Manuskript
Kulturkritik u. Literatur/
Nachtstudio
Lass uns physisch werden!
Die Erotiknummer von Wildes Denken
Palzers Papierflieger
Erotik und Kopfgeburten
Von Thomas Palzer
SPR:
Hemma Michel
Ton u. Technik:
Cordula Wanschura
Regie u. Redaktion:
Martin Zeyn
Sendung:
Dienstag, 30.06.2015, 20.03 Uhr
THOMAS PALZER
In der Erotik vereinen sich Phantasie und Körperlichkeit. Erotik sprengt
das Programm, mit dem die Biologie die Sexualität unter die Knute und
in die Pflicht der Fortpflanzung zwingt. Allerdings hat die sexuelle Revolution gezeigt, dass der von der Biologie befreite Sex, also der sexuelle
Genuss als Selbstzweck, nur die Tendenz bedient hat, die Welt in vollständiger Warenförmigkeit aufgehen zu lassen.
Statt Sex also: Eros. Mit etwas Phantasie ließe sich die Gravitation unter
einer anderen Nomenklatur als eine Art Erotik auffassen. Statt auf Gravitationswellen beruhte die Anziehung zwischen den Planeten dann beispielsweise auf ihrer betörenden Kugelförmigkeit oder auf der geometrischen Eleganz ihrer elliptischen Bewegungen. Eine solche Physik der
Erotik wird erst noch geschrieben werden müssen.
Die Erotik ist eine Kopfgeburt, denn man kann sie weder im Teilchenbeschleuniger noch unter dem Mikroskop finden. Erotik und Kopfgeburt
sind sogar zwei Wörter, bei denen man dazu neigt, sie für Synonyme zu
halten. Gleichwohl hat die Erotik Anteil am Körperlichen, aber die physis
allein kann schwerlich erotisch sein, dazu gehören die Bilder, Gedanken
und Vorstellungen, von der die jeweilige physis begleitet wird – und die
jede Sensation der Nerven verwandelt in einen unwiderstehlichen Blick,
eine elektrisierende Berührung, in einen betörenden Duft, eine animalische Vereinigung. Gerade das sogenannte Animalische hat mehr mit
dem Kopf als mit dem Körper zu tun, dem Animalität zugeschrieben wird.
Animalität ist das Paradebeispiel einer Kopfgeburt, es sei denn, es handelt sich bei dem Objekt der Begierde tatsächlich um ein Tier.
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Vielleicht kann man sagen, dass es die Erotik ist, die der Sexualität Geist
einhaucht: nicht im Sinne eines wie auch immer gearteten und immer
suspekten „Niveaus“, sondern im Sinne einer Transzendenz.
Erotik ist Sexualität über das hinaus, wozu sie eigentlich da ist. Erotik ist
das Gegenteil von Fortpflanzung. Sie ist frei, spielerisch, launisch und
lässt den Flirt zu, den Nichtvollzug, die Verzögerung, den Umweg und
sogar die Substitution durch den Fetisch. Fortpflanzung dagegen ist determiniert und versteht keinen Spaß. Das aber bedeutet umgekehrt natürlich nicht, dass erotische Handlungen es gegenüber sexuellen ausschließen würden, dass es zur Fortpflanzung kommt.
Der Kopfgeburt eigentümlich ist also, dass sie dazu tendiert, vom Kopf
ins Parterre zu wandern und dort, in der Nähe der Dienstboteneingänge,
Fleisch zu werden.
SPR
Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das sich weigert zu sein, was es
ist.
TP
Albert Camus hat das die metaphysische Revolte genannt.
Im antiken Griechenland war die Sodomisierung des Knaben ein gesellschaftliches Ritual. Das Sperma übertrug die Männlichkeit des Erwachsenen auf das Kind. Das griechische Verb, das diesen Vorgang beschreibt – eispein – haben die Römer mit inspirare übersetzt. Der Inspirator ist derjenige, der seinen männlichen Geliebten mit seinem Phallus
inspiriert. Auf Lateinisch bedeutet Phallus fascinus, Rute - und fascinus
steckt noch heute in Begriffen wie Faszination oder Faschismus. MussoDieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! ©Bayerischer Rundfunk 2015. Bayern2 - Hörerservice, Bayerischer
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lini bezeichnete sich und seine Gefolgsleute bekanntlich als Faschisten,
als Rutenbündel, als Männerbund. Amictorium, mamillare oder strophium, fascia steht für Bündel.
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Fascinus ist eine übersprudelnde Quelle der Inspiration. Venus, die
Schaumgeborene, wird aus dem Schaum der Liebe geboren, dem
Sperma. Die alten Griechen vertraten die Auffassung, dass der Stoff,
den der Phallus absondert, dem Schaum des Meeres gleicht. Die Natur
der Dinge war für sie wie ein einziges Überströmen, Sprießen, Wachsen.
Sie sagten physis dazu.
Zwischen der physis, der natura und Materie auf der einen und dem
Geist auf der anderen Seite, bildlich: dem Kopf, besteht gemäß der Tradition eine gewisse Kluft, hervorgerufen durch eine aufwärtsgerichtete
Determination, die verhindert, dass das Spätere auf das Frühere vollständig zurückgeführt werden kann. Diese Kluft drückt sich in dem Wort
Kopfgeburt aus, das die Genese mit der Geltung zusammenführt. Die
Geltung ist im Kopf, die Genese beginnt mit der Geburt. Geltungen werden nicht geboren, sondern im Gesetz gesetzt.
Eine Kopfgeburt besitzt keine physis – sie ist etwas Erdachtes, Ersonnenes, ist erstunken und erlogen. Eine Kopfgeburt ist ein simulacrum – ein
Trugbild. Genau diese Trugbilder werden aber von der Begierde in den
Köpfen der Begehrenden erzeugt. Man könnte sagen: Die Kopfgeburt ist
eine Folge der physis, wenn diese sich danach verzehrt, zu wachsen, zu
sprießen, zu empfangen, überzuschäumen. Und zugleich ist die Kopfgeburt das Dokument, an dem abzulesen ist, dass sich der Mensch gegen
seine physischen und biologischen Lebensbedingungen auflehnt. Die
Kopfgeburt ist die metaphysische Revolte schlechthin.
Albert Camus:
SPR
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Der Gipfel der Maßlosigkeit für einen Griechen ist, das Meer mit Ruten
zu peitschen ...
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TP
Man stelle sich das vor ... faszinierend!
Die Begierde ist sprachlos – aber ihre glühenden und rasenden Formen
erzeugen beständig die verführerischsten und trügerischsten Trugbilder.
Gerade fascinus bzw. Phallus inspirieren zu Bildern. Pornographie bedeutet wörtlich: Bildnis einer Hure. Heute überschwemmt uns das Internet mit Pornographie, mit Trugbildern, zu denen der fascinus - allgemeiner und das Weibliche mit einbegreifend - die Begierde und das Begehren inspirieren.
Der König derjenigen, die im Kopf geboren haben, ist womöglich der
Marquis Donatien Alphonse François de Sade, der während seiner wiederholten und langjährigen Haft, die insgesamt mehr als ein Drittel seiner
Lebenszeit verschlang – 27 Jahre -, zum Autor wurde, zum Verfasser
von pornographischen und philosophischen Romanen und Briefen.
Freimütig nannte er sich selbst noch in der Zelle einen Wüstling.
SPR
Adel verpflichtet ...
TP
... meinte der französische Gelehrte Maurice Blanchot dazu trocken.
In den Festungen von Vincennes und der Bastille produzierte das gedemütigte Fleisch des Marquis eine metaphysische Revolte, wie sie die
Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte und die auf Namen wie Die 120
Tage von Sodom, Zwiegespräch eines Priesters und eines Sterbenden,
Philosophie des Boudoir oder Justine und Juliette getauft wurden und bis
zum heutigen Tag ein Skandal sind – Skandal und simulacrum in einem.
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SPR
Die Fackel der Philosophie entflammt am Ficksaft ...
TP
... konstatierte der Marquis mit der ihm eigenen Deutlichkeit in Justine
und Juliette.
Mit den 120 Tagen von Sodom schuf der Marquis eine Enzyklopädie des
Bösen – etwas, das mit den 600 akribisch behandelten Passionen auf
das Projekt der Enzyklopädisten antwortete, auf die Aufklärung.
Aber de Sade war kein Gegenaufklärer, vielmehr trieb er die Rationalität
in den Exzess. Den Marquis de Sade darf man als den Ersten betrachten, der zeigte, dass die logische Beweisführung nichts anders ist als
Ausübung von Gewalt. Logisches Denken ist brutales Herrschaftswissen.
Wer das einmal begriffen hat, wird auch verstehen, warum dem deutschen Philosophen Immanuel Kant eine geheime Geistesverwandtschaft
zu dem Marquis nachgesagt wird. Beide haben mithilfe der Vernunft
neue Kerker errichtet. Erotik kommt bei keinem der beiden Denker vor.
Erotik ist frivol, galant, lasziv; ist die im Fleisch angekommene metaphysische Revolte. Erotik überschreitet unerlaubterweise Grenzen - was bedeutet, die Vernunft aus ihrem selbst geschaffenen Kerker zu befreien.
Adressiert man diesen Befund an die Gegenwart, wird man sagen können, dass Erotik und Begehren die sexuellen Tarifverhandlungen zwischen Mann und Frau erheblich stören - die zwanghafte Aufrechnerei
der Quoten, Betreuungszeiten und Orgasmen pro Woche. Erotik hat imDieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! ©Bayerischer Rundfunk 2015. Bayern2 - Hörerservice, Bayerischer
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mer Anteil am Verbotenen. Wer immer Gesetze aufstellt, der König, die
Vernunft, die Sitte, die Behörde für Normen – im Kopf werden die Gesetze gern mal übertreten. Genau das ist Erotik – zumindest ein wesentlicher Teil von ihr.
SPR Après vous!
TP
Nach Ihnen! Mit diesen Worten hat der französisch-litauische Philosoph
Emmanuel Lévinas sein Werk zusammengefasst, das zum konsequenten Materialismus des Marquis de Sade ein radikales Gegenkonzept
entwirft. Nach Lévinas entzieht sich das weibliche Prinzip dem Subjekt,
das sein Können ausspielt und das in die Welt expandiert. Nur dem radikal passiven Subjekt gibt es sich. Aber in dieser erotischen Liebe widerfährt dem Mann eine neue Produktivität, nicht die des technischen, fabrikförmigen Könnens und jener Vermögen, kraft derer wir die Welt konstituieren, sondern die Begegnung mit dem weiblichen Anderen befähigt
ihn, ein Kind zu zeugen, den Sohn. Die Passivität des Subjekts in der
Liebe nennt Lévinas auch: Sterben. Rückzug, Passivität und Sterben
sind nötig, um der Welt Platz einzuräumen. Um ein Anderes als man
selbst zur Welt kommen zu lassen. Die Passivität des Subjekts, der Tod
seines Könnens, ist die Bedingung für seine Fruchtbarkeit. Lévinas beschreibt seine Philosophie als eine, die vom Mythos zum Logos und vom
Logos zum Eros führt.
Erotik ist vieldeutig und mehrdimensional. Sie befreit und transzendiert
den Logos. Die Antike kannte keine Homosexualität. Das Wort taucht
erst Mitte des 19. Jahrhunderts auf, wenig später ergänzt durch den BeDieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! ©Bayerischer Rundfunk 2015. Bayern2 - Hörerservice, Bayerischer
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griff der Heterosexualität – also genau in jenem Moment, als die Rationalität sich in Form der Fabrik zur Herrschaft über die Erde aufschwingt.
Weder die alten Griechen noch Römer haben Hetero- und Homosexualität unterschieden, vielmehr unterschieden sie zwischen Aktivität und
Passivität. Das Passive ist glatt, das Aktive ist bärtig. Alle Männer haben
aufgrund ihrer Genese ein Erbe, das glatt ist, passiv, weiblich – eben,
solange sie bartlos gewesen sind. Bartlose pueri, also Knaben, nannten
die Römer blühende Wangen oder Pfirsichbäckchen und sagten, wenn
sie gesittet waren:
SPR
Bitte nach Ihnen!
Böckelmann, Franz / Ebner, Horst Die Befreiung frisst ihre Kinder in:
Tumult. Vierteljahresschrift für Konsensstörung. Dresden: Frühjahr 2015
Camus, Albert Der Mensch in der Revolte. Reinbek bei Hamburg: 1972.
Rowohlt (rororo 1216)
Fuld, Werner Eine Geschichte des sinnlichen Schreibens. Berlin 2014:
Galiani
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Quignard, Pascal Sexualität und Schrecken. Zürich / Berlin 2015:
diaphanes
Sade, Marquis de Justine und Juliette. München 1990 - 2002: Matthes &
Seitz
ders. Philosophie des Boudoir. München 1975: Willing (edw 4)
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