller Kämpfe, Prüfungen, Herausforderungen, Niederlagen und Siege. SPRECHERIN Und dann verlieren sich die Menschen, verlieren den Sinn, den Stolz, die Würde und ihre Identität. Sie fühlen sich nicht mehr, werden zum ungesehenen ‚Nobody‘, vegetieren im sozialen Niemandsland. Dazu kann es kommen, wenn Minderheiten nicht gehört werden, wenn Alte ausgegrenzt werden, wenn Vertriebene und Flüchtlinge ihre Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 10 Geschichte nicht erzählen können. Das ist überall so. Im südafrikanischen Kapstadt hat die Sozialaktivistin Gilian Wilton, die selber von den Buschleuten, den ‚KhoiSan‘ abstammt, deshalb einen ‚Storytelling Garden‘ gegründet, wo das Schweigen, die Scham, die Isolation durchbrochen werden und man sich wieder zuhört. ZUSPIELUNG Wort 12 Behind the idea of the story telling garden is to share stories … Dahinter steht die Idee, einander – über alle Unterschiede hinweg – zuzuhören und sich zu bezeugen, (2:20) um die größere Gemeinschaft zu stärken. (6:10) Wir sehen so viele traurige und einsame Menschen, die nicht an sich glauben. Wenn sie ihre Geschichte erzählen, werden sie als das gesehen, was sie sind und erkennen, welches Geschenk ihre einzigartige Biographie für andere ist. Und wenn wir einander zuhören, erkennen wir auch, dass wir nicht allein sind … and we also see that we are not alone. ZUSPIELUNG Atmo 5 (Gesänge im Kapstädter Vorortzug) SPRECHER Fast alle Geschichten erzählen von Wandel, der Mythenforscher Joseph Campell sprach sogar vom ‚Monomythos‘ der Transformation und dem Grundmuster „Verlassen des Bekannten / Schwellenphase / neues Leben“. Wenn keine Geschichten vom Wandel mehr erzählt werden, fehlen die Vorbilder und Archetypen der Veränderung. Dann bleiben Menschen bei ihren einmal angenommenen Biographien und sind unfähig sich zu verändern. SPRECHERIN Identität ist die Geschichte, die wir uns selbst über uns erzählen. Sie ist der Orientierungsrahmen, mit dem wir festlegen, wer wir sind, was wir können, wofür wir leben, woran wir glauben. All diese Orientierungen ergeben dann unsere Geschichte, die uns hilft, dem Leben einen Sinn zu geben. Damit das Leben einen Sinn hat, muss die Geschichte aber aufgehen, sagt die Schweizer Psychologin und Therapeutin Ega Friedmann. Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 11 ZUSPIELUNG Wort 13 Wenn unsere Geschichte nicht mehr aufgeht, verlieren wir den Sinn. Darum ist es so schwierig, seine Geschichte zu verändern. Also die Geschichten bewegen sich nicht mehr, wenn wir voller Ressentiments sind gegen das, was in der Vergangenheit passiert ist, alle diese negativen Gefühle halten uns in der Geschichte fest und wir können sie nicht mehr erweitern. (2/8:55) Erstens mal sind das alle Übergänge. In der Regel versucht man zuerst sogenannte objektive Lösungen, bevor man entdeckt, dass sich etwas von der eigenen Lebensgeschichte verändert hat, dass die alte Geschichte nicht mehr weiter geht, dass sie öde und langweilig wird. Es wird etwas depressiv, es ist uninteressant, es hat keine Perspektive mehr. Und dann kommen die Zeichen, die Dir sagen, da könnte eine neue Perspektive auftauchen. Da ist der Anfang von einer veränderten Geschichte. (36:30) Sobald wir eine Geschichte mehr als von einem Standpunkt aus betrachten können, haben wir die Freiheit sie neu zu arrangieren. Und das gibt uns eine neue Zukunft, gibt uns neue Möglichkeiten: die Fähigkeit, unsere Wahrnehmung ein kleines bisschen zu verschieben. SPRECHER Was früher von geschichtenerzählenden Heilern geleistet wurde, ist heute Aufgabe der Therapeuten. Sie helfen, wenn alte Geschichten keinen Sinn mehr ergeben, aber neue noch nicht sichtbar sind. Sie hören sich die Geschichten ihrer Klienten an, kratzen an den Wurzeln überholter Selbstbilder, spüren Widersprüche und prägende Traumata auf. Im besten Falle zerbricht dann die alte Rüstung, die nicht mehr passt und eine neue Identität, eine neue Geschichte mit neuem Sinn bekommt Raum. Dann wachsen die Menschen. Und das Gefühl von Sinnlosigkeit und Sterben transformiert sich in die Erfahrung von Neugeburt. Tausende von alten Geschichten thematisieren diesen Archetyp von Tod und Wiedergeburt. SPRECHERIN Der alte Archetyp wirkt weiter. Was kulturell aber neu ist, ist das Wissen um die Macht der eigenen Geschichte und die unbegrenzte Möglichkeit, sie zu verändern. Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 12 SPRECHER Die Welt ist, wie wir sind, weil wir sie so gestalten. Wenn unsere Geschichte sich wandelt, dann strukturieren wir unsere Wahrnehmung um, verändern unsere Handlungen und wandeln die Welt. Das kennt jeder, der sich einmal verliebt hat: Die Welt beginnt zu leuchten, alles fließt zusammen. Können wir also mit neuen Geschichten über uns die Wirklichkeit verändern? Deutlich wird: ‚Storytelling‘, Geschichten erzählen, mag uralt sein. Altmodisch oder überholt ist es aber sicher nicht. Es wird vielmehr erst richtig entdeckt. Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute.) Fax: 089/5900-46258 [email protected] www.bayern2.de © Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! Bayerischer Rundfunk 2015 Seite 13
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