Manuskript radioWissen SENDUNG: 29.04.2015 09.30 Uhr / B 2 AUFNAHME: STUDIO: ETHIK, RELIGION Ab 7. Schuljahr TITEL: Frau Holle – Vom achtsamen Umgang mit den Dingen AUTOR/IN: Christian Feldmann REDAKTION: Susanne Poelchau REGIE: Eva Demmelhuber TECHNIK: Michael Krogmann PERSONEN: Sprecherin Hemma Michel Sprecher Andreas Neumann Erste Zitatorin Beate Himmelstoß Zweite Zitatorin Diana Gaul Zitator Peter Weiß Zuspielungen: Maria Leonarda Castello, Hamburg Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 Musik Z9375905004 Frau Holle, Frau Holle, die schüttelt ihre Betten aus Erste Zitatorin: Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere hässlich und faul. Sie hatte aber die hässliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere musste alle Arbeit tun (…). Das arme Mädchen musste sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und musste so viel spinnen, dass ihm das Blut aus den Fingern sprang. Sprecher: „Frau Holle“ ist eines jener Märchen, von dem Kinder nicht genug kriegen können und das Erwachsene niemals vergessen. Märchen-Collage CD408330W01 Musik Z9375905004 „Frau Holle“ – die Geschichte von der tüchtigen Goldmarie, die ihre Garnspule in den Brunnen fallen lässt, aus lauter Angst vor der hartherzigen Stiefmutter selbst ins Wasser springt, in einem wunderschönen unterirdischen Land voller Blumen die Frau Holle trifft und auch bei ihr wieder so viel Fleiß zeigt, dass sie zum Abschied mit einem prächtigen Goldregen belohnt wird. Musik aus Ihre träge den Tag verschlafende Schwester will sich auch eine Ladung Gold verschaffen: Sie rafft sich zum Sprung in den Brunnen auf, aber bei Frau Holle benimmt sie sich so unmöglich, dass sie bald wieder heimgeschickt wird – allerdings mit Pech begossen. Und so heißt sie in Zukunft auch: Pechmarie. Sprecherin: Eine unsterbliche Geschichte, betörend und zeitlos. 2006 hat eine Jury „Frau Holle“ zu „Deutschlands schönstem Märchen“ gewählt. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 Woher kommt diese Faszination? Liegt es an dem herrlich schadenfrohen Gefühl, das die Belohnung des braven Mädchens und die Bestrafung seiner ungeratenen Schwester auslöst? Aber so einfach ist es ja nicht: Was kann die Pechmarie dafür, dass man sie so verzogen hat? Ein faules, freches Früchtchen ist sie – na und? Warum soll sie sich ändern? Die Mutter schimpft nie und erfüllt ihr jeden Wunsch. Und vor allem: Finden sich nicht viele ganz normale Mädchen und auch Buben eher in der trotzigen, gegen häuslichen Drill und Rollenzwänge aufbegehrenden Rotznase wieder statt in der entsetzlich braven, flink gehorchenden, verdächtig arbeitswütigen Goldmarie? Sprecher: Oder sind es die tiefenpsychologischen Hintergründe, die das Märchen bis heute derart erfolgreich gemacht haben? Die konfliktträchtige Ablösungsgeschichte, die viele junge Menschen mit der Goldmarie teilen: Sie verlässt ihre schwierige Mutter, ein Vater kommt gar nicht vor, sie absolviert ihre Lehrzeit außerhalb der Familie, am Ende wird sie wohl ein strahlender Königssohn, geblendet von ihren goldglitzernden Klamotten, auf sein Pferd heben und in eine herrliche Zukunft entführen. Sprecherin: „Frau Holle“ steckt voller Anspielungen und geheimer Bedeutungen. Was heißt das, wenn die Goldmarie jeden Tag auf Geheiß der Stiefmutter draußen am Brunnen spinnen muss, spinnen bis zur Erschöpfung? Die Hamburger Literaturwissenschaftlerin Maria Leonarda Castello betreibt die Märchenforschung als Steckenpferd, und „Frau Holle“ ist ihre Lieblingsgeschichte. Zuspielung Maria Leonarda Castello, CLIP 3 (51”): Erstens war das Spinnen eine der Haupttätigkeiten von Frauen. Zu spinnen, war göttlich, das wissen wir aus der Odyssee. Göttinnen spannen, Königinnen spannen, und wer gut spinnen konnte, das war sozusagen eine Art Goldgrube. Gut gesponnenes Garn war sehr viel wert. Es gibt einen mythologischen Strang, der hat was zu tun mit dem Spinnen des Lebensfadens. Das heißt, es gibt einmal diesen Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 4 ganz klaren wirtschaftlichen und alltäglichen, historischen Aspekt, und dann gibt´s diesen mythologischen, nämlich die drei Schicksalsgöttinnen: Die eine liest das Lebensbuch, die zweite spinnt den Lebensfaden, und die dritte schneidet ihn durch; das zieht sich sozusagen von den Griechen durch bis zu den germanischen Nornen. Musik 82037410Z00 Sprecherin: Die vom vielen Spinnen blutig gewordene Spule fällt in den Brunnen, die Goldmarie, wie man sie später nennen wird, springt hinterher – und findet sich in einem Zauberland wieder, wo die Sonne scheint und tausend Blumen blühen. Der Brunnen kommt hier nicht nur deshalb vor, weil die Goldmarie ihren Flachs mit dem Wasser rasch anfeuchten kann. Aus der Psychotherapie und Traumdeutung weiß man, wofür Brunnen stehen: für die Tiefendimension der eigenen Seele, für eine abgründige Welt jenseits der Alltagswirklichkeit. Hier entspringt das Wasser des Lebens, hier offenbaren sich Geheimnisse und spricht das Unbewusste. Diese unterirdische Welt ist bedrohlich und überraschend schön zugleich, sie eröffnet neue Möglichkeiten, bereichernd, befreiend. Deshalb gibt es auch in dieser Geschichte einen Brunnen, was die Märchenforscherin ganz logisch findet: Musik aus Zuspielung Maria Leonarda Castello, CLIP 4 (26”): Einmal natürlich die Wichtigkeit der Brunnen in der Geschichte: Wo ein Brunnen war, war Leben; wo kein Brunnen war und kein Grundwasser, war kein Leben beziehungsweise es war sehr abhängig von äußeren Faktoren. Und zweitens gibt es tatsächlich Brunnenheiligtümer. Es gibt, ich glaube auf Kreta, tiefe Einstiege in die Erde, die zu Heiligtümern führten. Musik 82037410Z00 Sprecher: Am Grunde des Brunnens, weit entfernt von der Geborgenheit ihrer Familie – die ohnehin kaum existiert -, am Grunde des Brunnens macht die Goldmarie Erfahrungen, die ihre träge Schwester nicht einmal ahnt. Dass sie auf Geheiß ihrer Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 hartherzigen Stiefmutter in den Brunnen springen muss, um die verlorene Spindel wieder zu beschaffen, wird sich als der Glücksfall ihres Lebens erweisen. Was für ein verwegener Entschluss, in die finstere Tiefe zu hechten, ohne zu wissen, was einen erwartet! In diesem Augenblick trennt sich Goldmarie endgültig von ihrem trivialen Alltag, begegnet den Kräften ihrer eigenen Seele, entdeckt eine Wunderwelt, die ganz neu ist und zugleich immer schon irgendwie geahnt. Sprecherin: Denn die Blumenwiese ganz tief unten, wo der Brunnen zu Ende ist, wird geschildert wie die Rückkehr in den Mutterschoß oder wie eine Neugeburt nach schwerer Krankheit. Heimat, Glück, satte Farben, blühendes Leben, Natur pur. Hier entspringen Quellen und Wurzeln, hier reifen Äpfel und duftet frisches Brot, während weit entfernt auf der Erde der Winter regiert: Musik aus Geräusch Spieluhr Erste Zitatorin: Du musst Acht geben, dass du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, dass die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt – Sprecherin: – wird Frau Holle der Goldmarie gleich erklären. Sprecher: Das Spinnen. Der Brunnen. Die Blumenwiese. Die Äpfel. Das Brot. Frau Holles Bett mit den Daunenfedern. Eine Welt voller Symbole, der Märchenliebhaber fühlt sich sofort zuhause. Sprecherin: Aber wer genauer hinschaut, entdeckt Widersprüche, Irritationen, Bedrohungen. Merkwürdig genug, dass die schöne Blumenwiese mit Frau Holles Häuschen tief Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 unter der Erde liegt, nur durch einen unheimlichen Brunnenschacht erreichbar, und gleichzeitig hoch über den Wolken, wo die Schneeflocken ihre Reise antreten. Musik 82037410 101 Sprecher: Und erst die Frau Holle! Kulturhistoriker und Matriarchatsforscherinnen haben sich die Finger wund geschrieben, um die freundliche Hausfrau mit dem großen Bett und der guten Küche als ein finsteres Überbleibsel aus grauer Vorzeit zu entlarven: als germanische Göttin Hulda, als deutsche Variante der römischen Diana, Inbegriff der „Großen Mutter“ oder mächtige Vegetationsdämonin. Auf jeden Fall ist sie eine sonderbar ambivalente Figur, diese Frau Holle. Musik aus Eine Figur, die voller Güte belohnt und mit grimmiger Rachsucht bestraft, die irdische Ungerechtigkeiten ausgleicht und einer ganz normal unerzogenen Göre ein grässliches Schicksal beschert. Zuspielung Richard Wagner, Tannhäuser; Lied des jungen Hirten DK 169060W01 0‘34 Frau Holda kam aus dem Berg hervor, zu ziehn durch Fluren und Auen; gar süßen Klang vernahm da mein Ohr, mein Auge begehrte zu schauen. Da träumt´ ich manchen holden Traum, und als mein Aug´ erschlossen kaum, da strahlte warm die Sonnen, der Mai, der Mai war kommen. Sprecherin: So trällert der junge Hirte in Wagners „Tannhäuser“. Auch hier gibt es ein unterirdisches Wunderland, das Reich der Frau Venus. Und wie der penible Komponist im Textbuch erläutert, verbirgt sich hinter der wollüstigen Dame Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 7 tatsächlich die vom Christentum vertriebene germanische Fruchtbarkeitsgöttin Holda oder Hulda. Sprecher: 1845 hat der Archivar und Dichter Ludwig Bechstein das Märchen aufgeschrieben. Damals waren die Geschichten von Frau Holle noch in den Spinnstuben Hessens und Thüringens zu Hause – prall voll mit uralten Überlieferungen aus der germanischen Kultur und Religion. Frau Hulda, die Huldvolle, Freundliche – in Bayern hieß sie Perchta – war hier ein Beiname der Göttin Freya. Nächtliche Sturmatmosphäre: Wind heult, Regen prasselt, Gewitterdonner, von fern Glockenläuten Sprecherin: Frau Hulda hielt sich gern in Seen oder Brunnen auf, zog Fruchtbarkeit spendend über Felder und Wiesen. Nachts aber tobte sie als Anführerin der Wilden Jagd durch die Lüfte, in ihrem Gefolge Hexen, Dämonen und später auch die Seelen ungetauft gestorbener Kinder. Bei den Brüdern Grimm ist aus dieser unheimlichen Gestalt mit den zwei Gesichtern eine freundliche alte Frau geworden, die ihre Macht über Wetter und Fluren nur noch zeigt, wenn sie es aus ihren Federbetten schneien lässt. Musik Z9375905004 Sprecher: Grimms Märchen als verharmlosender Niederschlag eines uralten Naturmythos? Die Natur spielt ja eine zentrale Rolle in der Geschichte, von der Blumenwiese über die Getreideernte – das Brot im Backofen! – und den Apfelbaum bis zum winterlichen Schneetreiben. Goldmarie wird am Grund des Brunnens durch alle Jahreszeiten geführt, sagen schlaue Interpreten. Instrumentalmusik kurz hoch Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 8 Sprecher: Die Reise durch das Märchenland ist für Goldmarie aber viel mehr, nämlich eine Wanderung in die Tiefen der eigenen Seele. Eine Entdeckungsreise, die Erkenntnis vermittelt, Bewusstsein schafft. Eine Reise, die das Mädchen völlig verwandelt. Was das Wichtigste dabei ist, sieht jeder Märchendeuter naturgemäß ein bisschen anders. Musik 82037410Z00 Sprecherin: Für Eugen Drewermann liegt der Sinn der Geschichte darin, dass Goldmarie die offensichtliche Ungerechtigkeit des Lebens verstehen lernt: Wir alle leiden daran, dass es den Guten oft so verdammt schlecht geht und die Gemeinheit triumphiert. Goldmarie wird jeden Tag drangsaliert, ausgenutzt und gedemütigt. Doch im Verlauf des Märchens zeigt sich, dass das Böse nicht gewinnen kann. Die Pechmarie ist noch unansehnlicher geworden und endet als verzweifelte Verliererin. Goldmarie dagegen erfährt, dass das Gute seine Belohnung in sich selbst trägt. Es genügt, dass sie mit den Dingen des Alltags gut und verständig umgeht, mit dem Brot im Backofen, den Äpfeln am Baum und den Federbetten der Frau Holle. In Drewermanns Worten: Zitator: Trotz all der zerbrochenen Hoffnungen, Plackereien und Enttäuschungen ist diese Welt doch wunderschön; ja man sieht diese innere Schönheit der Dinge überhaupt erst jenseits eines gewissen Übermaßes an Enttäuschungen, am Ende und am Tiefpunkt der unendlichen Resignation. Die Dinge der Welt sprechen zu hören, bedeutet für das Mädchen zugleich, sich in den Dienst der Dinge zu stellen und ihnen zu „gehorchen“; es heißt, zu vernehmen, wann die Dinge „reif“ und „gar“ sind, um getan zu werden, und ihnen dann wie selbstverständlich zu „entsprechen“.1 Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 9 Musik aus Sprecher: Das heißt, diese wie nebenbei erzählten kleinen Dienstleistungen am Backofen und am Apfelbaum haben für die Persönlichkeitsentwicklung des Mädchens eine immense Bedeutung. Musik Z9375905004 Zitatorin: Auf der Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief: „Ach! zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich, ich bin schon längst ausgebacken!“ Da trat es fleißig herzu und holte alles heraus. Darnach ging es weiter und kam zu einem Baum, der hing voll Äpfel und rief ihm zu: „Ach schüttel mich! schüttel mich! Wir Äpfel sind alle miteinander reif!“ Da schüttelte es den Baum, dass die Äpfel fielen, als regneten sie, so lang bis keiner mehr oben war, darnach ging es wieder fort. Musik aus Sprecher: Mit einer selbstverständlichen Umsicht reagiert Goldmarie auf den „Ruf der Dinge“ – darin sieht auch die Psychotherapeutin Ingrid Riedel die Botschaft des Märchens. Goldmarie weiß, wann es an der Zeit ist, den Backofen zu leeren und das Obst zu ernten. Menschen wie Goldmarie nehmen wahr, was die Dinge sagen und was ihre Mitgeschöpfe brauchen. Deshalb wird sie auch zu Frau Holle gelangen, zur geheimnisvollen Mutter des Lebens, die liebevoll und fürsorglich mit der Schöpfung umgeht. Wenn sie ihre Betten ausschüttelt und die Federn durch die Luft fliegen, fallen sie als Schneeflocken zur Erde und schützen Graswurzeln, Blumenzwiebeln und Saatkörner vor dem Frost, bis der nächste Frühling kommt. Ingrid Riedel in ihrem Buch „Frau Holle. Goldmarie und Pechmarie“: Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 10 Zweite Zitatorin: [Gold-]Marie hat eine Erfahrung durchschritten (…). Sie hat so etwas durchlebt wie einen tiefen, langen (…) Traum, der sie mit der großen, gütigen Lebensmutter in Gestalt von Frau Holle in Kontakt gebracht hat. Sie hat erfahren, dass der Dienst an den alltäglichen Dingen ein Dienst am Leben selber ist. Sie ist nicht mehr Stiefmutters Aschenputtel, wenn sie Brot aus dem Ofen holt, Äpfel erntet und Betten aufschüttelt. Sie ist Tochter – geliebte, anerkannte Tochter – der Göttin selber. Nicht aus Angst vor der Stiefmutter wird sie künftig spinnen, sondern in freiwilligem Mitwirken an dem Tun der Göttin – und deshalb zugleich im Dienst des weiblichen Lebensprinzips in ihr selbst.2 Sprecher: Goldmaries faule Schwester, die Pechmarie, hingegen wird später das ausgebackene Brot verkohlen und die reifen Äpfel verfaulen lassen; sie könnte sich ja schmutzig machen oder sich die Finger am Ofen verbrennen. Pechmarie denkt nur an sich, die Gaben der Schöpfung sind ihr gleichgültig, sie ist nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sprecherin: Etwas anders interpretiert unsere Märchenforscherin aus Hamburg die Geschichte: Zuspielung Maria Leonarda Castello, CLIP 5 (36”): Dieser Ruf der Dinge, das ist nicht das eigentliche Problem von der Goldmarie, also von der, die die Fleißige ist. Deren Problem ist was ganz anderes, sie hört ja massiv auf außen, sie hört auf ihre Stiefmutter, sie hört auf das Brot, auf die Äpfel, sie hört auch auf Frau Holle, deswegen sind ihr manche auch so gram, die sei ja nur brav und fleißig und schön, und dann wird sie auch noch mit Gold besprengt – was die lernen muss, ist meiner Meinung nach tatsächlich, auf sich selbst zu hören, auf ihre eigene Stimme zu hören, weil die wird bei ihr massiv überlagert durch das, was sie für andere tut. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Zuspielung Maria Leonarda Castello, CLIP 8 (1’ 16”): Die Goldmarie geht ja einen Weg: Sie muss eine Welt verlassen, in der ihre Gabe – sie ist ja eine Meisterin des Spinnens – so ausgenutzt wird, dass sie daran zugrunde gehen wird, wenn man das nicht unterbricht. [Bitte noch streichen: Und sie wird ja auch die Spindel verlieren, und darum geht es überhaupt nicht mehr.] Das heißt, sie muss in ein Leben eintreten, in ein neues Leben, wo alle Dinge, die vorher so wichtig für sie waren, nicht mehr stattfinden. Und in dieser neuen Welt muss sie sich neu orientieren. Und das tut dieses Mädchen auch, weil sie ist ja vom Wesen her eine ganz Aufgeschlossene und Tapfere, und sie ist auch stark. Es wird mehrmals im Märchen betont, wie stark sie ist: Sie schüttelt den Apfelbaum stark, sie schüttelt die Betten stark, das ist ´ne starke junge Frau. Und diese Orientierung, dazu gehören diese Dinge, das ist sozusagen die Alltagsaufgaben, die ihr in den Weg kommen und die mit ihrem Wunsch, die Spindel wieder zu haben, überhaupt nichts zu tun haben, aber trotzdem reagiert sie darauf, und sie reagiert darauf richtig. Und das sind die ersten Prüfsteine auf ihrem Weg zu Frau Holle. Bei denen übrigens die Pechmarie schon gleich scheitern wird, weil die reagiert überhaupt nicht da drauf. Sprecher: Die Pechmarie, die von der Mutter Verhätschelte, hat die abenteuerliche Reise ihrer Schwester widerwillig kopiert, vom Sprung in den Brunnen bis zur Dienstmädchenstelle bei Frau Holle. Aber ihr fehlen alle Voraussetzungen, dabei etwas zu lernen. Dem „Ruf der Dinge“ verweigert sie sich komplett, sie ist nicht neugierig auf das Leben und seine Überraschungen. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Und die Goldmarie wird ja brutal missbraucht von der Stiefmutter, die muss jeden Tag raus an den Brunnen, die darf gar nicht im Haus sein, die muss immer arbeiten, und die arbeitet ja so viel, dass sie fast daran verblutet. Die andere liegt im Bett und wird verwöhnt. Und dieses Mädchen, die Verwöhnte, die geht der Goldmarie ja nach, aber sie imitiert eben einen Weg. Das heißt, sie ist selber mit ihrem Herzen und mit ihrem Wesen an dem Geschehen nicht beteiligt, deshalb verändert sie sich auch gar nicht, sondern sie ist weiter faul, auch bei Frau Holle, obwohl sie da eine große Chance hätte, zu lernen, und deshalb wird sie dann mit dem Pech bestraft. Sprecher: Frau Holle ist froh, als sie den unnützen Gast wieder los wird, aber auch die Mutter wird über die Rückkehr der missratenen Tochter nicht gerade begeistert gewesen sein. Das stinkende Pech will nicht wieder abgehen. In seiner übertragenen Bedeutung symbolisiert das Pech vermutlich das fatale Kleben an der Mutter, den bequemen Verzicht auf ein eigenes Leben mit seinen Ansprüchen und Herausforderungen. Musik 82037410Z00 Sprecherin: Ein souveränes Leben, wie es die Goldmarie jetzt nach ihrer Rückkehr von Frau Holle zu führen vermag. Sie hat gelernt, beides zu verbinden: das Hören auf den Anspruch der Dinge und die Wahrnehmung ihrer eigenen Bedürfnisse. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Und wenn du dich tot arbeitest, wunderbar, ich will dich sowieso nicht haben. Das ist ein ganz schlimmer Ruf. Dann gibt es den Ruf der Dinge, des Ofens und des Baumes, das ist ein ganz natürlicher und schöpferischer Ruf. Und dann gibt es eben diesen Ruf ihres Herzens, auf den sie hört. Und das ist der zentrale Ruf für das Mädchen, denn Frau Holle freut sich daran. Musik aus 1 10 Eugen Drewermann / Ingritt Neuhaus: Frau Holle. Walter-Verlag Solothurn / Düsseldorf 1994, 35 f., 17 Zeilen 2 Ingrid Riedel: Frau Holle. Goldmarie und Pechmarie. Kreuz Verlag Zürich 1995, 47 (15 Zeilen) Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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