1 Manuskript radioWissen SENDUNG: 18.09.2015 9.05 Uhr / B 2 AUFNAHME: STUDIO: Biologie Ab 8. Schuljahr TITEL: Riskante Helfer Weichmacher in Alltagsprodukten AUTOR/IN: Lukas Grasberger REDAKTION: Nicole Ruchlak REGIE: Sabine Kienhöfer TECHNIK: Adele Kurdziel PERSONEN: Sprecherin Rahel Comtesse Besondere Anmerkungen: Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 1 2 Atmo Fließgewässer Musik New machines M0007530 033 SPRECHERIN Es sind unheimliche Missbildungen, auf die Wasserbiologen weltweit Anfang der 1990erJahre aufmerksam werden: Alligatoren in Florida haben plötzlich verkrüppelte Geschlechtsorgane, Fische, deren Hoden Eier produzieren, tauchen in englischen Flüssen nahe Kläranlagen auf. Forscher, die anschließend Wasserproben untersuchen, finden zahlreiche chemische Stoffe. In Experimenten können sie zeigen, dass bestimmte Industriechemikalien wie natürliche Hormone auf die tierischen Organismen wirken. Die Begriffe „Umwelthormone“ - oder endokrine Disruptoren - sind geboren. Als einer der ersten deutschen Wissenschaftler begibt sich der Biologe Werner Kloas auf die Spur dieser endokrinen Disruptoren – zu deutsch hormonellen Störer. In seinem Visier: Bisphenol A, das oft für Lebensmittel-Verpackungen verwendet wird. Kloas untersucht, wie der Stoff auf den Nachwuchs des südafrikanischen Krallenfroschs wirkt. Musik aus Atmo Krallenfrosch ab letztem Satz kommen lassen, dann kurz hoch O-Ton 1 Werner Kloas, Prof. Leibniz-Institut für Gewässerökologie (IGB) Berlin (…)Wir haben Bisphenol A den Kaulquappen ins Wasser gegeben und dann hinterher untersucht, ob da mehr Männchen, mehr Weibchen rausschauen, und da sind dann mehr Weibchen rausgekommen. (…) SPRECHERIN Das aber hat schwerwiegende Folgen. O-Ton 1 Fortsetzung Wenn es aber eine komplette Geschlechtsumkehr gibt, wenn ich die genetisch männlichen Tiere verweibliche, und wenn ich die dann in der freien Natur wieder mit nem normalen Männchen kreuze, bekomme ich als Nachkommenschaft nur noch Männchen. Das heißt, verweiblichte Männchen würden in der Natur dann dazu führen, dass da eine komplett männliche Population entstehen würde, und wenn das der Fall ist: Männchen befruchten Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 3 sich nicht mehr gegenseitig, dann stirbt die Folgegeneration natürlich aus.“ SPRECHERIN Professor Kloas und seine Kolleginnen und Kollegen vom Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie machen Umwelthormone mitverantwortlich für die bislang größte Aussterbekrise, die derzeit Amphibien weltweit dahinrafft. Denn Bisphenol A und andere hormonell wirksame Phthalate werden nicht nur tonnenweise von der Industrie hergestellt: Sie waschen aus den Plastikprodukten, in denen sie verarbeitet werden, auch aus. Und gelangen so in Seen und Flüsse – und damit in die Nahrungskette von Tieren und Menschen. Phthalate, die oft als Weichmacher eingesetzt werden, sind daher mittlerweile überall, sagt Andreas Gies vom Umweltbundesamt. O-Ton 2 Prof Andreas Gies, Umweltbundesamt „Weichmacher finden Sie heute im Körper jedes Menschen: Vom Nordpol bis zum Südpol, vom ungeborenen Kind bis zum Greis. Wir finden Phthalate heute überall in der Umwelt: Die sind der Alptraum jedes analytischen Chemikers. Der bekommt seine Labore kaum sauber von dem Zeug. Das Problem bleibt, ich kriege es nicht weg.“ SPRECHERIN Rund eine Million Tonnen Phthalate produziert die chemische Industrie laut Umweltbundesamt jedes Jahr alleine in Westeuropa. Doch warum setzen die Hersteller diese Stoffe in so großen Mengen ein, obwohl sie umstritten sind? MUSIK Cool lab C1490140 008 Phthalate sind wahre Alleskönner: Ob in Schläuchen, Turnschuhen, oder Duschvorhängen – überall dienen sie dazu, den an sich harten und spröden Kunststoff PVC elastisch und geschmeidig zu machen. Die wichtigsten Phthalate für die so genannte Weichmachung sind DEHP, DINP oder DIDP. Bei diesem Verfahren schieben sich nun WeichmacherMoleküle wie Gelenke zwischen die Plastik-Moleküle – und machen diese so beweglich. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 4 Das Problem dabei: Häufig werden sie dabei nur vorübergehend chemisch gebunden – und sind kein fester Bestandteil des Plastik-Produkts. Es ist wie bei Wasser, das einen Schwamm vorübergehend elastisch macht: Irgendwann trocknet er, die Feuchtigkeit tritt aus, er wird wieder spröde. So ähnlich können auch Weichmacher-Moleküle nach einiger Zeit ausgasen oder ausgewaschen werden. MUSIK aus Doch wie schädlich sind Weichmacher, die Menschen - wenn - dann ja in nur in sehr verdünnter Dosis aufnehmen? Und wie übertragbar sind die beunruhigenden Erkenntnisse dazu aus Tierversuchen? Zumindest auf die erste Frage hat der vergleichende Endokrinologe Kloas eine klare Antwort. Dank der Ähnlichkeit der Hormonsysteme von Amphibien und Menschen... O-Ton 3 Kloas „…ist die biochemische Gleichheit von Frosch und Mensch gegeben. Beim Schilddrüsensystem ist die Übertragbarkeit nahezu vollständig gegeben, wenn ich da hemmende Wirkungen habe, habe ich die auch beim Säugetier – den Menschen eingeschlossen. Bei steigernden Effekten gilt das Gleiche. Man geht davon aus, dass eben das, was negativ ist oder zur Geschlechtsumwandlung bei Amphibien führt, dass das bei uns zumindest einmal zu funktionellen Einbußen (führt).“ SPRECHERIN Bei der Wirkung von Weichmachern auf den Menschen kommt es allerdings nicht nur darauf an, wie viel davon er aufgenommen hat, sondern auch darauf, wann - betont der Toxikologe Ibrahim Chahoud. Es gebe ein spezielles Zeitfenster, in dem WeichmacherStoffe besonderen Schaden anrichten können. Ungeborene und Kleinkinder, bei denen die bedenklichen Stoffe am leichtesten in den Körper gelangen, sind besonders gefährdet, sagt Chahoud, bis zu seiner Emeritierung Professor für Toxikologie an der Berliner Charité. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 4 5 O-Ton 4 Chahoud „Vor der Geburt befinden sich alle unsere Organe in der Entwicklung. Und diese Entwicklung ist vor allem hormonell reguliert. Diese Hormone müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt da sein – nicht früher und nicht später. Und wenn Umwelthormone kommen, in hohen Dosen und zum falschen Zeitpunkt, dann können sie zu einer Störung dieser Entwicklung führen. Und wichtig ist: Diese Störung ist nicht mehr reparierbar. Musik Flowing fluids M0010566 007 SPRECHERIN Phthalate seien dabei wie Zeitbomben, sagt Chahoud: Manchmal entfalteten sie ihre unerwünschte hormonelle Wirkung erst im Erwachsenenalter – wenn die Kinder selber Kinder haben wollen. Ähnlich wie bei Fröschen könnten Phthalate auch auf Fortpflanzungsorgane wirken – und unfruchtbar machen. Musik aus O-Ton 5 Chahoud „Es gibt hunderte Studien, experimentelle Studien, die darauf hinweisen, dass diese hormonell wirksamen Substanzen auf die Spermienqualität wie Zahl, Bewegung etc. wirken. Spermienreduktion bei Männern, Krebsarten bei Frauen – die Liste ist endlos, was dabei entstehen kann: Dass Körpergewichtzunahme, Hormonstörungen tatsächlich mit Umwelthormonen zusammenhängen können.“ SPRECHERIN Eine britische Literaturstudie von 2012, die rund 240 Untersuchungen zusammenfasst, zeigte deutliche Zusammenhänge zwischen der Belastung mit Phthalaten im Mutterleib – und einer späteren Fettleibigkeit sowie Diabetes. Das Problem all dieser Studien: Sie liefern deutliche Indizien, aber keinen eindeutigen Beweis. Eine klare Ursache-WirkungsBeziehung, ein Nachweis, dass ein bestimmtes Phthalat innerhalb eines Zeitraums einen bestimmten Effekt im menschlichen Organismus entfaltet, ist schwer zu erbringen. Hier haken Kritiker der angeblichen Gefahr von Umwelthormonen ein - wie der Konstanzer Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 6 Toxikologie-Professor Daniel Dietrich: Schaden richteten diese Stoffe erst in Konzentrationen an, die zehn bis hunderttausendmal höher sind als aktuell gemessene Werte. O-Ton 6 Daniel Dietrich, Prof für Toxikologie, Uni Konstanz „Wir haben Hormonkonzentrationen (…), das ist, wie wenn ich ein Stück Würfelzucker in den Bodensee schmeiße. Wenn man zurückblickt, dann haben wir hohe Belastungen gehabt in den 70ern, 80er-Jahren mit Fremdstoffen, die wir heute als absolut kritisch einstufen würden. Und dennoch haben wir wenige Effekte gesehen. Wenn‘s um Weichmacher geht, sehe ich die Ängste als überzogen.“ SPRECHERIN Dietrich verweist auf einige Studien mit Ratten, die Bisphenol A bekamen, ohne Schäden zu erleiden. Die Entstehungsmechanismen der Krankheiten, die rückblickend Weichmachern zugeschrieben werden, seien beim Menschen zudem recht komplex. Eine Perspektive, der sich auch das Bundesamt für Risikobewertung BfR anschließt: Auch andere Umwelteinflüsse und der Lebensstil wie die Ernährung könnten – neben den Phthalaten – ursächlich für Krankheiten sein. Musik New machines M0007530 033 Unter Fachkollegen vertritt das BfR wie der Konstanzer Professor allerdings eine Minderheitenmeinung - mit Argumenten, wie sie auch die Weichmacher-Hersteller immer wieder vorbringen. Alles Panikmache also? Nein - sagen Toxikologen wie Ibrahim Chahoud, der Wirkungen im so genannten Niedrigdosisbereich seit Jahrzehnten untersucht. Hormone wirkten eben nicht linear. Die Dosis mache eben nicht das Gift, pflichtet Andreas Gies vom Umweltbundesamt bei, und wählt einen drastischen Vergleich. Musik aus O-Ton 7 Gies „Oft, bei geringen Konzentrationen wirken diese Stoffe sehr stark, bei höheren Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 7 Konzentrationen sehr viel weniger. Wir finden diese Wirkungen, dass Wirkungen bei hohen Konzentrationen weniger auftreten, immer bei Hormonen, das ist ein ganz natürlicher Vorgang. Dass wir das auch bei Umwelthormonen sehen: Das war uns neu. Es ist wie wenn Sie Autofahren, wenn jemand ins Lenkrad greift: Die Ursache: kleine Bewegung am Lenkrad ist sehr klein; die Wirkung: Der Pfeiler der nächsten Autobahnbrücke kann relativ drastisch sein!“ SPRECHERIN Der Abteilungsleiter im Umweltbundesamt verlangt ein generelles Verbot riskanter Stoffe. Seit Jahren schiebe die zuständige EU-Kommission Verbote von Umwelthormonen auf die lange Bank – obwohl selbst ihr Gutachter für eine strenge Regulierung dieser Stoffe eintritt. O-Ton 8 Gies „Ich sehe das Hauptproblem in den politischen Entscheidungen, die die Kommission hier fällt, und diese politischen Entscheidungen verhindern im Moment den Schutz der Bürger“ Musik Sprinkles B C1486810 002 SPRECHERIN So bleibt der gesetzliche Schutz vor Gesundheitsgefahren durch Umwelthormone bis auf weiteres löchrig. Und wo Weichmacher inzwischen verboten sind, hapert es häufig an Kontrolle. Umweltorganisationen wie der BUND finden bei Tests regelmäßig verbotene Stoffe in Waren für Kinder. Doch wie können Verbraucher Gesundheitsgefahren durch Umwelthormone vermeiden? Lebensmittel am besten unverpackt einkaufen, rät die deutsche Gesellschaft für Endokrinologie. Der BUND legt Eltern nahe, auf Spielzeug aus verdächtigem Plastik besser zu verzichten. Sollten sie dem Gequengel der Kleinen nach quietschbuntem Kunststoff doch nachgeben, können sie beim Hersteller nachfragen, ob gefährliche Chemie enthalten ist. Der BUND bietet dafür ein Online-Anfrage-Formular an. Musik aus Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 7
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