1 Manuskript radioWissen SENDUNG: 26.10.2015 09.05 Uhr/B2 AUFNAHME: STUDIO: GESCHICHTE Ab 8. Schuljahr TITEL: Die Bayern in Napoleons Russlandfeldzug Das Ende einer Armee AUTOR: Thomas Grasberger REDAKTION: Thomas Morawetz REGIE: Eva Demmelhuber TECHNIK: Siglinde Hermann PERSONEN: Erzähler: Axel Wostry Erzählerin: Beate Himmelstoß Zitator 1: Jerzy May Zitator 2: Peter Weiß Zitatorin: Sabine Kastius Musik, Atmo ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 MUSIK Erzähler: Frühjahr 1812: Der mächtigste Mann der Erde ruft fast 700.000 Mann zu den Fahnen. An der Weichsel stellt er das größte Heer aller Zeiten auf. Napoleon Bonaparte will „Herr der Welt“ werden. Dafür muss er Moskau erobern. Und deshalb marschiert in jenem elenden Jahr 1812 die Grande Armée in die Weiten Russlands – ihrem Untergang entgegen. Napoleons Feldzug wird zu einer einzigen Katastrophe. Einer militärischen. Und einer menschlichen Katastrophe. Mit ausgelöst wird sie von einer nahezu unsichtbaren Feindin: Bartonella quintana. Wer ihr verfällt, leidet bald an hohem Fieber und fruchtbaren Kopfschmerzen. Erzählerin: Bartonella quintana ist ein Bakterium. Es löst das so genannte Fünftagefieber aus – auch Schützengrabenfieber genannt, weil es vor allem Soldaten im Krieg befällt. Aber das konnten Napoleon und seine Leute damals noch nicht wissen. Erzähler: Fast 200 Jahre später untersuchen französische Forscher in der litauischen Stadt Vilnius die Überreste eines Massengrabes. 22.000 napoleonische Soldaten waren dort beim Rückzug aus Russland an Infektionskrankheiten gestorben. In ihren Uniformenresten und Knochenfragmenten finden die Forscher im Jahr 2005 das Erbgut von Kleiderläusen. Mehr als die Hälfte der Läuse war Überträger von Bartonella quintana gewesen. Auch im Zahnmark gefallener Soldaten fanden sich Spuren des Bakteriums. Erzählerin: Aber Bartonella war nicht allein. Auch Fleckfiebererreger konnten nachgewiesen werden. Ebenfalls übertragen durch Läuse, genauer gesagt: durch Kopfläuse! Drei von zehn Soldaten, so die Forscher, litten an der einen oder der anderen FieberKrankheit. Die „Weltseele zu Pferde“, wie Napoleon vom deutschen Philosophen Hegel genannt wurde, ist also an einem Riesenheer von Läusen gescheitert? ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 Zitator 1 (Oberst von Baumbach) „Kam man in die Wärme, so fingen sie an, sich zu rühren. Mich hatten sie auf der Brust ganz wund gebissen, so dass man noch Jahre lang die Narben davon sehen konnte.“ MUSIK ENDE Erzählerin: Schreibt der königlich-württembergische Oberst Ernst von Baumbach, der den Russland-Feldzug überlebte. Anders als Hunderttausende europäischer Soldaten, die der Franzosenkaiser ins Verderben geschickt hatte. Zu den Opfern der Katastrophe gehörten auch viele bayerische Soldaten. Für sie begann der Russland-Feldzug am 15. Februar 1812, um die Mittagszeit. MUSIK Erzähler: Bei heftigem Schneetreiben marschiert ein bayerisches Regiment durch München. 12 Kompanien á 134 Mann ziehen am Hofgarten vorbei und an der Residenz. Der bayerische König nimmt seine Soldaten in Augenschein, bevor sie über die Schönfeldstraße in Richtung Englischer Garten und weiter nach Bogenhausen und Ismaning marschieren. Ihr Ziel ist Oberfranken, wo sich Truppen aus ganz Bayern versammeln. Erzählerin: Zehn Tage zuvor ist ein hochoffizielles Schreiben in München eingetroffen. Darin ersucht der französische Kaiser Napoleon den bayerischen König Maximilian I. Joseph, das bayerische Kontingent „marschfertig“ zu stellen. Gegen Russland soll es gehen. Weil der Zar die Kontinentalsperre Napoleons gegen England nicht mehr mittragen will. König Max ist nicht begeistert von den Kriegsplänen des Franzosen. Bayern soll 30.000 Soldaten aus allen Waffengattungen mit in den Krieg schicken; mehr als alle anderen Satellitenstaaten Napoleons. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 4 Erzähler: So sieht es Artikel 38 der Rheinbundakte für den Ernstfall vor. Der bayerische König kann nicht aus. Bündnis bleibt Bündnis. Schließlich hat Bayern von Napoleon kräftig profitiert. Er war es schließlich, der das Land von den Österreichern befreit und den Wittelsbachern die Königskrone aufs Haupt gesetzt hat (MUSIK ENDE). Bayern muss als Mitglied des Rheinbunds an allen Kriegszügen Napoleons teilnehmen und die Kosten mittragen. MUSIK Erzählerin: Aus allen Garnisonen zwischen Straubing und Lindau, Bayreuth und Innsbruck werden Soldaten und Offiziere eingezogen. Zwei komplette Armeekorps sammeln sich im Raum Bamberg-Bayreuth. Am 8. März 1812 werden 28.463 Mann mit 6.727 Pferden gezählt. Das Kommando über die Truppen haben der 45-jährige Karl Philipp Graf von Wrede, General der Kavallerie, und Bernhard Erasmus Graf von Deroy; „Vater Deroy“, wie die Soldaten den Infanterie-General liebevoll nennen, ist Jahrgang 1743 - also schon 69 Jahre alt. Erzähler: Am 10. März 1812 beginnt für die Bayern ein langer, beschwerlicher Marsch – über Dresden, Glogau und Posen bis an die Weichsel, wo Napoleon sein Riesenheer versammelt: Franzosen, Deutsche, Italiener, Spanier, Schweizer, Portugiesen, Kroaten, Polen, Österreicher, Holländer. 450.000 Mann rücken an die russische Grenze vor. Später kommen weitere 150.000 nach. Ein bunter Tross, der an eine Armee der frühen Neuzeit erinnert: Marketender sind dabei und Dienstboten von Offizieren, auch Ehefrauen von Soldaten und sogar kleine Kinder. Erzählerin: Es ist kalt und regnet in Strömen, als das bayerische Kontingent in Richtung Osten loszieht. Es fehlt hinten und vorne – an Feldflaschen und Brotbeuteln, auch an passendem Schuhwerk. Die bayerischen Truppen sind von Anfang an schlecht ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 ausgerüstet. Sollen sich doch die Franzosen drum kümmern, sagt die Militärverwaltung in München. Aber die Franzosen kümmern sich nicht. Erzähler: Unter den bayerischen Soldaten ist auch Hauptmann Joseph Maillinger. In seinem Tagebuch berichtet er von der so genannten Weichselzopfkrankheit, verursacht durch mangelnde Hygiene und – wie er vermutet – durch schlechtes Wasser. Bei dieser chronischen Erkrankung, die in Polen damals weit verbreitet ist, verkleben die Haare zu einer heillos verfilzten Masse, in der sich jede Menge Ungeziefer einnistet. Die Einwohner haben so viele Läuse, dass sie den Kampf dagegen längst aufgegeben haben, berichtet Maillinger. Die bayerischen Soldaten meiden deshalb Wohnhäuser und nächtigen lieber in Scheunen. Erzähler: Im Mai 1812, noch bevor die bayerischen Soldaten Russland erreichen, bleibt der Nachschub aus. Es fehlt an Schuhen, Hemden, Unterwäsche, Decken und Strohsäcken. Sold gibt es auch keinen mehr. Es kommt zu ersten französischen Beschwerden über bayerische Plünderer, die sich an Einheimischen schadlos halten. Die bayerischen Befehlshaber protestieren zunächst gegen die Vorwürfe, stellen dann aber im Juni doch Offiziere ab, die gegen Plünderer in den eigenen Reihen vorgehen sollen. Einige hundert Bayern haben sich nämlich zurückfallen lassen, geben vor krank zu sein und durchstreifen auf eigene Faust die polnischen Dörfer. Trotz der von Napoleon angedrohten Todesstrafe für Plünderer schlagen sie Fenster ein, verwüsten Bauernhäuser und rauben Geschirr, Vieh und Essbares. Die Mehrheit der bayerische Soldaten verhält sich aber noch diszipliniert. Noch … Erzähler: Als die Bayern Anfang Juli den russischen Grenzfluss Njemen, zu Deutsch: Memel überschreiten, ist das Verpflegungssystem fast völlig zusammengebrochen. Kein Brot, kein Geld – die Stimmung in der Truppe wird immer schlechter. Kadaver säumen die kaum befestigten Wege; ein „pestilenzartiger“ Geruch liegt in der Luft. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 Wochenlang leben die Soldaten vom Fleisch der Schlachtochsen, die sie mittreiben und die der Reihe nach verenden. Fleisch und Branntwein bestimmen den Speiseplan der Truppe, denn es gibt kein Getreide. Und wenn, dann kann man es nicht mahlen. Auch das Wasser ist sumpfig und brackig. MUSIK ENDE Erzählerin: Napoleon hat sich verschätzt. Russland ist groß und dünn besiedelt. Während sich die russischen Truppen immer weiter ins Landesinnere zurückziehen, werden Napoleons Nachschubwege immer länger und anfälliger für Partisanen. Wo die Russen keine verbrannte Erde hinterlassen, plündern kaiserliche Truppen die Dörfer, Höfe und Felder. Die nachrückenden Bayern gehen oft leer aus. Hunger leiden vor allem die einfachen Soldaten. Erzähler: Von den 375 Gramm Fleisch, 750 Gramm Brot und dem halben Liter Bier, die jedem bayerischen Soldaten täglich zustehen, ist nichts zu sehen. Trotzdem bewältigen die Truppen an manchen Tagen eine Strecke von 48 Kilometern. Bei großer Juli-Hitze oder inmitten von Morast sind es vielleicht nur 20 oder 30 – aber in zerlumpten Uniformen und kaputten Schuhen! Und mit Gewehr und Tornister auf dem Rücken! Jeder einzelne Infanterist schleppt insgesamt 33 Kilogramm mit sich herum. Er hat kein Fuhrwerk, kein Pferd, keinen Helfer. Dafür trägt der stolze Bayer sein schwarzes Kasket – den typischen Raupenhelm, den er beim Marschieren ständig festhalten muss, damit er ihm nicht vom Kopf fällt. Obendrauf sitzt noch dazu ein roter Wollkamm, der sich bei Regen mit Wasser voll saugt. Auch die Läuse dürften sich recht wohl gefühlt haben in diesen schmucken, aber unpraktischen Kopfbedeckungen. MUSIK ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 7 Erzählerin: Ende Juli 1812 haben die Bayern bereits starke Verluste zu verzeichnen. Allein bei der 19. Division werden 25 Offiziere und 1.886 Mann als krank oder vermisst gemeldet. Der oberste Stabsarzt der bayerischen Truppen Doktor Martin Köhler schreibt am 30. Juli 1812 an die Generallazarett-Inspektion: Zitator 1 (Dr. Martin Köhler) „Seit Wilna ist das Armeekorps beständig und ohne Rasttag im Marsche (MUSIK ENDE). Dazu kam fortdauernder Mangel an brod (sic!), und einige Tage und Nächte hindurch häufiger Regen, meistens sumpfige, mitunter bodenlose Wege; und schlechtes Sumpfwasser. Diese Umstände zusammen, mögen es veranlasst haben, dass sich plötzlich eine große Menge Diarrhoen und Dissenterien einstellten, und dass Entkräftungen häufig vorkamen, welche den Leuten das Marschieren unmöglich machten.“ Erzählerin: Diarrhoe – das ist starker Durchfall. Und Dissenterie ist das französische Wort für Ruhr. Letztere beginnt mit Appetitlosigkeit, Fieber, Abgeschlagenheit und Bauchkrämpfen. Sie endet unter den damals herrschenden medizinischen Bedingungen fast immer tödlich. Ende August meldet der bayerische Hauptmann von Thurn und Taxis vom 6. Armeekorps, dass täglich 40 bis 50 Bayern an Ruhr sterben (MUSIK: . Er führt diese Krankheit auf den „immerwährenden bloßen Fleischgenuss“ zurück, weil es an Brot fehlt. Und auch an sauberem Trinkwasser. Joseph Schrafel aus Landshut berichtet, dass die Soldaten „aus einer großen Pfütze“ trinken, … Zitator 2 (Joseph Schrafel) „… die aussah wie braune Farbe und von unzähligen kleinen Würmern wimmelte.“ Erzähler: Und Hauptmann Joseph Maillinger schreibt: ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Bis zur Entdeckung der Bakterien um 1860 sind die Kenntnisse über Infektionskrankheiten noch sehr gering. Man macht für das Fieber so genannte Miasmen verantwortlich – also üble Dämpfe, Ausdünstungen aus Sümpfen und dem Erdreich. Aber es sind nicht die Dämpfe, die töten – sondern Durchfall und Lungenentzündung. Das Sterben unter Napoleons Soldaten beginnt lange vor der ersten Feindberührung. Von den 25.000 bayerischen Soldaten, die losmarschiert waren, fielen Anfang August bereits 9.000 aus. MUSIK Erzähler: Also bevor sie überhaupt in die erste Schlacht ziehen konnten. Die tobte vom 16. bis zum 22. August bei Polozk. 1.135 Soldaten werden dabei verwundet, 715 vermisst, 144 Mann fallen. Unter ihnen ist auch General Deroy. Trotz dieser Opfer ist es nicht der militärische Kampf, der die meisten Verluste bringt, schreibt die Historikerin Julia Murken in ihrem Buch über „Bayerische Soldaten im Russlandfeldzug 1812“: MUSIK ENDE ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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An ordentliche Begräbnisse ist nicht mehr zu denken, schreibt Hauptmann Joseph Maillinger: Zitator 1 (Joseph Maillinger) „So stürzte man am hellen Tage die Leichen aus den Fenstern der Lazarette in die vorbei fließende Düna. Diese aber lieferte das Kochwasser für das Lager.“ Erzähler: Abgrundtiefe Resignation macht sich breit. Vor allem die einfachen bayerischen Soldaten vom Land sind verzweifelt und leiden unter Heimweh. Fußsoldat Josef Benediktus Waibel schreibt an seine Eltern: Zitator 2 (Benediktus Waibel) „19.9.1812: O könnt ich Hilfe haben von Euch zu Hause – nur die übrige Suppe täte meinem Leib gut. Aber leider nichts – nun lass ich’s dem lieben Gott über, sein Wille geschehe.“ Erzähler: Der französische Oberst de Marbot ist erschrocken über diese Apathie vor allem der bayerischen Soldaten: MUSIK ENDE ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 10 Zitator 1 (Oberst de Marbot) „Seit sie keine regelmäßigen Lieferungen mehr erhielten, hatte sich ihrer ein düsterer Geist bemächtigt, eine Art Indifferentismus, der alles über sich ergehen lässt (MUSIK). Bald starben sie auch wie die Fliegen. (…) Sie krankten an Heimweh, und alle diejenigen, welche nach einem der in Polozk errichteten Lazarette geschickt wurden, verlangten dort in das „Sterbezimmer“ gebracht zu werden, streckten sich aufs Stroh und standen nicht mehr auf.“ Erzähler: Endstation Lazarett: Der Tod als Erlösung. Viele Soldaten haben wohl geahnt, dass der Wahnsinn noch lange kein Ende haben würde. Erzählerin: Denn in der Zwischenzeit gelingt es Napoleon endlich, seinen zurück weichenden Gegnern eine erste Schlacht aufzuzwingen. Am 7. September 1812, in der Nähe des Dorfes Borodino. Es wird eine der blutigsten Schlachten des 19. Jahrhunderts. Ohne klaren Sieger, aber mit immensen Verlusten auf beiden Seiten. Mehr als 90.000 Tote, schätzt man heute. Napoleon verliert fast 30.000 Mann, kann aber nach Moskau ziehen und die Hauptstadt einnehmen. Erzähler: Doch die Russen sind nicht geschlagen. Sie ziehen sich zurück, überlassen das brennende Moskau dem Feind. Eine kluge Strategie! Als Napoleon am 14. September mit 100.000 Soldaten in die russische Hauptstadt einmarschiert, hat er bereits zwei Drittel seiner Hauptarmee verloren. Erzählerin: Napoleon wartet vergeblich auf Verhandlungen mit dem Zaren. Weil er keine Verpflegungsreserven hat, um in Moskau zu überwintern, gibt er Mitte Oktober den Befehl zum Rückzug. Damit beginnt der zweite Teil der Tragödie. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Oktober die zweite Schlacht von Polozk schlagen. Zitator 1 (Joseph Maillinger) „Nie werde ich diese schreckliche Nacht vergessen, in der ich alle Gräuel des Krieges, die nur vorkommen können, kennen lernte.“ Erzähler: … berichtet der bayerische Hauptmann Maillinger. Einige Tausend Mann verlieren ihr Leben, auch viele Bayern darunter, die insgesamt aber noch glimpflich davon kommen. Als zum Abzug aus Polozk geblasen wird, müssen über tausend Kranke und Verwundete zurück gelassen werden. Erzählerin: Die Armee befindet sich in Auflösung. Wer noch ein Fünkchen Lebensmut in sich trägt, desertiert. Wer noch laufen kann, läuft (MUSIK ENDE). Ende Oktober gehen Berichte an den kommandierenden Wrede, dass bayerische Soldaten bis an die Weichsel zurück gerannt seien, wo sie von französischen Gendarmen aufgegriffen wurden. Ob es wirklich nur an der schlechten Ausbildung der „Bauern im Soldatenrock“ lag, wie General Wrede vermutet? Jedenfalls strömen seine Leute ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 12 ungeordnet zurück. Abgestumpft stapfen sie über Sterbende hinweg, denen sie die letzten Fetzen brauchbaren Gewands entreißen, um sich selbst etwas umhängen zu können - als Schutz gegen die Kälte. Verrohung macht sich breit. In den Briefen des westfälischen Stabsoffiziers Friedrich Wilhelm von Lossberg kann man lesen, wie hungrige Soldaten in den niedergebrannten Dörfern Hunde einfangen, die sie oft Tage lang hinter sich herschleifen, bevor sie sie erdrosseln, um sie zu grillen. MUSIK Zitator 1 (Friedrich Wilhelm von Lossberg) „Den Pferden geht es noch schlimmer. Diese (…) werden, um ein Stück Fleisch zu bekommen, auf die gefühlloseste Weise getötet; wie ich denn manches Pferd selbst am Wege gefunden habe, dem ein Schenkel abgeschnitten war, und welches noch lebte.“ MUSIK ENDE Erzähler: Napoleons Rückzug ist ein Desaster. 275.000 Tote und 200.000 Gefangene hat die Grande Armee zu beklagen. Im November überqueren 70.000 Mann den Fluss Beresina. Dabei fallen weitere 30.000 Soldaten. ATMO (Beresina-Lied) Erzählerin: Und der russische Winter schlägt mit voller Härte zu. Minus 20, minus 30 Grad sind keine Seltenheit. Überall liegen tote Menschen, tote Pferde, rauchende Trümmer. Eine Gespensterarmee auf dem Rückzug! MUSIK ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 13 Erzähler: Am 4. Dezember erreichen die bayerischen Soldaten das litauische Vilnius. Jene Stadt Wilna also, in der die französischen Wissenschaftler fast zwei Jahrhunderte später das Massengrab mit den Knochenresten entdecken werden. Erzählerin: Der Anblick, der sich Hauptmann Maillinger und seinen Kameraden bietet, ist grauenhaft. Überall liegen Leichen. Alles ist erstarrt, Eisflocken und tote Vögel fallen aus der Luft. MUSIK ENDE Zitator 1 (Joseph Maillinger) „Am 7. Dezember waren 26 Grad Kälte. Die Verwirrung nahm immer mehr zu, nach dem auch der Kaiser die Armee verlassen hatte.“ Erzählerin: Napoleon hatte am 5. Dezember jener Todestruppe den Rücken gekehrt, die einmal seine Grande Armée war. Der Kaiser – so erfahren wir von seinem Ersten Kammerdiener Louis Constant Wairy –hatte beim Russlandfeldzug zwar auf den gewohnten Luxus verzichten müssen und litt auch unter Schlafstörungen... Zitator 1 (Kammerdiener Wairy) „Er hatte allerdings stets ein Bett zur Verfügung, allein dieses war mit der Zeit recht schlecht geworden; die Decken waren besudelt und voller Ungeziefer; wir haben natürlich, da wir die Wäsche nicht wechseln konnten, mehr gelitten als der Kaiser.“ Erzähler: Napoleon hatte also auch Läuse. Aber anders als seine Soldaten war er nicht an Fleckfieber oder Fünftagefieber erkrankt, als er am 18. Dezember wohlbehalten ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 14 nach Paris zurückkehrte. Schließlich war der Kaiser auch im Krieg gut versorgt gewesen, genoss täglich sein Bad und sein Brathähnchen. Erzählerin: Während seine Soldaten geschwächt, unterernährt, verdreckt und durchgefroren waren. Wie der Infanterist Josef Deifl aus Essing im Altmühltal (MUSIK). Deifl erkrankt beim Rückzug und kommt ins Spital von Thorn an der Weichsel. In „das fürchterliche Rathaus, wo mehr als 2.000 Baiern in diesem Winter heraus starben“. Zitator 2 (Josef Deifl) „O was ein Spital! 2 Öfen sind darin, da man einer den andern nicht erschreien mag. Nun da muss ich sein. Eine Decke, sehr gering, schwarz wie Totentuch, aber schneeweiß von Ungeziefer.“ Erzähler: Unter solchen Umständen macht nicht nur Bartonella quintana – das Fieber auslösende Bakterium – reiche Beute. Viele sterben. Fußsoldat Deifl überlebt. Und auch Hauptmann Joseph Maillinger kommt Monate später wieder heim nach München. Sie sind Ausnahmen: Insgesamt 35.000 bayerische Soldaten waren im Jahr 1812 nach Russland gezogen. Von zehn kam nur einer wieder nach Hause. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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