Die Bayern in Napoleons Russlandfeldzug

1
Manuskript
radioWissen
SENDUNG: 26.10.2015
09.05 Uhr/B2
AUFNAHME:
STUDIO:
GESCHICHTE
Ab 8. Schuljahr
TITEL:
Die Bayern in Napoleons Russlandfeldzug
Das Ende einer Armee
AUTOR:
Thomas Grasberger
REDAKTION:
Thomas Morawetz
REGIE:
Eva Demmelhuber
TECHNIK:
Siglinde Hermann
PERSONEN:
Erzähler:
Axel Wostry
Erzählerin:
Beate Himmelstoß
Zitator 1:
Jerzy May
Zitator 2:
Peter Weiß
Zitatorin:
Sabine Kastius
Musik, Atmo
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2
MUSIK
Erzähler:
Frühjahr 1812: Der mächtigste Mann der Erde ruft fast 700.000 Mann zu den
Fahnen. An der Weichsel stellt er das größte Heer aller Zeiten auf. Napoleon
Bonaparte will „Herr der Welt“ werden. Dafür muss er Moskau erobern. Und
deshalb marschiert in jenem elenden Jahr 1812 die Grande Armée in die Weiten
Russlands – ihrem Untergang entgegen. Napoleons Feldzug wird zu einer
einzigen Katastrophe. Einer militärischen. Und einer menschlichen Katastrophe.
Mit ausgelöst wird sie von einer nahezu unsichtbaren Feindin: Bartonella quintana.
Wer ihr verfällt, leidet bald an hohem Fieber und fruchtbaren Kopfschmerzen.
Erzählerin:
Bartonella quintana ist ein Bakterium. Es löst das so genannte Fünftagefieber aus
– auch Schützengrabenfieber genannt, weil es vor allem Soldaten im Krieg befällt.
Aber das konnten Napoleon und seine Leute damals noch nicht wissen.
Erzähler:
Fast 200 Jahre später untersuchen französische Forscher in der litauischen Stadt
Vilnius die Überreste eines Massengrabes. 22.000 napoleonische Soldaten waren
dort beim Rückzug aus Russland an Infektionskrankheiten gestorben. In ihren
Uniformenresten und Knochenfragmenten finden die Forscher im Jahr 2005 das
Erbgut von Kleiderläusen. Mehr als die Hälfte der Läuse war Überträger von
Bartonella quintana gewesen. Auch im Zahnmark gefallener Soldaten fanden sich
Spuren des Bakteriums.
Erzählerin:
Aber Bartonella war nicht allein. Auch Fleckfiebererreger konnten nachgewiesen
werden. Ebenfalls übertragen durch Läuse, genauer gesagt: durch Kopfläuse! Drei
von zehn Soldaten, so die Forscher, litten an der einen oder der anderen FieberKrankheit. Die „Weltseele zu Pferde“, wie Napoleon vom deutschen Philosophen
Hegel genannt wurde, ist also an einem Riesenheer von Läusen gescheitert?
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Zitator 1 (Oberst von Baumbach)
„Kam man in die Wärme, so fingen sie an, sich zu rühren. Mich hatten sie auf der
Brust ganz wund gebissen, so dass man noch Jahre lang die Narben davon sehen
konnte.“
MUSIK ENDE
Erzählerin:
Schreibt der königlich-württembergische Oberst Ernst von Baumbach, der den
Russland-Feldzug überlebte. Anders als Hunderttausende europäischer Soldaten,
die der Franzosenkaiser ins Verderben geschickt hatte. Zu den Opfern der
Katastrophe gehörten auch viele bayerische Soldaten. Für sie begann der
Russland-Feldzug am 15. Februar 1812, um die Mittagszeit.
MUSIK
Erzähler:
Bei heftigem Schneetreiben marschiert ein bayerisches Regiment durch München.
12 Kompanien á 134 Mann ziehen am Hofgarten vorbei und an der Residenz. Der
bayerische König nimmt seine Soldaten in Augenschein, bevor sie über die
Schönfeldstraße in Richtung Englischer Garten und weiter nach Bogenhausen und
Ismaning marschieren. Ihr Ziel ist Oberfranken, wo sich Truppen aus ganz Bayern
versammeln.
Erzählerin:
Zehn Tage zuvor ist ein hochoffizielles Schreiben in München eingetroffen. Darin
ersucht der französische Kaiser Napoleon den bayerischen König Maximilian I.
Joseph, das bayerische Kontingent „marschfertig“ zu stellen. Gegen Russland soll
es gehen. Weil der Zar die Kontinentalsperre Napoleons gegen England nicht
mehr mittragen will. König Max ist nicht begeistert von den Kriegsplänen des
Franzosen. Bayern soll 30.000 Soldaten aus allen Waffengattungen mit in den
Krieg schicken; mehr als alle anderen Satellitenstaaten Napoleons.
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Erzähler:
So sieht es Artikel 38 der Rheinbundakte für den Ernstfall vor. Der bayerische
König kann nicht aus. Bündnis bleibt Bündnis. Schließlich hat Bayern von
Napoleon kräftig profitiert. Er war es schließlich, der das Land von den
Österreichern befreit und den Wittelsbachern die Königskrone aufs Haupt gesetzt
hat (MUSIK ENDE). Bayern muss als Mitglied des Rheinbunds an allen
Kriegszügen Napoleons teilnehmen und die Kosten mittragen.
MUSIK
Erzählerin:
Aus allen Garnisonen zwischen Straubing und Lindau, Bayreuth und Innsbruck
werden Soldaten und Offiziere eingezogen. Zwei komplette Armeekorps sammeln
sich im Raum Bamberg-Bayreuth. Am 8. März 1812 werden 28.463 Mann mit
6.727 Pferden gezählt. Das Kommando über die Truppen haben der 45-jährige
Karl Philipp Graf von Wrede, General der Kavallerie, und Bernhard Erasmus Graf
von Deroy; „Vater Deroy“, wie die Soldaten den Infanterie-General liebevoll
nennen, ist Jahrgang 1743 - also schon 69 Jahre alt.
Erzähler:
Am 10. März 1812 beginnt für die Bayern ein langer, beschwerlicher Marsch –
über Dresden, Glogau und Posen bis an die Weichsel, wo Napoleon sein
Riesenheer versammelt: Franzosen, Deutsche, Italiener, Spanier, Schweizer,
Portugiesen, Kroaten, Polen, Österreicher, Holländer. 450.000 Mann rücken an
die russische Grenze vor. Später kommen weitere 150.000 nach. Ein bunter
Tross, der an eine Armee der frühen Neuzeit erinnert: Marketender sind dabei und
Dienstboten von Offizieren, auch Ehefrauen von Soldaten und sogar kleine Kinder.
Erzählerin:
Es ist kalt und regnet in Strömen, als das bayerische Kontingent in Richtung Osten
loszieht. Es fehlt hinten und vorne – an Feldflaschen und Brotbeuteln, auch an
passendem Schuhwerk. Die bayerischen Truppen sind von Anfang an schlecht
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ausgerüstet. Sollen sich doch die Franzosen drum kümmern, sagt die
Militärverwaltung in München. Aber die Franzosen kümmern sich nicht.
Erzähler:
Unter den bayerischen Soldaten ist auch Hauptmann Joseph Maillinger. In seinem
Tagebuch berichtet er von der so genannten Weichselzopfkrankheit, verursacht
durch mangelnde Hygiene und – wie er vermutet – durch schlechtes Wasser. Bei
dieser chronischen Erkrankung, die in Polen damals weit verbreitet ist, verkleben
die Haare zu einer heillos verfilzten Masse, in der sich jede Menge Ungeziefer
einnistet. Die Einwohner haben so viele Läuse, dass sie den Kampf dagegen
längst aufgegeben haben, berichtet Maillinger. Die bayerischen Soldaten meiden
deshalb Wohnhäuser und nächtigen lieber in Scheunen.
Erzähler:
Im Mai 1812, noch bevor die bayerischen Soldaten Russland erreichen, bleibt der
Nachschub aus. Es fehlt an Schuhen, Hemden, Unterwäsche, Decken und
Strohsäcken. Sold gibt es auch keinen mehr. Es kommt zu ersten französischen
Beschwerden über bayerische Plünderer, die sich an Einheimischen schadlos
halten. Die bayerischen Befehlshaber protestieren zunächst gegen die Vorwürfe,
stellen dann aber im Juni doch Offiziere ab, die gegen Plünderer in den eigenen
Reihen vorgehen sollen. Einige hundert Bayern haben sich nämlich zurückfallen
lassen, geben vor krank zu sein und durchstreifen auf eigene Faust die polnischen
Dörfer. Trotz der von Napoleon angedrohten Todesstrafe für Plünderer schlagen
sie Fenster ein, verwüsten Bauernhäuser und rauben Geschirr, Vieh und
Essbares. Die Mehrheit der bayerische Soldaten verhält sich aber noch
diszipliniert. Noch …
Erzähler:
Als die Bayern Anfang Juli den russischen Grenzfluss Njemen, zu Deutsch: Memel
überschreiten, ist das Verpflegungssystem fast völlig zusammengebrochen. Kein
Brot, kein Geld – die Stimmung in der Truppe wird immer schlechter. Kadaver
säumen die kaum befestigten Wege; ein „pestilenzartiger“ Geruch liegt in der Luft.
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Wochenlang leben die Soldaten vom Fleisch der Schlachtochsen, die sie
mittreiben und die der Reihe nach verenden. Fleisch und Branntwein bestimmen
den Speiseplan der Truppe, denn es gibt kein Getreide. Und wenn, dann kann
man es nicht mahlen. Auch das Wasser ist sumpfig und brackig.
MUSIK ENDE
Erzählerin:
Napoleon hat sich verschätzt. Russland ist groß und dünn besiedelt. Während sich
die russischen Truppen immer weiter ins Landesinnere zurückziehen, werden
Napoleons Nachschubwege immer länger und anfälliger für Partisanen. Wo die
Russen keine verbrannte Erde hinterlassen, plündern kaiserliche Truppen die
Dörfer, Höfe und Felder. Die nachrückenden Bayern gehen oft leer aus. Hunger
leiden vor allem die einfachen Soldaten.
Erzähler:
Von den 375 Gramm Fleisch, 750 Gramm Brot und dem halben Liter Bier, die
jedem bayerischen Soldaten täglich zustehen, ist nichts zu sehen. Trotzdem
bewältigen die Truppen an manchen Tagen eine Strecke von 48 Kilometern. Bei
großer Juli-Hitze oder inmitten von Morast sind es vielleicht nur 20 oder 30 – aber
in zerlumpten Uniformen und kaputten Schuhen! Und mit Gewehr und Tornister
auf dem Rücken! Jeder einzelne Infanterist schleppt insgesamt 33 Kilogramm mit
sich herum. Er hat kein Fuhrwerk, kein Pferd, keinen Helfer. Dafür trägt der stolze
Bayer sein schwarzes Kasket – den typischen Raupenhelm, den er beim
Marschieren ständig festhalten muss, damit er ihm nicht vom Kopf fällt. Obendrauf
sitzt noch dazu ein roter Wollkamm, der sich bei Regen mit Wasser voll saugt.
Auch die Läuse dürften sich recht wohl gefühlt haben in diesen schmucken, aber
unpraktischen Kopfbedeckungen.
MUSIK
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Erzählerin:
Ende Juli 1812 haben die Bayern bereits starke Verluste zu verzeichnen. Allein bei
der 19. Division werden 25 Offiziere und 1.886 Mann als krank oder vermisst
gemeldet. Der oberste Stabsarzt der bayerischen Truppen Doktor Martin Köhler
schreibt am 30. Juli 1812 an die Generallazarett-Inspektion:
Zitator 1 (Dr. Martin Köhler)
„Seit Wilna ist das Armeekorps beständig und ohne Rasttag im Marsche (MUSIK
ENDE). Dazu kam fortdauernder Mangel an brod (sic!), und einige Tage und
Nächte hindurch häufiger Regen, meistens sumpfige, mitunter bodenlose Wege;
und schlechtes Sumpfwasser. Diese Umstände zusammen, mögen es veranlasst
haben, dass sich plötzlich eine große Menge Diarrhoen und Dissenterien
einstellten, und dass Entkräftungen häufig vorkamen, welche den Leuten das
Marschieren unmöglich machten.“
Erzählerin:
Diarrhoe – das ist starker Durchfall. Und Dissenterie ist das französische Wort für
Ruhr. Letztere beginnt mit Appetitlosigkeit, Fieber, Abgeschlagenheit und
Bauchkrämpfen. Sie endet unter den damals herrschenden medizinischen
Bedingungen fast immer tödlich. Ende August meldet der bayerische Hauptmann
von Thurn und Taxis vom 6. Armeekorps, dass täglich 40 bis 50 Bayern an Ruhr
sterben (MUSIK: . Er führt diese Krankheit auf den „immerwährenden bloßen
Fleischgenuss“ zurück, weil es an Brot fehlt. Und auch an sauberem Trinkwasser.
Joseph Schrafel aus Landshut berichtet, dass die Soldaten „aus einer großen
Pfütze“ trinken, …
Zitator 2 (Joseph Schrafel)
„… die aussah wie braune Farbe und von unzähligen kleinen Würmern wimmelte.“
Erzähler:
Und Hauptmann Joseph Maillinger schreibt:
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Zitator 1 (Joseph Maillinger)
„dafür kochten wir unseren Kaffee, der ein Hauptnahrungsmittel bildete, stets mit
Schnaps ab und tranken ihn aus unsern Feldflaschen.“
Erzählerin:
Unterernährung und Entkräftung führen zu Infektionskrankheiten wie
Lungenentzündung und Nervenfieber (MUSIK ENDE). So hat man damals den
Typhus genannt. Das „Fleck- oder Läusefieber“, das französische Forscher 2005
in den Massengräbern von Wilna feststellen, wird noch nicht als eigene Krankheit
erkannt. Vermutlich läuft es seinerzeit unter dem Begriff Kriegstyphus. Auch vom
Fünftagefieber weiß man noch nichts. Bis zur Entdeckung der Bakterien um 1860
sind die Kenntnisse über Infektionskrankheiten noch sehr gering. Man macht für
das Fieber so genannte Miasmen verantwortlich – also üble Dämpfe,
Ausdünstungen aus Sümpfen und dem Erdreich. Aber es sind nicht die Dämpfe,
die töten – sondern Durchfall und Lungenentzündung. Das Sterben unter
Napoleons Soldaten beginnt lange vor der ersten Feindberührung. Von den
25.000 bayerischen Soldaten, die losmarschiert waren, fielen Anfang August
bereits 9.000 aus.
MUSIK
Erzähler:
Also bevor sie überhaupt in die erste Schlacht ziehen konnten. Die tobte vom 16.
bis zum 22. August bei Polozk. 1.135 Soldaten werden dabei verwundet, 715
vermisst, 144 Mann fallen. Unter ihnen ist auch General Deroy. Trotz dieser Opfer
ist es nicht der militärische Kampf, der die meisten Verluste bringt, schreibt die
Historikerin Julia Murken in ihrem Buch über „Bayerische Soldaten im
Russlandfeldzug 1812“:
MUSIK ENDE
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Zitatorin (Julia Murken)
„Der Tod auf dem Schlachtfeld spielte im Verhältnis zu Krankheiten und
Erschöpfung nur eine sehr untergeordnete Rolle.“
Erzählerin:
Es sind vielmehr die Strapazen des Marsches, der Hunger, die Entkräftung – und
die Krankheiten (MUSIK). Übrigens nicht nur bei den Bayern. Von den
württembergischen Soldaten ist bis Mitte August bereits die Hälfte an Ruhr
gestorben. Und in den vier Lazaretten der Ruinenstadt Polozk verenden täglich
zwischen 100 und 150 bayerische Soldaten. An ordentliche Begräbnisse ist nicht
mehr zu denken, schreibt Hauptmann Joseph Maillinger:
Zitator 1 (Joseph Maillinger)
„So stürzte man am hellen Tage die Leichen aus den Fenstern der Lazarette in die
vorbei fließende Düna. Diese aber lieferte das Kochwasser für das Lager.“
Erzähler:
Abgrundtiefe Resignation macht sich breit. Vor allem die einfachen bayerischen
Soldaten vom Land sind verzweifelt und leiden unter Heimweh. Fußsoldat Josef
Benediktus Waibel schreibt an seine Eltern:
Zitator 2 (Benediktus Waibel)
„19.9.1812: O könnt ich Hilfe haben von Euch zu Hause – nur die übrige Suppe
täte meinem Leib gut. Aber leider nichts – nun lass ich’s dem lieben Gott über,
sein Wille geschehe.“
Erzähler:
Der französische Oberst de Marbot ist erschrocken über diese Apathie vor allem
der bayerischen Soldaten:
MUSIK ENDE
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Zitator 1 (Oberst de Marbot)
„Seit sie keine regelmäßigen Lieferungen mehr erhielten, hatte sich ihrer ein
düsterer Geist bemächtigt, eine Art Indifferentismus, der alles über sich ergehen
lässt (MUSIK). Bald starben sie auch wie die Fliegen. (…) Sie krankten an
Heimweh, und alle diejenigen, welche nach einem der in Polozk errichteten
Lazarette geschickt wurden, verlangten dort in das „Sterbezimmer“ gebracht zu
werden, streckten sich aufs Stroh und standen nicht mehr auf.“
Erzähler:
Endstation Lazarett: Der Tod als Erlösung. Viele Soldaten haben wohl geahnt,
dass der Wahnsinn noch lange kein Ende haben würde.
Erzählerin:
Denn in der Zwischenzeit gelingt es Napoleon endlich, seinen zurück weichenden
Gegnern eine erste Schlacht aufzuzwingen. Am 7. September 1812, in der Nähe
des Dorfes Borodino. Es wird eine der blutigsten Schlachten des 19. Jahrhunderts.
Ohne klaren Sieger, aber mit immensen Verlusten auf beiden Seiten. Mehr als
90.000 Tote, schätzt man heute. Napoleon verliert fast 30.000 Mann, kann aber
nach Moskau ziehen und die Hauptstadt einnehmen.
Erzähler:
Doch die Russen sind nicht geschlagen. Sie ziehen sich zurück, überlassen das
brennende Moskau dem Feind. Eine kluge Strategie! Als Napoleon am 14.
September mit 100.000 Soldaten in die russische Hauptstadt einmarschiert, hat er
bereits zwei Drittel seiner Hauptarmee verloren.
Erzählerin:
Napoleon wartet vergeblich auf Verhandlungen mit dem Zaren. Weil er keine
Verpflegungsreserven hat, um in Moskau zu überwintern, gibt er Mitte Oktober
den Befehl zum Rückzug. Damit beginnt der zweite Teil der Tragödie.
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Erzähler:
Das bayerische Kontingent besteht Anfang Oktober nur noch aus 6.064
waffentragenden Soldaten. Als am 7. Oktober 1812 Major Caspers mit dem ersten
Nachschubtransport aus München eintrifft, um Geld, Arznei und Ausrüstung zu
bringen, ist er entsetzt über den traurigen Zustand der ausgehungerten Truppe:
Zitator 2 (Major Caspers)
„Kuhhäute in schmale Riemen geschnitten und gebraten, Kröten und Frösche,
faule, ausgeworfene Fische, Hunde, Katzen, Kräuter, Schwämme, Korn,
Eingeweide, Haber, Blut, kurz alles wurde wie Leckerbissen verschlungen...“
Erzähler:
Völlig entkräftet müssen die Soldaten am 20. Oktober die zweite Schlacht von
Polozk schlagen.
Zitator 1 (Joseph Maillinger)
„Nie werde ich diese schreckliche Nacht vergessen, in der ich alle Gräuel des
Krieges, die nur vorkommen können, kennen lernte.“
Erzähler:
… berichtet der bayerische Hauptmann Maillinger. Einige Tausend Mann verlieren
ihr Leben, auch viele Bayern darunter, die insgesamt aber noch glimpflich davon
kommen. Als zum Abzug aus Polozk geblasen wird, müssen über tausend Kranke
und Verwundete zurück gelassen werden.
Erzählerin:
Die Armee befindet sich in Auflösung. Wer noch ein Fünkchen Lebensmut in sich
trägt, desertiert. Wer noch laufen kann, läuft (MUSIK ENDE). Ende Oktober gehen
Berichte an den kommandierenden Wrede, dass bayerische Soldaten bis an die
Weichsel zurück gerannt seien, wo sie von französischen Gendarmen aufgegriffen
wurden. Ob es wirklich nur an der schlechten Ausbildung der „Bauern im
Soldatenrock“ lag, wie General Wrede vermutet? Jedenfalls strömen seine Leute
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ungeordnet zurück. Abgestumpft stapfen sie über Sterbende hinweg, denen sie
die letzten Fetzen brauchbaren Gewands entreißen, um sich selbst etwas
umhängen zu können - als Schutz gegen die Kälte. Verrohung macht sich breit. In
den Briefen des westfälischen Stabsoffiziers Friedrich Wilhelm von Lossberg kann
man lesen, wie hungrige Soldaten in den niedergebrannten Dörfern Hunde
einfangen, die sie oft Tage lang hinter sich herschleifen, bevor sie sie erdrosseln,
um sie zu grillen.
MUSIK
Zitator 1 (Friedrich Wilhelm von Lossberg)
„Den Pferden geht es noch schlimmer. Diese (…) werden, um ein Stück Fleisch zu
bekommen, auf die gefühlloseste Weise getötet; wie ich denn manches Pferd
selbst am Wege gefunden habe, dem ein Schenkel abgeschnitten war, und
welches noch lebte.“
MUSIK ENDE
Erzähler:
Napoleons Rückzug ist ein Desaster. 275.000 Tote und 200.000 Gefangene hat
die Grande Armee zu beklagen. Im November überqueren 70.000 Mann den Fluss
Beresina. Dabei fallen weitere 30.000 Soldaten.
ATMO (Beresina-Lied)
Erzählerin:
Und der russische Winter schlägt mit voller Härte zu. Minus 20, minus 30 Grad
sind keine Seltenheit. Überall liegen tote Menschen, tote Pferde, rauchende
Trümmer. Eine Gespensterarmee auf dem Rückzug!
MUSIK
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Erzähler:
Am 4. Dezember erreichen die bayerischen Soldaten das litauische Vilnius. Jene
Stadt Wilna also, in der die französischen Wissenschaftler fast zwei Jahrhunderte
später das Massengrab mit den Knochenresten entdecken werden.
Erzählerin:
Der Anblick, der sich Hauptmann Maillinger und seinen Kameraden bietet, ist
grauenhaft. Überall liegen Leichen. Alles ist erstarrt, Eisflocken und tote Vögel
fallen aus der Luft.
MUSIK ENDE
Zitator 1 (Joseph Maillinger)
„Am 7. Dezember waren 26 Grad Kälte. Die Verwirrung nahm immer mehr zu,
nach dem auch der Kaiser die Armee verlassen hatte.“
Erzählerin:
Napoleon hatte am 5. Dezember jener Todestruppe den Rücken gekehrt, die
einmal seine Grande Armée war. Der Kaiser – so erfahren wir von seinem Ersten
Kammerdiener Louis Constant Wairy –hatte beim Russlandfeldzug zwar auf den
gewohnten Luxus verzichten müssen und litt auch unter Schlafstörungen...
Zitator 1 (Kammerdiener Wairy)
„Er hatte allerdings stets ein Bett zur Verfügung, allein dieses war mit der Zeit
recht schlecht geworden; die Decken waren besudelt und voller Ungeziefer; wir
haben natürlich, da wir die Wäsche nicht wechseln konnten, mehr gelitten als der
Kaiser.“
Erzähler:
Napoleon hatte also auch Läuse. Aber anders als seine Soldaten war er nicht an
Fleckfieber oder Fünftagefieber erkrankt, als er am 18. Dezember wohlbehalten
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nach Paris zurückkehrte. Schließlich war der Kaiser auch im Krieg gut versorgt
gewesen, genoss täglich sein Bad und sein Brathähnchen.
Erzählerin:
Während seine Soldaten geschwächt, unterernährt, verdreckt und durchgefroren
waren. Wie der Infanterist Josef Deifl aus Essing im Altmühltal (MUSIK). Deifl
erkrankt beim Rückzug und kommt ins Spital von Thorn an der Weichsel. In „das
fürchterliche Rathaus, wo mehr als 2.000 Baiern in diesem Winter heraus
starben“.
Zitator 2 (Josef Deifl)
„O was ein Spital! 2 Öfen sind darin, da man einer den andern nicht erschreien
mag. Nun da muss ich sein. Eine Decke, sehr gering, schwarz wie Totentuch, aber
schneeweiß von Ungeziefer.“
Erzähler:
Unter solchen Umständen macht nicht nur Bartonella quintana – das Fieber
auslösende Bakterium – reiche Beute. Viele sterben. Fußsoldat Deifl überlebt. Und
auch Hauptmann Joseph Maillinger kommt Monate später wieder heim nach
München. Sie sind Ausnahmen: Insgesamt 35.000 bayerische Soldaten waren im
Jahr 1812 nach Russland gezogen. Von zehn kam nur einer wieder nach Hause.
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