Frau Holle

Manuskript
radioWissen
SENDUNG: 29.04.2015
09.30 Uhr / B 2
AUFNAHME:
STUDIO:
ETHIK, RELIGION
Ab 7. Schuljahr
TITEL:
Frau Holle –
Vom achtsamen Umgang mit den Dingen
AUTOR/IN:
Christian Feldmann
REDAKTION:
Susanne Poelchau
REGIE:
Eva Demmelhuber
TECHNIK:
Michael Krogmann
PERSONEN:
Sprecherin
Hemma Michel
Sprecher
Andreas Neumann
Erste Zitatorin
Beate Himmelstoß
Zweite Zitatorin Diana Gaul
Zitator
Peter Weiß
Zuspielungen: Maria Leonarda Castello, Hamburg
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Musik Z9375905004 Frau Holle, Frau Holle, die schüttelt ihre Betten aus
Erste Zitatorin:
Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere
hässlich und faul. Sie hatte aber die hässliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter
war, viel lieber, und die andere musste alle Arbeit tun (…). Das arme Mädchen
musste sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und musste so
viel spinnen, dass ihm das Blut aus den Fingern sprang.
Sprecher:
„Frau Holle“ ist eines jener Märchen, von dem Kinder nicht genug kriegen können
und das Erwachsene niemals vergessen.
Märchen-Collage
CD408330W01
Musik Z9375905004
„Frau Holle“ – die Geschichte von der tüchtigen Goldmarie, die ihre Garnspule in den
Brunnen fallen lässt, aus lauter Angst vor der hartherzigen Stiefmutter selbst ins
Wasser springt, in einem wunderschönen unterirdischen Land voller Blumen die Frau
Holle trifft und auch bei ihr wieder so viel Fleiß zeigt, dass sie zum Abschied mit
einem prächtigen Goldregen belohnt wird.
Musik aus
Ihre träge den Tag verschlafende Schwester will sich auch eine Ladung Gold
verschaffen: Sie rafft sich zum Sprung in den Brunnen auf, aber bei Frau Holle
benimmt sie sich so unmöglich, dass sie bald wieder heimgeschickt wird – allerdings
mit Pech begossen. Und so heißt sie in Zukunft auch: Pechmarie.
Sprecherin:
Eine unsterbliche Geschichte, betörend und zeitlos. 2006 hat eine Jury „Frau Holle“
zu „Deutschlands schönstem Märchen“ gewählt.
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Woher kommt diese Faszination? Liegt es an dem herrlich schadenfrohen Gefühl,
das die Belohnung des braven Mädchens und die Bestrafung seiner ungeratenen
Schwester auslöst? Aber so einfach ist es ja nicht: Was kann die Pechmarie dafür,
dass man sie so verzogen hat? Ein faules, freches Früchtchen ist sie – na und?
Warum soll sie sich ändern? Die Mutter schimpft nie und erfüllt ihr jeden Wunsch.
Und vor allem: Finden sich nicht viele ganz normale Mädchen und auch Buben eher
in der trotzigen, gegen häuslichen Drill und Rollenzwänge aufbegehrenden Rotznase
wieder statt in der entsetzlich braven, flink gehorchenden, verdächtig arbeitswütigen
Goldmarie?
Sprecher:
Oder sind es die tiefenpsychologischen Hintergründe, die das Märchen bis heute
derart erfolgreich gemacht haben? Die konfliktträchtige Ablösungsgeschichte, die
viele junge Menschen mit der Goldmarie teilen: Sie verlässt ihre schwierige Mutter,
ein Vater kommt gar nicht vor, sie absolviert ihre Lehrzeit außerhalb der Familie, am
Ende wird sie wohl ein strahlender Königssohn, geblendet von ihren goldglitzernden
Klamotten, auf sein Pferd heben und in eine herrliche Zukunft entführen.
Sprecherin:
„Frau Holle“ steckt voller Anspielungen und geheimer Bedeutungen. Was heißt das,
wenn die Goldmarie jeden Tag auf Geheiß der Stiefmutter draußen am Brunnen
spinnen muss, spinnen bis zur Erschöpfung? Die Hamburger
Literaturwissenschaftlerin Maria Leonarda Castello betreibt die Märchenforschung
als Steckenpferd, und „Frau Holle“ ist ihre Lieblingsgeschichte.
Zuspielung Maria Leonarda Castello, CLIP 3 (51”):
Erstens war das Spinnen eine der Haupttätigkeiten von Frauen. Zu spinnen, war
göttlich, das wissen wir aus der Odyssee. Göttinnen spannen, Königinnen spannen,
und wer gut spinnen konnte, das war sozusagen eine Art Goldgrube.
Gut gesponnenes Garn war sehr viel wert. Es gibt einen mythologischen Strang, der
hat was zu tun mit dem Spinnen des Lebensfadens. Das heißt, es gibt einmal diesen
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ganz klaren wirtschaftlichen und alltäglichen, historischen Aspekt, und dann gibt´s
diesen mythologischen, nämlich die drei Schicksalsgöttinnen: Die eine liest das
Lebensbuch, die zweite spinnt den Lebensfaden, und die dritte schneidet ihn durch;
das zieht sich sozusagen von den Griechen durch bis zu den germanischen Nornen.
Musik 82037410Z00
Sprecherin:
Die vom vielen Spinnen blutig gewordene Spule fällt in den Brunnen, die Goldmarie,
wie man sie später nennen wird, springt hinterher – und findet sich in einem
Zauberland wieder, wo die Sonne scheint und tausend Blumen blühen. Der Brunnen
kommt hier nicht nur deshalb vor, weil die Goldmarie ihren Flachs mit dem Wasser
rasch anfeuchten kann. Aus der Psychotherapie und Traumdeutung weiß man, wofür
Brunnen stehen: für die Tiefendimension der eigenen Seele, für eine abgründige
Welt jenseits der Alltagswirklichkeit. Hier entspringt das Wasser des Lebens, hier
offenbaren sich Geheimnisse und spricht das Unbewusste. Diese unterirdische Welt
ist bedrohlich und überraschend schön zugleich, sie eröffnet neue Möglichkeiten,
bereichernd, befreiend. Deshalb gibt es auch in dieser Geschichte einen Brunnen,
was die Märchenforscherin ganz logisch findet:
Musik aus
Zuspielung Maria Leonarda Castello, CLIP 4 (26”):
Einmal natürlich die Wichtigkeit der Brunnen in der Geschichte: Wo ein Brunnen war,
war Leben; wo kein Brunnen war und kein Grundwasser, war kein Leben
beziehungsweise es war sehr abhängig von äußeren Faktoren. Und zweitens gibt es
tatsächlich Brunnenheiligtümer. Es gibt, ich glaube auf Kreta, tiefe Einstiege in die
Erde, die zu Heiligtümern führten.
Musik 82037410Z00
Sprecher:
Am Grunde des Brunnens, weit entfernt von der Geborgenheit ihrer Familie – die
ohnehin kaum existiert -, am Grunde des Brunnens macht die Goldmarie
Erfahrungen, die ihre träge Schwester nicht einmal ahnt. Dass sie auf Geheiß ihrer
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hartherzigen Stiefmutter in den Brunnen springen muss, um die verlorene Spindel
wieder zu beschaffen, wird sich als der Glücksfall ihres Lebens erweisen. Was für ein
verwegener Entschluss, in die finstere Tiefe zu hechten, ohne zu wissen, was einen
erwartet! In diesem Augenblick trennt sich Goldmarie endgültig von ihrem trivialen
Alltag, begegnet den Kräften ihrer eigenen Seele, entdeckt eine Wunderwelt, die
ganz neu ist und zugleich immer schon irgendwie geahnt.
Sprecherin:
Denn die Blumenwiese ganz tief unten, wo der Brunnen zu Ende ist, wird geschildert
wie die Rückkehr in den Mutterschoß oder wie eine Neugeburt nach schwerer
Krankheit. Heimat, Glück, satte Farben, blühendes Leben, Natur pur. Hier
entspringen Quellen und Wurzeln, hier reifen Äpfel und duftet frisches Brot, während
weit entfernt auf der Erde der Winter regiert:
Musik aus
Geräusch Spieluhr
Erste Zitatorin:
Du musst Acht geben, dass du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst,
dass die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt –
Sprecherin:
– wird Frau Holle der Goldmarie gleich erklären.
Sprecher:
Das Spinnen. Der Brunnen. Die Blumenwiese. Die Äpfel. Das Brot. Frau Holles Bett
mit den Daunenfedern. Eine Welt voller Symbole, der Märchenliebhaber fühlt sich
sofort zuhause.
Sprecherin:
Aber wer genauer hinschaut, entdeckt Widersprüche, Irritationen, Bedrohungen.
Merkwürdig genug, dass die schöne Blumenwiese mit Frau Holles Häuschen tief
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unter der Erde liegt, nur durch einen unheimlichen Brunnenschacht erreichbar, und
gleichzeitig hoch über den Wolken, wo die Schneeflocken ihre Reise antreten.
Musik 82037410 101
Sprecher:
Und erst die Frau Holle! Kulturhistoriker und Matriarchatsforscherinnen haben sich
die Finger wund geschrieben, um die freundliche Hausfrau mit dem großen Bett und
der guten Küche als ein finsteres Überbleibsel aus grauer Vorzeit zu entlarven: als
germanische Göttin Hulda, als deutsche Variante der römischen Diana, Inbegriff der
„Großen Mutter“ oder mächtige Vegetationsdämonin. Auf jeden Fall ist sie eine
sonderbar ambivalente Figur, diese Frau Holle.
Musik aus
Eine Figur, die voller Güte belohnt und mit grimmiger Rachsucht bestraft, die
irdische Ungerechtigkeiten ausgleicht und einer ganz normal unerzogenen Göre ein
grässliches Schicksal beschert.
Zuspielung Richard Wagner, Tannhäuser; Lied des jungen Hirten
DK 169060W01 0‘34
Frau Holda kam aus dem Berg hervor,
zu ziehn durch Fluren und Auen;
gar süßen Klang vernahm da mein Ohr,
mein Auge begehrte zu schauen.
Da träumt´ ich manchen holden Traum,
und als mein Aug´ erschlossen kaum,
da strahlte warm die Sonnen,
der Mai, der Mai war kommen.
Sprecherin:
So trällert der junge Hirte in Wagners „Tannhäuser“. Auch hier gibt es ein
unterirdisches Wunderland, das Reich der Frau Venus. Und wie der penible
Komponist im Textbuch erläutert, verbirgt sich hinter der wollüstigen Dame
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tatsächlich die vom Christentum vertriebene germanische Fruchtbarkeitsgöttin Holda
oder Hulda.
Sprecher:
1845 hat der Archivar und Dichter Ludwig Bechstein das Märchen aufgeschrieben.
Damals waren die Geschichten von Frau Holle noch in den Spinnstuben Hessens
und Thüringens zu Hause – prall voll mit uralten Überlieferungen aus der
germanischen Kultur und Religion. Frau Hulda, die Huldvolle, Freundliche – in
Bayern hieß sie Perchta – war hier ein Beiname der Göttin Freya.
Nächtliche Sturmatmosphäre: Wind heult, Regen prasselt, Gewitterdonner, von
fern Glockenläuten
Sprecherin:
Frau Hulda hielt sich gern in Seen oder Brunnen auf, zog Fruchtbarkeit spendend
über Felder und Wiesen. Nachts aber tobte sie als Anführerin der Wilden Jagd durch
die Lüfte, in ihrem Gefolge Hexen, Dämonen und später auch die Seelen ungetauft
gestorbener Kinder. Bei den Brüdern Grimm ist aus dieser unheimlichen Gestalt mit
den zwei Gesichtern eine freundliche alte Frau geworden, die ihre Macht über Wetter
und Fluren nur noch zeigt, wenn sie es aus ihren Federbetten schneien lässt.
Musik Z9375905004
Sprecher:
Grimms Märchen als verharmlosender Niederschlag eines uralten Naturmythos? Die
Natur spielt ja eine zentrale Rolle in der Geschichte, von der Blumenwiese über die
Getreideernte – das Brot im Backofen!
– und den Apfelbaum bis zum winterlichen Schneetreiben. Goldmarie wird am
Grund des Brunnens durch alle Jahreszeiten geführt, sagen schlaue Interpreten.
Instrumentalmusik kurz hoch
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Sprecher:
Die Reise durch das Märchenland ist für Goldmarie aber viel mehr, nämlich eine
Wanderung in die Tiefen der eigenen Seele. Eine Entdeckungsreise, die Erkenntnis
vermittelt, Bewusstsein schafft. Eine Reise, die das Mädchen völlig verwandelt. Was
das Wichtigste dabei ist, sieht jeder Märchendeuter naturgemäß ein bisschen
anders.
Musik 82037410Z00
Sprecherin:
Für Eugen Drewermann liegt der Sinn der Geschichte darin, dass Goldmarie die
offensichtliche Ungerechtigkeit des Lebens verstehen lernt: Wir alle leiden daran,
dass es den Guten oft so verdammt schlecht geht und die Gemeinheit triumphiert.
Goldmarie wird jeden Tag drangsaliert, ausgenutzt und gedemütigt. Doch im Verlauf
des Märchens zeigt sich, dass das Böse nicht gewinnen kann. Die Pechmarie ist
noch unansehnlicher geworden und endet als verzweifelte Verliererin. Goldmarie
dagegen erfährt, dass das Gute seine Belohnung in sich selbst trägt. Es genügt,
dass sie mit den Dingen des Alltags gut und verständig umgeht, mit dem Brot im
Backofen, den Äpfeln am Baum und den Federbetten der Frau Holle. In
Drewermanns Worten:
Zitator:
Trotz all der zerbrochenen Hoffnungen, Plackereien und Enttäuschungen ist diese
Welt doch wunderschön; ja man sieht diese innere Schönheit der Dinge überhaupt
erst jenseits eines gewissen Übermaßes an Enttäuschungen, am Ende und am
Tiefpunkt der unendlichen Resignation.
Die Dinge der Welt sprechen zu hören, bedeutet für das Mädchen zugleich, sich in
den Dienst der Dinge zu stellen und ihnen zu „gehorchen“; es heißt, zu vernehmen,
wann die Dinge „reif“ und „gar“ sind, um getan zu werden, und ihnen dann wie
selbstverständlich zu „entsprechen“.1
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Musik aus
Sprecher:
Das heißt, diese wie nebenbei erzählten kleinen Dienstleistungen am Backofen und
am Apfelbaum haben für die Persönlichkeitsentwicklung des Mädchens eine
immense Bedeutung.
Musik Z9375905004
Zitatorin:
Auf der Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot
aber rief: „Ach! zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich, ich bin schon
längst ausgebacken!“ Da trat es fleißig herzu und holte alles heraus. Darnach ging es
weiter und kam zu einem Baum, der hing voll Äpfel und rief ihm zu: „Ach schüttel
mich! schüttel mich! Wir Äpfel sind alle miteinander reif!“ Da schüttelte es den Baum,
dass die Äpfel fielen, als regneten sie, so lang bis keiner mehr oben war, darnach
ging es wieder fort.
Musik aus
Sprecher:
Mit einer selbstverständlichen Umsicht reagiert Goldmarie auf den „Ruf der Dinge“ –
darin sieht auch die Psychotherapeutin Ingrid Riedel die Botschaft des Märchens.
Goldmarie weiß, wann es an der Zeit ist, den Backofen zu leeren und das Obst zu
ernten. Menschen wie Goldmarie nehmen wahr, was die Dinge sagen und was ihre
Mitgeschöpfe brauchen. Deshalb wird sie auch zu Frau Holle gelangen, zur
geheimnisvollen Mutter des Lebens, die liebevoll und fürsorglich mit der Schöpfung
umgeht.
Wenn sie ihre Betten ausschüttelt und die Federn durch die Luft fliegen, fallen sie als
Schneeflocken zur Erde und schützen Graswurzeln, Blumenzwiebeln und Saatkörner
vor dem Frost, bis der nächste Frühling kommt. Ingrid Riedel in ihrem Buch „Frau
Holle. Goldmarie und Pechmarie“:
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Zweite Zitatorin:
[Gold-]Marie hat eine Erfahrung durchschritten (…). Sie hat so etwas durchlebt wie
einen tiefen, langen (…) Traum, der sie mit der großen, gütigen Lebensmutter in
Gestalt von Frau Holle in Kontakt gebracht hat. Sie hat erfahren, dass der Dienst an
den alltäglichen Dingen ein Dienst am Leben selber ist. Sie ist nicht mehr
Stiefmutters Aschenputtel, wenn sie Brot aus dem Ofen holt, Äpfel erntet und Betten
aufschüttelt. Sie ist Tochter – geliebte, anerkannte Tochter – der Göttin selber. Nicht
aus Angst vor der Stiefmutter wird sie künftig spinnen, sondern in freiwilligem
Mitwirken an dem Tun der Göttin – und deshalb zugleich im Dienst des weiblichen
Lebensprinzips in ihr selbst.2
Sprecher:
Goldmaries faule Schwester, die Pechmarie, hingegen wird später das
ausgebackene Brot verkohlen und die reifen Äpfel verfaulen lassen; sie könnte sich
ja schmutzig machen oder sich die Finger am Ofen verbrennen. Pechmarie denkt nur
an sich, die Gaben der Schöpfung sind ihr gleichgültig, sie ist nicht bereit,
Verantwortung zu übernehmen.
Sprecherin:
Etwas anders interpretiert unsere Märchenforscherin aus Hamburg die Geschichte:
Zuspielung Maria Leonarda Castello, CLIP 5 (36”):
Dieser Ruf der Dinge, das ist nicht das eigentliche Problem von der Goldmarie, also
von der, die die Fleißige ist. Deren Problem ist was ganz anderes, sie hört ja massiv
auf außen, sie hört auf ihre Stiefmutter, sie hört auf das Brot, auf die Äpfel, sie hört
auch auf Frau Holle, deswegen sind ihr manche auch so gram, die sei ja nur brav
und fleißig und schön, und dann wird sie auch noch mit Gold besprengt – was die
lernen muss, ist meiner Meinung nach tatsächlich, auf sich selbst zu hören, auf ihre
eigene Stimme zu hören, weil die wird bei ihr massiv überlagert durch das, was sie
für andere tut.
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Sprecherin:
Tatsächlich reift Goldmarie ja unter Frau Holles Führung zu einer selbstständigen
Frau heran, die eines Tages keine Lehrerin mehr nötig hat. Die doppelte Ablösung –
von der Stiefmutter und von der Lebensmeisterin – gelingt. Am Ende erhält Marie
ihre in den Brunnen gefallene Garnspule zurück, was gewiss keine Auslieferung an
das alte Aschenputtel-Dasein bedeuten soll, sondern die Einladung, ihren
Lebensfaden jetzt souverän selbst zu spinnen.
Zuspielung Maria Leonarda Castello, CLIP 8 (1’ 16”):
Die Goldmarie geht ja einen Weg: Sie muss eine Welt verlassen, in der ihre Gabe –
sie ist ja eine Meisterin des Spinnens – so ausgenutzt wird, dass sie daran zugrunde
gehen wird, wenn man das nicht unterbricht. [Bitte noch streichen: Und sie wird ja
auch die Spindel verlieren, und darum geht es überhaupt nicht mehr.] Das heißt, sie
muss in ein Leben eintreten, in ein neues Leben, wo alle Dinge, die vorher so wichtig
für sie waren, nicht mehr stattfinden. Und in dieser neuen Welt muss sie sich neu
orientieren. Und das tut dieses Mädchen auch, weil sie ist ja vom Wesen her eine
ganz Aufgeschlossene und Tapfere, und sie ist auch stark. Es wird mehrmals im
Märchen betont, wie stark sie ist: Sie schüttelt den Apfelbaum stark, sie schüttelt die
Betten stark, das ist ´ne starke junge Frau. Und diese Orientierung, dazu gehören
diese Dinge, das ist sozusagen die Alltagsaufgaben, die ihr in den Weg kommen und
die mit ihrem Wunsch, die Spindel wieder zu haben, überhaupt nichts zu tun haben,
aber trotzdem reagiert sie darauf, und sie reagiert darauf richtig. Und das sind die
ersten Prüfsteine auf ihrem Weg zu Frau Holle. Bei denen übrigens die Pechmarie
schon gleich scheitern wird, weil die reagiert überhaupt nicht da drauf.
Sprecher:
Die Pechmarie, die von der Mutter Verhätschelte, hat die abenteuerliche Reise ihrer
Schwester widerwillig kopiert, vom Sprung in den Brunnen bis zur
Dienstmädchenstelle bei Frau Holle. Aber ihr fehlen alle Voraussetzungen, dabei
etwas zu lernen. Dem „Ruf der Dinge“ verweigert sie sich komplett, sie ist nicht
neugierig auf das Leben und seine Überraschungen.
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Zum Beispiel auf die Entdeckung, woher die Schneeflocken kommen! Sie will das
Kind bleiben, von dem niemand etwas verlangt, dem aber auch niemand etwas
zutraut. Sie will nicht gebraucht werden, und deshalb vermag sie auch ihre eigenen
inneren Schätze nicht zu heben.
Zuspielung Maria Leonarda Castello, CLIP 6 (55”):
Die Pechmarie ist die Verwöhnte. Wir haben ja hier eine Mutterfigur, die hat eine
rechte Tochter, das ist dann die Pechmarie, und sie hat diese Stieftochter, das ist die
Goldmarie. Und die Goldmarie wird ja brutal missbraucht von der Stiefmutter, die
muss jeden Tag raus an den Brunnen, die darf gar nicht im Haus sein, die muss
immer arbeiten, und die arbeitet ja so viel, dass sie fast daran verblutet. Die andere
liegt im Bett und wird verwöhnt. Und dieses Mädchen, die Verwöhnte, die geht der
Goldmarie ja nach, aber sie imitiert eben einen Weg. Das heißt, sie ist selber mit
ihrem Herzen und mit ihrem Wesen an dem Geschehen nicht beteiligt, deshalb
verändert sie sich auch gar nicht, sondern sie ist weiter faul, auch bei Frau Holle,
obwohl sie da eine große Chance hätte, zu lernen, und deshalb wird sie dann mit
dem Pech bestraft.
Sprecher:
Frau Holle ist froh, als sie den unnützen Gast wieder los wird, aber auch die Mutter
wird über die Rückkehr der missratenen Tochter nicht gerade begeistert gewesen
sein. Das stinkende Pech will nicht wieder abgehen.
In seiner übertragenen Bedeutung symbolisiert das Pech vermutlich das fatale
Kleben an der Mutter, den bequemen Verzicht auf ein eigenes Leben mit seinen
Ansprüchen und Herausforderungen.
Musik 82037410Z00
Sprecherin:
Ein souveränes Leben, wie es die Goldmarie jetzt nach ihrer Rückkehr von Frau
Holle zu führen vermag. Sie hat gelernt, beides zu verbinden: das Hören auf den
Anspruch der Dinge und die Wahrnehmung ihrer eigenen Bedürfnisse.
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Zuspielung Maria Leonarda Castello, CLIP 9 (33”):
Diese Achtsamkeit auf mich selber, die die Goldmarie lernen muss, damit sie gut mit
sich und ihren Gaben umgeht und auch mit dem, was andere von ihr wollen und
fordern, dass sie also zum Beispiel auch klare Grenzen setzen kann, die muss ja in
Korrespondenz sein zu ihrem Sein in der Welt, das ist dieses biblische „Liebe du den
andern, so wie du dich selber liebst“. Wenn ich selber zu mir kein klares,
aufmerksames Verhältnis habe, dann kann ich das auch nicht haben nach draußen.
Es gibt hier drei Arten von Ruf. Und zwar einmal der Ruf der Stiefmutter: Arbeite so
viel, wie du kannst. Und wenn du dich tot arbeitest, wunderbar, ich will dich sowieso
nicht haben. Das ist ein ganz schlimmer Ruf. Dann gibt es den Ruf der Dinge, des
Ofens und des Baumes, das ist ein ganz natürlicher und schöpferischer Ruf. Und
dann gibt es eben diesen Ruf ihres Herzens, auf den sie hört. Und das ist der
zentrale Ruf für das Mädchen, denn Frau Holle freut sich daran.
Musik aus
1
10
Eugen Drewermann / Ingritt Neuhaus: Frau Holle. Walter-Verlag Solothurn / Düsseldorf 1994, 35
f., 17 Zeilen
2
Ingrid Riedel: Frau Holle. Goldmarie und Pechmarie. Kreuz Verlag Zürich 1995, 47 (15 Zeilen)
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