Es war einmal… - Bayerischer Rundfunk

Manuskript
Evangelische Perspektiven
„Es war einmal…“
Die Wiederentdeckung des Story Telling
Autor/in:
Geseko von Lüpke
Redaktion:
Friederike Weede / Matthias Morgenroth
Religion und Kirche
Sendedatum:
Sonntag, 18. Oktober 2015 / 08.30 - 09.00 Uhr
http://www.br.de/themen/religion/index.html
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Bayerischer Rundfunk 2015
Seite 1
ZUSPIELUNG Wort
1
(Schliephake)
"Endlich war er da, an seinem Baum. Eigentlich war es gar nicht sein Baum. Er hat ihn
nicht gepflanzt, er gehörte ihm auch nicht, aber seit Kindertagen stand dieser Baum hier
auf dem Marktplatz. Er umarmte den Baum und hielt seine Wange an die knochige
Rinde. Und plötzlich hatte er Bilder in seinem Kopf, erinnerte sich: Als Kind war er oft auf
diesen Baum geklettert, hatte sich versteckt oben zwischen den Zweigen und Ästen.
Und dann rief seine Mutter: 'Zachäus, komm runter, das Essen ist fertig“. Lang ist das
her.
SPRECHERIN
Es ist mucks-mäuschen-still in den Gemeinderäumen des Michaelisklosters in
Hildesheim. Die Kinder haben sich nach vorne gebeugt, die Ohren gespitzt. Manche
lauschen mit geschlossenen, andere mit vor Spannung weit geöffneten Augen. Die
Atmosphäre ist dicht, die Stille wie geladen, als der Pfarrer Dirk Schliephake,
Beauftragter für Kindergottesdienst der Evangelisch-lutherischen Landeskirche
Hannovers die biblische Geschichte vom jüdischen Zöllner Zachäus und seiner
Begegnung mit Jesus erzählt. Auch die Erwachsenen im Raum lauschen gespannt, um
nichts von den Bildern zu verpassen, die sich da vor den inneren Augen aufblättern. Als
sei es Sonntagabend und ‚Tatort‘-Zeit, nur viel direkter, unmittelbarer, authentischer.
ZUSPIELUNG
Wort
2
Und dann hörte ich an der Zollstation, wie die Kollegen sagten, "Da kommt einer aus
Nazareth, der hat sogar einen Gelähmten geheilt". Den wollte ich sehen unbedingt. Und
dann schloss ich die Zollstation zu und lief zu dem Marktplatz. Und die Leute ließen mich
nicht durch: "Dich kennen wir! Du stellst Dich hinten an!“ Und dann sah ich meinen
Baum wieder. Ich hatte ihn seit Kindertagen nicht mehr beachtet. Dann kletterte ich
hinauf und versteckte mich und von oben konnte ich sehen, wie immer mehr Menschen
auf den Platz kamen. Hier war ich sicher. Und dann hörte ich diese Stimme: „Zachäus,
komm vom Baum runter. Ich will mit Dir und Deiner Familie zu Abend essen!"
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Seite 2
SPRECHER
Es ist eine jener Bibel-Geschichten, die davon erzählen, wie der Gottessohn jenseits
aller Vorurteile jemanden wahr- und ernstnimmt, den die Gemeinschaft längst als
‚schlecht‘, als ‚Verräter‘, als ‚Kollaborateur‘ verstoßen hat. Eine Geschichte, in der alles
neu wird. Ein uraltes Thema. Aber nicht von der Kanzel gepredigt, sondern frei erzählt.
Mit ganz anderer Wirkung, sagt Dirk Schliephake.
ZUSPIELUNG
Wort
3
Erzählen ist mehr als nur Hören. Ich sage immer: „Wir malen mit Worten Bilder“. Das
heißt, was ich als Erzähler sehe, wenn ich das erzähle, sehen das meine Zuhörer auch.
‚Kino im Kopf‘ sagen die Kinder. Das was ich fühle mit einem Menschen, dieses Gefühl
haben die Zuhörer auch. Das was ich rieche, das was ich schmecke, was ich anfasse.
Das ist sozusagen eine ganzheitliche, sinnorientierte Form der Verkündigung. Und diese
selbstentdeckten Bilder, die bleiben.
ZUSPIELUNG Atmo (knisterndes Lagerfeuer)
SPRECHERIN
Wenn heute in kirchlichen Gemeindehäusern ‚Bibelerzählen‘ auf dem Programm steht,
dann schließt sich ein Kreis. Ein uralter, in dem auch die Geschichte des Christentums
kaum mehr ist als ein Wimpernschlag. Wir alle kennen das unerklärliche Gefühl, dass
sich auftut, wenn wir nachts am Feuer sitzen und beim Knistern des brennenden Holzes
Geschichten lauschen, die erzählen von den Rätseln und Geheimnissen des Lebens,
vom Profanen und Heiligen, von menschlichen Erfahrungen. Das ist wie eingeprägt in
die Zellen unseres Körpers, sagt Jon Young, amerikanischer Erzählforscher und
Wildnispädagoge, den es immer wieder zu den Buschleuten im Süden Afrikas zieht, wo
alle Erzählkultur ihren Anfang nahm.
ZUSPIELUNG
Wort 4
This people have been practicing this way of being for 130.000 ...
Diese Menschen erzählen sich seit mindestens 130.000 Jahren Geschichten. Sie sind
die gemeinsamen Urahnen der Menschheit in der Kalahari und dem Rift-Valley, auf die
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Seite 3
man uns alle genetisch zurückführen kann. Und vielleicht sitzen sie schon doppelt so
lang. Die Frühgeschichtsforschung sagt, dass die ersten Menschen schon vor eine
Viertelmillion Jahren an der Küste Südafrikas, nahe dem heutigen Kapstadt, um das
Feuer saßen. Ich glaube wirklich, dass es soweit zurückgeht.
…. I think it goes back that far
SPRECHER
Heilige Bücher gibt es in der langen Geschichte der menschlichen Spezies erst seit
kurzem. Über Jahrhunderttausende wurden die Parabeln, Legenden, Mythen und
Geschichten – die Essenzen menschlicher Erfahrungen – im nächtlichen Kreis am Feuer
erzählt. Die orale Tradition des ‚Storytelling‘, des ‚Geschichtenerzählens‘ diente der
Weitergabe kultureller Traditionen, sozialer Regelwerke, der Stammesgeschichte – aber
auch der spirituellen Traditionen.
SPRECHERIN
Schöpfungsgeschichten boten Erklärungsmodelle für das Numinose, das Unbegreifliche
der Welt, in die sich der staunende Mensch geworfen wusste. Eine Metaphern-Sprache
versuchte, das Unaussprechliche und damit Heilige der Welt symbolisch fassbar zu
machen. Die oft über zahllose Generationen unverändert erzählten Geschichten wirkten
dabei wie eine Brücke zu den Ahnen, verbanden Mensch und Land, und wirkten wie ein
Garant für kulturelle Traditionen. David Archie, Medizinmann bei den Squamisch,
Ureinwohnern an der kanadischen Westküste, beschreibt, was wohl für alle
nomadisierenden Völker zu allen Zeiten galt.
ZUSPIELUNG
Wort 5
It would not make any sense to us to have a lot of written …
Es hätte keinen Sinn ergeben Dinge festzuhalten und aufzuschreiben, die wir dann
hätten transportieren müssen. Also verwahrten wir die Informationen in unseren Herzen
und Köpfen. Wohin wir auch kamen, feierten wir die erzählten Erinnerungen als tiefe
Verbindung zum Land. (6:20) Wenn eine neue Erinnerung und Verbindung dazu kam,
passierte das im Kontakt mit dem, was an Geschichten schon da war. (4:10) Sie wurden
mündlich, ohne Schriftsprache, von Generation zu Generation weitergegeben. Indem es
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Seite 4
von den Ältesten an die Jüngeren übermittelt wurde, entstanden keine Hierarchien, alle
waren gleich wichtig und jeder war Teil des Ganzen.
…. there is no seperation is equal, and everyone is included.
SPRECHER
Erst langsam wird den Kulturhistorikern und Anthropologen klar, dass die schriftlosen
Völker der ‘grauen Vorzeit’, die alles mündlich weitergaben, nicht ‚primitiv‘ genannt
werden können. Im Gegenteil: Geschichten in Jäger- und Sammlerkulturen zu erzählen
war eine hohe Kunst, die ein spezielles Training erforderte, eine Übung in
Naturverbundenheit, ein Training der Achtsamkeit.
SPRECHERIN
Die Erzähler und Erzählerinnen wurden darin ausgebildet, ihre Sinne so zu schärfen,
dass sie eine maximale Wahrnehmung der lebendigen Welt entwickelten. Dazu gehörte
es, Spuren zu lesen, Tiergeräusche zu verstehen, das Wetter zu lesen, mit der eigenen
Intuition verbunden zu sein. Jon Young, der immer wieder bei den südafrikanischen
KhoiSan, den Buschleuten in die Lehre geht, gibt einen Eindruck jener Kunst, die darin
besteht, vergangene Erfahrungen so zu erzählen, dass die Zuhörer meinen, es
geschähe alles in ihrer Gegenwart.
ZUSPIELUNG
Wort
6
When they share something, which has happened in the past …
Wenn sie etwas erzählen, was in der Vergangenheit passiert, ob real oder im Land der
Mythen, lassen sie uns über unsere Ohren, unseren Geruchssinn, unsere Emotionen,
über alle verfügbaren Sinne am Geschehen teilhaben. Darin liegen die Kunst und die
Macht des Geschichtenerzählens. (4:38) Dabei sind Spurenlesen und
Geschichtenerzählen eng miteinander verbunden. Wenn Du von der Jagd
zurückkommst, bringst Du eine Geschichte mit, die alle die nicht dabei waren, abends
am Feuer von Deinen Erfahrungen lernen lässt. Und die Ältesten hören zu und stellen so
sicher, dass wirklich alle mentalen Fähigkeiten des Erzählers entwickelt sind.
…
capacities are involved in sharing a story.
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Seite 5
SPRECHER
In jenen frühen Kulturen, die in unmittelbarer Symbiose mit der natürlichen Welt lebten,
war das Geschichtenerzählen mehr als Unterhaltung. Es war eine Schule der
Verbundenheit mit der lebendigen Welt, es war die Qualitätskontrolle für offene Sinne,
es war Lernen fürs Leben, es war Gefahrenabwehr für’s Kollektiv.
SPRECHERIN
Geschichtenerzählen war überlebenswichtig, gerade in einer Welt voller Raubtiere, sagt
der Anthropologe und Wildniskenner Jon Young und erzählt selbst eine Geschichte.
ZUSPIELUNG
Wort
7
There is an elder in Botswana in the central Kalahari, …
Es gibt in der zentralen Kalahari Botswanas einen Ältesten namens Sanama. Er ist
Heiler bei den KhoiSan, aber auch Geschichtenerzähler. Ich saß eines Abends bei ihm,
als er mir sagte, er würde später den Kindern des Stammes eine Geschichte erzählen.
Es sei die älteste Geschichte, die er kenne, meinte er. Und es ist sicherlich auch die
kürzeste, denke ich. Der Unterhaltungswert für die Kinder war groß: Sie wussten, der
alte Mann erzählt. Sie kannten die Geschichte. Und sie kamen alle zusammen. Das
Feuer wurde entzündet. Und er begann: „Vor langer, langer Zeit fraßen die Löwen viele
von uns Buschleuten. Ja, sie aßen viele von uns!“ Das war die ganze Geschichte,
Anfang, Mitte und Ende. Die Kinder hatten sie schon Hundertmal gehört und wollten sie
immer wieder hören. Sie dauerte 20 Sekunden. … to hear it anyway. It lasted 20
seconds.
ZUSPIELUNG Atmo 2 (Musik der Buschleute)
SPRECHER
Diese existentiellen Gefahren, denen der Mensch in seiner langen Geschichte
ausgesetzt war, haben wohl dazu geführt, dass er – unabhängig von Alter, Milieu und
Kultur – so empfänglich ist für das Medium ‚Geschichte‘. Es galt, voneinander zu lernen,
Wissen auszutauschen, sich über Gefahren zu informieren. Bis heute, so die Erkenntnis
der Neurobiologie, funktioniert das Gehirn erfahrungs- und gefühlsorientiert so, dass es
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entweder selbstgemachte Erfahrungen abspeichert oder aber authentisch erzählte
Geschichten von existentiellen Erlebnissen. Beides hilft dem Menschen, in eigenen
Krisensituationen richtig zu reagieren.
SPRECHERIN
Doch der Zauber des ‚Storytelling‘ an den Lagerfeuern der Vorzeit geht noch weiter. Mit
den urzeitlichen Geschichten entstand Weltdeutung, mit Weltdeutung Bewusstsein, mit
Bewusstsein Kultur, Identität, Gemeinschaft. Der Strom des Seins wurde in Erzählungen
benannt, definiert, differenziert. Durch den zwischenmenschlichen Austausch über
existentielle Erfahrungen im Geschichtenerzählen strukturierte sich Wahrnehmung,
entstanden Strukturen im Gehirn. Ein unglaublicher Prozess zwischen äußerer und
innerer Welt begann, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther:
ZUSPIELUNG
Wort 8
Der Sitz der Sprache ist das gesprochene Wort. (3/16:10) Hier werden also kulturell
gemachte Erfahrungen transkulturell weiter gegeben und diese Erfahrungen werden
immer wieder in jeder Generation im Hirn der jeweiligen Nachkommen zu
erfahrungsbedingten Strukturen umgewandelt. Es ist ein toller Prozess, der jetzt schon
fast esoterische Dimensionen annimmt, wenn man so oberflächlich draufschaut, denn
hier wird ja etwas Immaterielles in Materie verwandelt. Eine Erfahrung, die ganz
immateriell ist, hinterlässt im Hirn Spuren, die der Hirnforscher in Form von neuen
Vernetzungen sehen kann. Und diese neuen Vernetzungen, diese materielle Struktur,
erzeugt dann Gedanken und Bewusstsein und Worte, die man nun wieder gar nicht
mehr sehen kann, die ganz und gar immateriell sind.
SPRECHER
Im Geschichtenerzählen – seien es Jagderlebnisse, exemplarische Lebenserfahrung,
kulturelles Wissen, Welterklärung, Schöpfungsmythen oder Erfahrungen des
Numinosen, Spirituellen, Religiösen – gestalteten sich über Jahrzehntausende Kulturen
in ihrer ganzen Vielfalt. Ohne Schrift. Und die oralen Traditionen waren wie ein Netz aus
Weisheiten, welches die Menschen durchs Leben trug. Orale Tradition bot Sicherheit,
Orientierung, Sinn. Märchen entstanden daraus, Mythen, Heldengeschichten, aber auch
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Seite 7
Handlungsanweisungen für die individuellen Übergänge, sagt der walisische
Geschichtenerzähler und Mythologe Martin Shaw.
ZUSPIELUNG
Wort 9
Myth, poetry, folk tails are the kind of secret history of …
Mythen, Dichtung, Märchen und Geschichten sind so eine Art geheime Geschichte der
Welt. Sie sind als magisches Wissen Teil der Welt der Stammeskulturen, das über
Jahrhunderte weiter gegeben wurde. Viele der Geschichten handeln von der Beziehung
zwischen der Kultur – dem Stamm, dem Dorf, der Stadt – und den wilden Regionen
drum herum: mythischen Orten voller Bären, Wälder, Berge und Flüsse. Und die
Geschichten drehen sich dann oft darum, den sichern Ort – Familie, Arbeit, Heimat,
Identität zu verlassen. (4:15) Wenn Du über einen guten Erzähler der richtigen
Geschichte begegnest, kannst Du Dich in den Fragen Deines eigenen Lebens
wiederfinden: Wo hast Du Deinen Weg verloren? Was ist die Krise Deines Lebens? Mit
welchen Drachen musst Du kämpfen? Wo kann Kummer und Not zu Schönheit werden?
Und auf diese Weise können Mythologie und Geschichten Dir helfen, Deinen
Lebenssinn wiederzuentdecken. Sie sind wie Schatztruhen, die Bilder und Metaphern
enthalten, die Dir dabei helfen mit Stil und Würde durchs Leben zu kommen. …with
dignity and a little bit of style.
SPRECHERIN
Erst viel später wurden die Geschichten und Mythen, die über zahllose Generationen nur
mündlich überliefert worden waren, verschriftlicht. In den großen Heldensagen und
Märchen, aber auch in ‚heiligen Büchern‘, den Upanischaden des Hinduismus, in der
Bibel, im Koran. Um sie herum bildeten sich nicht nur kulturelle und religiöse
Institutionen, sondern auch Ideologien und Riten, welche ‚die Schrift‘ auslegten, die
Schrift nicht mehr ‚das Wort‘. In der Moderne und ihrer medialen Vielfalt ist die uralte
Tradition des ‚Story Telling‘ fast ausgestorben, damit aber auch der lebendige Zugang
zum Wunder des Lebens verschüttet. Heute erzählen Kino, Fernsehen und Internet die
Geschichten, die konsumiert werden, aber kaum mehr wirken. Doch es gibt
Bemühungen, die alten Werkzeuge neu zu entdecken und den alten Zauber des
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Seite 8
Erzählens neu zu wecken. Dazu gehört die Ausbildung zum Bibelerzähler, zur
Bibelerzählerin, wie sie Dirk Schieplake in Kooperation mit den großen Kirchen anbietet.
ZUSPIELUNG
Wort 10
Diese Ausbildung will dieses alte Handwerk des Bibelerzählens, Kunstwerk und
Mundwerk, wieder neu beleben. (29:10) Die Teilnehmerinnen veranstalten eigene
Bibelerzählabende. Sie erzählen im Gottesdienst, in der Messe, im Kindergottesdienst,
bei Frauennachmittagen, bei Männerabenden. Und plötzlich zieht dieses Erzählen
Kreise, Kreise, Kreise. Und ich glaube es ist ein neuer ökumenischer Weg. (32:12) Das
Geheimnis des Bibelerzählens ist tatsächlich, dass uns das so berührt, als wären wir
damals selbst dabei gewesen. Das wichtige ist, dass diese Geschichten nicht
abgeschlossen sind, dass wir möglichst offen erzählen, vielleicht mit einer Frage enden und dann mit den Leuten ins Gespräch kommen. Ich glaube, dass ist das Geheimnis,
dass man an Erfahrungen, die die Menschen kennen – scheitern, gewinnen, gerettet
werden, jemanden verlieren – dass man an diesen existentiellen Erfahrungen, die in
Bibelgeschichten alle verborgen sind, wenn man die neu erzählt und damit berührt, dann
öffnen sich diese Menschen und erweitern ihren Erfahrungsschatz und machen
Erfahrungen der Nähe Gottes.
ZUSPIELUNG
Atmo 3
SPRECHER
Da werden die kunstvollen Einstiege geübt, wie hier die Bibelpassage, wo Jesus auf
dem See Genezareth über das Wasser zu den Jüngern läuft: Die Körperhaltung, die
Betonung, der Kontakt zum Hörer, die Dramaturgie, die emotionale Durchdringung, die
sinnliche Präsenz.
SPRECHERIN
Es sind dieselben Qualitäten, die seit Jahrzehntausenden von den Geschichtenerzählern
in indigenen Kulturen trainiert werden. Denn auch dort überließ man das ‚Storytelling‘
nicht Hinz und Kunz, sondern suchte sich die Talente und trainierte sie. Dabei war die
Ausbildung zum Erzähler auch eine Art spirituelle Schulung. Ging es für die
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Seite 9
Geschichtenerzähler doch darum, die Welt mit sieben Sinnen zu erkennen zu lernen,
größtmögliche Achtsamkeit zu entwickeln und so sehr mit dem Netz des Lebens in der
Natur zu verschmelzen, dass in den Hörern ihrer Geschichten selbst das Gefühl der
Verbundenheit entstand. Und je tiefer sie wahrnehmen gelernt hatten, desto mehr
waren sie im Kontakt mit dem Ganzen, dem Göttlichen, dem Heiligen und konnten auch
heilen, glaubt der Anthropologe und Kulturforscher Jon Young
ZUSPIELUNG
Wort
11
By ‚sacred‘ we mean ‚fully connected‘. The word ‘sacred’ in …
‘Heilig’ bedeutet ‘vollständig verbunden’. In vielen indigenen Sprachen ist das ‚Heilige‘
und die ‚Verbundenheit mit allem, was ist‘ praktisch das Gleiche. Geschichtenerzähler
hatten die Fähigkeit, Menschen mit Dingen, Erfahrungen, ja mit ‚dem Wunder‘ zu
verbinden. Und in vielen Kulturen waren sie zugleich die Heiler. Denn ‚Heilen‘ bedeutet
doch, Zerbrochenes wieder zusammen zu fügen. Indem die Erzähler das mit Worten
machten, heilten sie und heiligten , was Heiligkeit verloren hatte. Und das ist dann
Heilung.
…. That is healing to me!
ZUSPIELUNG
Atmo
4
(indianische Gesänge)
SPRECHER
Geschichtenerzähler brauchen Zuhörer, brauchen ein Gegenüber, brauchen
Gemeinschaft. In einer Gesellschaft, in der niemand mehr richtig zuhört, gibt es auch
keine Geschichtenerzähler. Und wo niemand aufmerksam, neugierig und emphatisch
zuhört, erzählt auch niemand mehr seine eigene Lebensgeschichte, den eigenen
Mythos, die eigene Heldenreise voller Kämpfe, Prüfungen, Herausforderungen,
Niederlagen und Siege.
SPRECHERIN
Und dann verlieren sich die Menschen, verlieren den Sinn, den Stolz, die Würde und
ihre Identität. Sie fühlen sich nicht mehr, werden zum ungesehenen ‚Nobody‘, vegetieren
im sozialen Niemandsland. Dazu kann es kommen, wenn Minderheiten nicht gehört
werden, wenn Alte ausgegrenzt werden, wenn Vertriebene und Flüchtlinge ihre
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Seite 10
Geschichte nicht erzählen können. Das ist überall so. Im südafrikanischen Kapstadt hat
die Sozialaktivistin Gilian Wilton, die selber von den Buschleuten, den ‚KhoiSan‘
abstammt, deshalb einen ‚Storytelling Garden‘ gegründet, wo das Schweigen, die
Scham, die Isolation durchbrochen werden und man sich wieder zuhört.
ZUSPIELUNG
Wort 12
Behind the idea of the story telling garden is to share stories … Dahinter steht die Idee,
einander – über alle Unterschiede hinweg – zuzuhören und sich zu bezeugen, (2:20) um
die größere Gemeinschaft zu stärken. (6:10) Wir sehen so viele traurige und einsame
Menschen, die nicht an sich glauben. Wenn sie ihre Geschichte erzählen, werden sie als
das gesehen, was sie sind und erkennen, welches Geschenk ihre einzigartige
Biographie für andere ist. Und wenn wir einander zuhören, erkennen wir auch, dass wir
nicht allein sind … and we also see that we are not alone.
ZUSPIELUNG
Atmo 5 (Gesänge im Kapstädter Vorortzug)
SPRECHER
Fast alle Geschichten erzählen von Wandel, der Mythenforscher Joseph Campell sprach
sogar vom ‚Monomythos‘ der Transformation und dem Grundmuster „Verlassen des
Bekannten / Schwellenphase / neues Leben“. Wenn keine Geschichten vom Wandel
mehr erzählt werden, fehlen die Vorbilder und Archetypen der Veränderung. Dann
bleiben Menschen bei ihren einmal angenommenen Biographien und sind unfähig sich
zu verändern.
SPRECHERIN
Identität ist die Geschichte, die wir uns selbst über uns erzählen. Sie ist der
Orientierungsrahmen, mit dem wir festlegen, wer wir sind, was wir können, wofür wir
leben, woran wir glauben. All diese Orientierungen ergeben dann unsere Geschichte, die
uns hilft, dem Leben einen Sinn zu geben. Damit das Leben einen Sinn hat, muss die
Geschichte aber aufgehen, sagt die Schweizer Psychologin und Therapeutin Ega
Friedmann.
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Seite 11
ZUSPIELUNG
Wort 13
Wenn unsere Geschichte nicht mehr aufgeht, verlieren wir den Sinn. Darum ist es so
schwierig, seine Geschichte zu verändern. Also die Geschichten bewegen sich nicht
mehr, wenn wir voller Ressentiments sind gegen das, was in der Vergangenheit passiert
ist, alle diese negativen Gefühle halten uns in der Geschichte fest und wir können sie
nicht mehr erweitern. (2/8:55) Erstens mal sind das alle Übergänge. In der Regel
versucht man zuerst sogenannte objektive Lösungen, bevor man entdeckt, dass sich
etwas von der eigenen Lebensgeschichte verändert hat, dass die alte Geschichte nicht
mehr weiter geht, dass sie öde und langweilig wird. Es wird etwas depressiv, es ist
uninteressant, es hat keine Perspektive mehr. Und dann kommen die Zeichen, die Dir
sagen, da könnte eine neue Perspektive auftauchen. Da ist der Anfang von einer
veränderten Geschichte. (36:30) Sobald wir eine Geschichte mehr als von einem
Standpunkt aus betrachten können, haben wir die Freiheit sie neu zu arrangieren. Und
das gibt uns eine neue Zukunft, gibt uns neue Möglichkeiten: die Fähigkeit, unsere
Wahrnehmung ein kleines bisschen zu verschieben.
SPRECHER
Was früher von geschichtenerzählenden Heilern geleistet wurde, ist heute Aufgabe der
Therapeuten. Sie helfen, wenn alte Geschichten keinen Sinn mehr ergeben, aber neue
noch nicht sichtbar sind. Sie hören sich die Geschichten ihrer Klienten an, kratzen an
den Wurzeln überholter Selbstbilder, spüren Widersprüche und prägende Traumata auf.
Im besten Falle zerbricht dann die alte Rüstung, die nicht mehr passt und eine neue
Identität, eine neue Geschichte mit neuem Sinn bekommt Raum. Dann wachsen die
Menschen. Und das Gefühl von Sinnlosigkeit und Sterben transformiert sich in die
Erfahrung von Neugeburt. Tausende von alten Geschichten thematisieren diesen
Archetyp von Tod und Wiedergeburt.
SPRECHERIN
Der alte Archetyp wirkt weiter. Was kulturell aber neu ist, ist das Wissen um die Macht
der eigenen Geschichte und die unbegrenzte Möglichkeit, sie zu verändern.
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SPRECHER
Die Welt ist, wie wir sind, weil wir sie so gestalten. Wenn unsere Geschichte sich
wandelt, dann strukturieren wir unsere Wahrnehmung um, verändern unsere
Handlungen und wandeln die Welt. Das kennt jeder, der sich einmal verliebt hat: Die
Welt beginnt zu leuchten, alles fließt zusammen. Können wir also mit neuen
Geschichten über uns die Wirklichkeit verändern?
Deutlich wird: ‚Storytelling‘, Geschichten erzählen, mag uralt sein. Altmodisch oder
überholt ist es aber sicher nicht. Es wird vielmehr erst richtig entdeckt.
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