Geschichte des Gefängnisses

1
Manuskript
radioWissen
SENDUNG: 16.11.2015
09.05 Uhr / B 2
AUFNAHME:
STUDIO:
GESCHICHTE
Ab . Schuljahr
TITEL:
Geschichte des Gefängnisses – Vom Loch zum
Hochsicherheitstrakt
AUTOR/IN:
Dorit Kreissl
REDAKTION:
Thomas Morawetz
REGIE:
Dorit Kreissl
TECHNIK:
Andreas Lucke
PERSONEN:
Erzähler
Detlef Kügow
Zitator:
Wolfgang Pregler
Erzählerin und 1 x Zitatorin: Rahel Comtesse
Sprecher:
Benedikt Schregle (PS)
Zuspielungen: Ernst Graßy, Förderverein Altes Gefängnis Freising
Besondere Anmerkungen:
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Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich!
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2
ATMO:
Gefängnistür
O-Ton 1
Wenn man sich das mal vor Augen führt: ein Kind, ein Bub, der 13,14,15 Jahre alt
war, über längere Zeiträume gefoltert wird und der dann als Einzelperson immer
wieder in diese Einzelzelle gesperrt wird, das allein ist schon Folter genug.
MUSIK
Prison 1 Z9383218018
ZITATORIN:
"In dunklen schaurigen Räumen sitzen die Häftlinge an Ketten geschmiedet oder
in Stöcken, geschlossen, an den Händen, am Fuß gefesselt oder an den
Gliedmaßen in Holzblöcken, in denen Arme und Beine eingeschlossen werden. In
Halsbändern, dicht an die Wand gefesselt, können die Gefangenen nur zwischen
Hocken, Kauern und Sitzen ihre Lage wechseln."
ERZÄHLER:
Barbarische Gefängnisse, in denen Kinder gefoltert werden und Menschen
langsam verfaulen. Ein Schicksal, das auch Casanova bestimmt war:
MUSIK: Fellini's Casanova MR012430 315
SPRECHER:
Berühmte Gefängnisse - 1: die Bleikammern von Venedig
ERZÄHLERIN:
Unter dem bleigedeckten Dach des Dogenpalastes von Venedig befinden sich
winzige, finstere Haftzellen für politische Gefangene. Im Sommer werden sie
extrem heiß und im Winter extrem kalt. 1755 sperrte die Inquisition Giacomo
Casanova in die Bleikammern. Sie gelten als absolut ausbruchsicher.
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Dennoch gelingt Casanova nach einem Jahr die Flucht aus seinem
abscheulichen Kerker, in dem er fast wahnsinnig geworden wäre. In seinen
Erinnerungen hält er fest:
ZITATOR:
Casanova
"Ein Mensch der allein eingesperrt ist, hat keine Möglichkeit, sich zu beschäftigen.
Wenn man an einem dunklen Ort allein ist, wo man nicht sehen kann, wohin nur
einmal am Tage der Mann kommt, der das Essen bringt, wo man nur in gebückter
Haltung herumgehen kann, dann ist man der allerunglücklichste Mensch. Man
wünscht sich, wenn man daran glaubt, in die Hölle, nur um Gesellschaft zu haben.
Dieses Gefühl ist so gebieterisch, dass ich schließlich mir sogar einen Mörder,
einen Pestkranken, einen Bären als Kerkergenossen wünschte."
MUSIK Isolation M0022152 Z00
ERZÄHLER:
In der Frühzeit steckte man Übeltäter vermutlich in Erdlöcher, wo sie entweder
starben oder als Opfergaben herhalten mussten. Patriarchen im alten Rom
bestraften Sklaven oder unliebsame Angehörige mit Hausarrest.
Musik aus
Schuldner übereigneten Gläubigern ihren Körper als Pfand; sie konnten in Haft
genommen oder zur Sklavenarbeit gezwungen werden. Die Kirchen unterhielten
eigene Gefängnisse in ihren Klöstern: Barmherzig ging es hier nicht zu:
ZITATOR:
Schubert
"In den Klöstern ist schon seit der Spätantike die Freiheitsstrafe für die Mönche
bekannt. Klosterhaft gab es auch in den Nonnenkonventen, wie eine Nachricht
Gregor von Tours lehrt: König Gunthram wies Theudichilde, die Witwe König
Chariberts, in ein Kloster ein. Sie wollte fliehen, aber ihre Flucht wurde entdeckt.
Die Äbtissin ließ sie hart geißeln und in den Kerker werfen, in dem sie bis zum
Ende ihres zeitlichen Lebens nicht geringe Leiden zu ertragen hatte."
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4
ERZÄHLER:
erzählt der Historiker Ernst Schubert in seinem Buch "Räuber, Henker, Arme
Sünder". In den Klosterverliesen sollten Mönche und Nonnen ihre Sünden
bereuen und diszipliniert werden.
MUSIK: Escape from the tower Z9499303 105
SPRECHER:
Berühmte Gefängnisse - Nummer 2: der Tower von London
ERZÄHLERIN:
Seit dem 14. Jahrhundert das Gefängnis der Könige: Heinrich VI., Eduard V. und
der Herzog von York warteten hier auf ihre Hinrichtung, ebenso Sir Walter
Raleigh, dem Hochverrat vorgeworfen wurde, bevor ihn der Henker köpfte.
Dasselbe Schicksal erlitten drei der Frauen Heinrich VIII. Dieser ließ auch seinen
Kanzler Thomas Morus in den Tower werfen und köpfen. Die prominenten
Häftlinge waren mitunter durchaus standesgemäß untergebracht, darbten nicht bei
Wasser und Brot. Der letzte Todeskandidat war ein deutscher Spion; 1941
erschoss ihn ein Hinrichtungskommando. Heute gehört der Tower zum
Weltkulturerbe
Musik aus
und ist ein touristisches Highlight, das sich unter anderem mit den britischen
Kronjuwelen schmückt.
ERZÄHLER:
Das Gefängnis, wie wir es kennen, als Mittel der Rechtspflege mit systematischen
Freiheitsstrafen, existiert erst seit Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts. Bis
über das Mittelalter hinaus dominierten Todes- und Leibstrafen. Vierteilen,
Rädern, Verstümmeln, Handabhacken, Blenden, Folterungen waren nur einige der
Grausamkeiten eines Strafsystems, das vorwiegend auf den Körper zielte. Die
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brutalen Hinrichtungen waren öffentliche Schauspiele, Inszenierungen des
Leidens. Der Körper diente als Objekt der Rache und der Abschreckung.
MUSIK Notwo C1437020 019
ERZÄHLER:
Im Spätmittelalter richteten Städte kommunale Gefängnisse ein, bevorzugt in den
Türmen der Stadtmauern. Frevler, Ehebrecher, Trunkenbolde, Kuppler oder
Berufsspieler fanden hier ein schauriges Quartier, bis sie der Stadt verwiesen
wurden, ihre Geldbuße zahlen konnten oder zur Hinrichtung geführt wurden.
Größere Städte wie Nürnberg, Frankfurt oder Mainz hatten Lochgefängnisse. Wer
hier "eingelocht" wurde, fand noch schlimmere Haftbedingungen vor als in den
feuchten Verliesen der Stadttürme, wie Ernst Schubert in seinem Werk über
Verbrechen und Strafe im Mittelalter berichtet:
Musik aus
ZITATOR:
Schubert S. 139
"Es handelt sich um neu ausgebaute Kellerräume im Rathaus, kammerartig
abgeteilt, in Nürnberg ein ganzes Labyrinth von 70 Türen in sich schließend, das
nur durch eine vierfach eisenbeschlagene Pforte zugänglich war. Für die
Gebärenden gibt es hier ein Kinderbettstüblein. Der Stockwärter, der Büttel, der in
diesem unterirdischen Reich herrschte, hatte meistens seine Lohnwärter für die
unangenehmsten Aufgaben. Eine obrigkeitliche Kontrolle der Wärter fand nicht
statt. Unzucht der Gefangenenwärter mit Insassinnen gab es.
Die Wärter üben Gewalt über die Gefangenen aus."
MUSIK
Mandela Z9384181 203
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SPRECHER:
Berühmte Gefängnisse Nummer 3: Robben Island
ERZÄHLERIN:
1964 wurde Nelson Mandela auf die berüchtigte südafrikanische Gefängnisinsel
Robben Island gebracht, die schon seit dem 16. Jahrhundert Sträflingskolonie war:
Aussätzige, Lepra-Kranke, psychisch Kranke und Schwerkriminelle setzte man
hier aus. Das Apartheid-Regime internierte später seine politischen Gegner auf
der Insel. Die weißen Wärter schikanierten die schwarzen Häftlinge auf das
Grausamste, prügelten und demütigten sie. Nelson Mandela und andere Führer
des ANC waren auf der Isolierstation untergebracht, auf der jeglicher Kontakt
untereinander verboten war, ebenso Zeitung lesen oder Radio hören. Dennoch
kämpfte Mandela für die Rechte der Gefangenen und setzte Verbesserungen
durch. 18 Jahre blieb er auf Robben Island eingesperrt. Seine winzige Zelle ist seit
1997 eine Touristenattraktion - aus dem Knast wurde ein Museum.
MUSIK aus
ERZÄHLER:
Der Vorläufer des heutigen Gefängnisses ist Bridewell, ursprünglich eine Residenz
Heinrichs VIII. in London, bevor sie 1556 zur Haftanstalt für Bettler, Landstreicher
und Prostituierte umgebaut wurde. Es herrschte Arbeitszwang und so mutierte das
Gefängnis zum Arbeitshaus. Das galt auch für das Amsterdamer Zuchthaus von
1595, das nicht nur Bettler, Obdachlose und Straftäter aufnahm, sondern auch
psychisch Kranke, die von ihren Familien in die Anstalt abgeschoben wurden. Ab
1612 übernahmen Bremen, Lübeck, Hamburg und Danzig das Amsterdamer
Vorbild. Das Zuchthaus war eine Demonstration des staatlichen Gewaltmonopols,
eine üble Stätte, schreibt der Historiker Ernst Schubert.
ZITATOR:
Schubert …
"In diesen überfüllten Anstalten, Heimstätten aller Arten von Ungeziefer,
herrschten schlimme hygienische Zustände. Eine Krankenversorgung gab es
nicht. Skorbut, Krätze und Tuberkulose verbreiteten sich ungehemmt. Die
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Sterberate war hoch. Dazu trugen auch die für die Anstalten typischen Arbeiten
bei, die hier ohne jeden Schutz für die Augen verrichtet wurden: Brillenschleifen,
Marmorschleifen oder wie in Graz das Feilen von Kupfer und Hirschhorn".
ERZÄHLER:
In der Geschichte des Zuchthauses rivalisierten drei Konzepte miteinander, die
sich in der Praxis vermischten, analysiert der Historiker: einmal das Wegschließen
des sogenannten "Gesindels" von der Gesellschaft, zum anderen der Straf- und
Schutzanspruch des Staates, und zum Dritten, das Zuchthaus als Instrument
sozialer Disziplinierung. Schon zehnjährige "ungeratene" Buben und Mädchen
sollten in den neuen Anstalten erzogen und diszipliniert werden. Kinder wurden in
Gefängnissen nicht nur diszipliniert, es geschah ihnen noch viel schlimmeres. Ein
besonders düsteres Kapitel schrieben die Domherren zu Freising.
MUSIK - Atmos Tür - Ketten
O-Ton 3 a
Graßy
Wir befinden uns jetzt in einer dieser Zellen im Hexenturm: Hier in diesen Zellen
waren die sogenannten Zauberbuben und diesen Zauberbuben wurde der
Prozess gemacht von 1715 bis 1723 und das waren Buben im Alter zwischen 13
und 18 Jahren.
ERZÄHLER:
Ernst Graßy führt durch das Alte Gefängnis Freising, das im 17. Jahrhundert
erbaut wurde. Graßy ist Mitglied des Fördervereins, der Teile des
denkmalgeschützten Gefängnisses restauriert hat und so erlebt man die bittere
Geschichte der Zauberbuben am Originalschauplatz:
O-Ton 3 b Graßy
Denen hat man irgendwelche Geschichten angedichtet, weil der André, der
Drudenfänger - so hat man ihn genannt - hat sich bei seinen Altersgenossen hier
in der Stadt wichtig gemacht. Er selbst war ja Waisenkind, hat gesagt, er könnte
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Mäuse machen und er könnte Ferkel machen und überhaupt könnte er zaubern.
Aber, irgendwann war es halt so, dass das in die falschen Ohren gekommen ist,
nämlich bei den Domherren. Die haben dann gesagt, das kann doch nicht sein,
dass da unten in der Stadt einer räumläuft - der kann zaubern, das geht ja gar
nicht, den müsst ihr inhaftieren.
ERZÄHLER:
14 Buben wurden im Hexenturm eingesperrt, jeder in Einzelhaft. Die längste
dauerte eineinhalb Jahre. Hier warteten sie auf ihre Hinrichtung durch das
Schwert, zu dem sie das Gericht allesamt verurteilt hatte. Die bettelnden
Waisenkinder waren unerwünschte Elemente in der fürstbischöflichen Stadt
gewesen. Man dichtete ihnen Unzucht mit dem Teufel an und verhörte sie
mehrfach notpeinlich.
Türknarzen
ERZÄHLER:
Die Folter begann immer wieder von neuen im Freisinger Gefängnis; denn die
Henker erhielten Stücklohn für jeden Hieb, für jedes Festbinden, erzählt Ernst
Graßy, der in die Folterkammer führt:
Geräusch aus
O-Ton 4 Graßy
Zunächst sehen wir hier einen Tisch, der gespickt ist mit sehr spitzen Holzdornen.
Da wurden die zum Verhör Geführten auf diesen Tisch gebunden. Dann hat der
Scharfrichter mit Weiden oder sonstigen Ruten auf den nackten Körper
eingeschlagen.
ERZÄHLER:
Der Drudenfänger Andre hielt die Tortur nicht mehr aus. Er erhängte sich in seiner
Zelle mit der Kette, mit der er an die Wand gefesselt war. Ein Bub erhielt einen
sogenannten Gnaden-Tod, weil er zu jung für die Hinrichtung war. Ernst Graßy:
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O-Ton 5
Den hat man in eine Wanne mit warmen Wasser gesetzt, hat ihm die Adern
eröffnet und hat ihn ausbluten lassen, damit er den Streich mit dem Schwert nicht
mehr spürt.
ERZÄHLER:
Die barbarischen Urteile stießen im Magistrat und in Teilen der Bevölkerung auf
Widerstand. Allerdings setzte sich der fürstbischöfliche Hofrat über die Einwände
hinweg und bestätigte alle Todesurteile. Auf der anderen Seite, und das darf auch
nicht vergessen werden, sagt Ernst Graßy, befriedigten die Hinrichtungen auch die
Sensationslust der Leute:
O-Ton 6
Graßy
Drei Tage vorher wurde in Freising kundgetan, dass wieder ein zum Tode
Verurteilter auf den Marienplatz gebracht wird, um das Todesurteil in Empfang zu
nehmen. Dann war natürlich der gesamte Marienplatz gefüllt mit Leuten, die sich
dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollten. Es war sogar gewünscht, dass
ganze Schulklassen bei diesen Enthauptungen zugegen waren.
ERZÄHLER:
Der letzte Hexenprozess fand in Deutschland 1775 statt. Das Todesurteil wurde
allerdings nicht vollstreckt. Es brachen neue Zeiten an:
MUSIK: Liana's death C1419660011
ZITATOR:
Foucault - 15, 25
"Binnen weniger Jahrzehnte ist der gemarterte, zerstückelte, verstümmelte, an
Gesicht oder Schulter gebrandmarkte, lebendig oder tot ausgestellte, zum
Spektakel dargebotene Körper verschwunden. Verschwunden ist der Körper als
Hauptzielscheibe der strafenden Repression. Da es nicht mehr der Körper ist, ist
es die Seele. Der Sühne, die dem Körper rasende Schmerzen zufügt, muss eine
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Strafe folgen, die in der Tiefe auf das Herz, das Denken, den Willen, die Anlagen
wirkt."
Musik aus
ERZÄHLER:
Der französische Philosoph Michel Foucault in seinem Standardwerk
"Überwachen und Strafen - Die Geburt des Gefängnisses". Im Verbrecher wurde
also der Mensch entdeckt, die Marter als Barbarei verurteilt. Aufklärung und
Reformation, die Industrielle Revolution, Umbrüche in Gesellschaft, Ökonomie und
im Rechtssystem beendeten das "Theater des Schreckens". Hinzu kam, so
Foucault, dass Ende des 17. Jahrhunderts die Blutverbrechen ab- und die
Eigentumsdelikte zunahmen. Die milderen Verbrechen führten zu milderen
Strafen. Die Haftstrafe löste die Körperstrafe ab und dafür wurden große
Anstalten für die massenhafte Unterbringung von Kriminellen errichtet. Dabei
wurde auch eine spektakuläre Idee des englischen Juristen und Philosophen
Jeremy Bentham in die Tat umgesetzt - sein panoptisches Gefängnis, eine
architektonische Lösung für das permanente, lautlose Überwachen von
Straftätern, die zudem effektiv und kostengünstig war:
ERZÄHLERIN:
Im Mittelpunkt eines transparenten, kreisrunden Baus steht ein
Überwachungsturm, von dem sternenförmig die einzelnen Zelltrakte abgehen. Die
Zellen selbst sind transparent, denn von beiden Seiten fällt Licht ein. So kann der
Aufseher im Turm - und es genügt einer - jede Bewegung der Gefangenen
registrieren, während er selbst im Dunkeln bleibt. Der Gefangene steht unter
permanentem Druck, denn er weiß nie, wann er überwacht wird.
ZITATOR:
Foucault S. 257
"Das Prinzip des Kerkers wird umgekehrt, genauer gesagt: von seinen drei
Funktionen - einsperren, verdunkeln und verbergen - wird nur die erstere aufrecht
erhalten, die beiden anderen fallen weg. Die Sichtbarkeit ist eine Falle. Der
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Gefangene wird gesehen, ohne selber zu sehen, er ist Objekt einer Information,
niemals Subjekt in einer Kommunikation."
ERZÄHLER:
analysierte Michel Foucault. Das Panoptikum war Vorbild unter anderem für das
Londoner Pentonville Prison 1811, das Eastern Penitentiary in Pittsburgh 1826,
das deutsche Gefängnis Berlin Moabit 1849 und das Presidio Modelo auf Kuba,
das 1928 erbaut wurde. In seiner reinen Form wurde es architektonisch allerdings
nie umgesetzt.
MUSIK Isolation
M0022152 Z00
ERZÄHLER:
Auf strenge Isolationshaft setzte die Religionsgemeinschaft der Quäker in
Pittsburgh, in der von ihnen errichteten Haftanstalt, dem vorhin erwähnten Eastern
State Penitentiary. Die Gefangen lebten in strikter Einzelhaft, Tag und Nacht. Sie
durften nicht arbeiten, einzige erlaubte Lektüre war die Bibel. Das sollte sie zu
innerer Einkehr führen und zu besseren Menschen machen. Der englische
Schriftsteller Charles Dickens besuchte 1842 das Bußhaus und gewann ganz
andere Eindrücke. In seinen amerikanischen Notizen urteilte er:
Musik aus
ZITATOR
Dickens
Das hier angewendete System ist in seinen Wirkungen grausam und ungerecht.
Ich glaube, nur wenige haben einen Begriff von der Tortur und der Seelenangst,
welche diese entsetzliche Strafe, wenn sie einige Jahre dauert, über die
Duldenden verhängt.
((Nach meinem Ermessen, nach dem, was ich in ihren Zügen geschrieben sah,
und nach dem, was in ihrem Innern, wie ich überzeugt bin, vorgehen muss, liegt in
dieser Strafe eine Hölle, deren ganze schreckliche Tiefe nur die Unglücklichen
selbst ergründen können; eine Qual, die kein Mensch das Recht hat seinem
Nächsten anzutun.))
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MUSIK: San Quentin you've been living hell to me" Z9419405 014
SPRECHER: Berühmte Gefängnisse Nummer 4: San Quentin
ERZÄHLERIN:
"San Quentin you've been living hell to me". Johnny Cash musste dieses Lied
gleich mehrfach singen, bei seinem Auftritt 1969 im ältesten Knast von Kalifornien
mit mehr als 4.000 Insassen. 1852 wurde er eingeweiht und bald war er
berüchtigt. Im chronisch überfüllten San Quentin saßen die brutalsten Verbrecher
ein. Bis 1937 wurden 215 gehängt, 196 in der Gaskammer hingerichtet. Durch die
Giftspritze endeten elf Gefangene.
MUSIK Nr. 3: Walzer ATI: Waltz 76217560 003 mit Iconography Z9344178
002
ZITATOR:
Auf dem Meere tanzt die Welle
nach der Freiheit Windmusik.
Raum zum Tanz hat meine Zelle
siebzehn Meter im Kubik.
Aus den blauen Himmeln zittert
Sehnsucht, die die Herzen stillt.
Meine Luke ist vergittert
und ihr dickes Glas gerillt.
Tausend Rätsel, tausend Fragen
machen manchen Menschen dumm.
Ich hab eine nur zu tragen:
Warum sitz ich hier? Warum?
Musiken aus
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ERZÄHLERIN:
"Mein Gefängnis" - ein Gedicht des Schriftstellers und Anarchisten Erich Mühsam,
der wegen seines politischen Engagements mehrmals seiner Freiheit beraubt
wurde. Mühsam kämpfte für die Räterepublik und gegen die Nationalsozialisten.
Die steckten den Antifaschisten ins Konzentrationslager Oranienburg, wo ihn 1934
die SS ermordete. Die Konzentrationslager sind eine besonders brutale Form der
Gefängnisse - ein Kapitel für sich.
ERZÄHLER:
In den regulären Gefängnissen des Dritten Reiches spielte der Erziehungsgedanke, wie er im 19. Jahrhundert, wenn auch oft mit fragwürdigen Methoden
umgesetzt wurde, keine Rolle mehr. Jetzt dominierten wieder Sühne und
Abschreckung. Erst nach 1945 entwickelte sich der Resozialisierungsgedanke. Er
wird im Strafvollzugsgesetz von 1977 als Ziel festgeschrieben. Erstmals regeln
nicht Verwaltungsvorschriften sondern ein Gesetz den Strafvollzug in
Deutschland. Es unterscheidet zwei Arten von Justizvollzugsanstalten: die
geschlossene, sichere Unterbringung und die offene Anstalt. In letzterer ist der
Häftling Freigänger, der tagsüber außerhalb des Gefängnisses zur Arbeit geht und
abends in die Zelle zurückkehrt.
MUSIK: Shahbesuch Z9337375 002
SPRECHER: Berühmte Gefängnisse Nummer 5 - Stuttgart-Stammheim
ERZÄHLERIN:
Für die Terroristen der R.A.F. wurden Teile des Gefängnisses 1975 zum
Hochsicherheitstrakt ausgebaut und direkt daneben ein eigenes GerichtsGebäude errichtet, das mit Stahlnetzen überspannt war. Man fürchtete
Befreiungsversuche aus der Luft. Stuttgart-Stammheim galt als sicherstes
Gefängnis der Welt. Dennoch fand man am Morgen des 18. Oktober 1977
Andreas Bader und Jan-Carl Raspe erschossen auf dem Boden ihrer Zellen.
Neben den Leichen lagen die Pistolen. Gudrun Ensslin wurde erhängt am Fenster
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14
ihrer Zelle gefunden. Selbstmord lautete das Untersuchungsergebnis der
Behörden, das von einigen bis heute angezweifelt wird.
ERZÄHLER:
"Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll den Willen und die Fähigkeit des Gefangenen
wecken und stärken, künftig ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu führen".
So steht es im Gesetz. Aber, macht das Gefängnis die Menschen wirklich besser?
Der Philosoph und Psychologe Michel Foucault beantwortete die Frage so:
MUSIK aus
ZITATOR:
Foucault
340 f und S. 295
Die Haft fördert den Rückfall; aus dem Gefängnis entlassen, hat man mehr
Chance als vorher, wieder dahin zu kommen. Das Gefängnis kann gar nicht
anders, als Delinquenten zu fabrizieren. Es tut das durch die Existenzweise, die es
den Häftlingen aufzwingt. Und dennoch sieht man nicht, wodurch es ersetzt
werden könnte. Es ist die verabscheuungswürdige Lösung, um die man nicht
herumkommt."
stopp
LITERATUR
- Michel Foucault: "Überwachen und Strafen - Die Geburt des Gefängnisses",
Suhrkamp Taschenbuch Verlag Wissenschaft, Frankfurt 1977, Übersetzung:
Walter Seitter
- Ernst Schubert "Räuber, Henker, Arme Sünder - Verbrechen und Strafe im
Mittelalter", Wissenschaftliche Buchgemeinschaft Darmstadt 2007
- Erich Mühsam: "Erich M - Mein Gefängnis" - aus Projekt-Gutenberg DE
-Giacomo Casanova: "Erinnerungen" - aus Projekt-Gutenberg DE
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- Charles Dickens: "Aufzeichnungen aus Amerika" - aus Projekt-Gutenberg DE
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