Die Landesvertretung Nordrhein-Westfalen in Brüssel informiert Brexit oder Fixit? Vertrauliche Gespräche zwischen britischer Regierung und EU über Referendum „Because I believe something very deeply. That Britain’s national interest is best served in a flexible, adaptable and open European Union and that such a European Union is best with Britain in it.” – David Cameron am 23. Januar 2013 Seit der britische Premierminister David Cameron am 23.01.2013 in seiner Bloomberg Speech ankündigte, im Falle seiner Wiederwahl die Entscheidung über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union dem britischen Volk zu überlassen, ist der Brexit eines der am kontroversesten diskutierten Szenarien in Großbritannien und der EU. Welche Folgen hätte der Austritt der Briten aus der Union in politischer und ökonomischer Hinsicht? Und wie wahrscheinlich ist der Brexit? Bis spätestens Ende 2017 wird das britische Volk in einem In- oder Out-Referendum die Antwort geben. Europaskepsis – Eine britische Tradition Die anfängliche Euphorie Großbritanniens über den Beitritt in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1973 verflog mit dem graduellen Kompetenzzuwachs der Gemeinschaft. Der häufig wahrgenommene Souveränitätsverlust Westminsters geht für viele Briten weit über das ursprüngliche Ziel der Gemeinschaft, einen liberalisierten Binnenmarkt zu schaffen, hinaus. Die Diskussion über die Vorbzw. Nachteilhaftigkeit der EU-Mitgliedschaft wird in den letzten Jahren vor allem durch zwei Entwicklungen angefacht: Zum einen ermöglicht das mit dem Vertrag von Lissabon eingeführte qualifizierte Mehrheitsverfahren im Rat, dass Großbritannien in den Politikbereichen, in denen kein sogenanntes Opt-out-Recht besteht, leichter überstimmt werden kann. Das Demokratiedefizit Europas, das Euroskeptiker traditionell als Argument gegen die Mitgliedschaft in der Union ins Feld führen, werde dadurch verstärkt. Zum anderen begünstigt die im Zuge der Währungs- und Finanzkrise eingeführte Bankenregulierung die Wahrnehmung der EU als Kontakt: [email protected] Regelungsmaschinerie, die einem florierenden Binnenmarkt mehr im Wege steht, anstatt ihm zu nutzen. David Cameron bei der Bloomberg Speech Auf diese Entwicklungen reagierte David Cameron mit seiner Bloomberg Speech, in der er drei Kernprobleme der Europäischen Union ausmachte: die Instabilität der Währungszone; die Krise der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union; die Legitimationskrise der Union sowie die daraus resultierende Distanz zu den Bürgern. Zwar betont Cameron, dass Großbritannien durch den Zugang zum Binnenmarkt durchaus profitiere. Allerdings seien die Vor- und Nachteile der Unionsmitgliedschaft sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Seine Unterstützung für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union macht der Premierminister von politischen Reformen abhängig, wodurch die Union flexibler, anpassungsfähiger und offener werden soll. Zu diesem Zweck kündigte der Premier an, „einen besseren Deal für Großbritannien“ aushandeln zu wollen. Worum geht es den Euroskeptikern? Camerons Reformforderungen konzentrieren Seite 1 Die Landesvertretung Nordrhein-Westfalen in Brüssel informiert sich auf vier Kernthemen. veröffentlichten Umfrage mehrheitlich (47,0% zu 40,9%) für den Verbleib in der Union aus. Besonders kritisch steht darüber hinaus der Finanzsektor, der mit annährend 1,4 Millionen Arbeitnehmern eine der wichtigsten Wirtschaftsbranchen des Landes ist, einer Abspaltung von der Europäischen Union gegenüber. Mehrere Großbanken, darunter die Deutsche Bank und Credit Suisse, kündigten an, im Falle eines Brexits eine Verlagerung ihrer Zentralen aus London in Erwägung zu ziehen. Branchenübergreifend wird zudem die Ungewissheit über den Ausgang und den genauen Zeitpunkt des Referendums sowie im Falle des Brexits die Ausgestaltung der rechtlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zu der Europäischen Union als Investitionshemmnis bewertet. Positionen zum Brexit Welche Konsequenzen hätte ein Brexit? Das Meinungsspektrum über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist weit gefächert. Zwischen britischer Politik und Wirtschaft zeichnet sich darüber hinaus ein Bruch ab. Die Europäische Union ist mit 44% des gesamten Exportvolumens Großbritanniens wichtigster Handelspartner. Wirtschaftliche Nachteile und Handelserschwernisse befürchten dementsprechend insbesondere die produzierenden und exportierenden Gewerbe. Auch kleine und mittelständische Unternehmen sprechen sich laut einer im September 2015 Sollte sich Großbritannien für den Austritt entscheiden, richtet sich das weitere Verfahren nach Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union (EUV). Danach müsste ein Austrittsabkommen aus-gehandelt werden, das die Beziehungen des austrittswilligen Staates und der Europäischen Union fortan regelt und auch die Weitergeltung von Unionsrecht vorsehen kann. Sämtliche Kompetenzen würden von der Union zurück zum Mitgliedstaat fallen. Die ökonomischen Konsequenzen eines Brexits hängen von der Ausgestaltung eines solchen völkerrechtlichen Vertrages ab, dessen Verhandlung sich über Jahre erstrecken könnte. Versuche, die Auswirkungen eines Brexits zu quantifizieren, sind daher auf Szenarien angewiesen. So geht etwa die Bertelsmann-Stiftung in einer 2015 veröffentlichten Studie davon aus, dass ein Brexit „langfristige negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und die ökonomische Dynamik des Landes“ haben würde. Im schlimmsten Fall könnte Großbritannien 14% seines BIP einbüßen, was bis 2030 etwa 300 Mrd. Euro entspricht. Auch Deutschland und der Rest Europas wären betroffen, wenngleich signifikant moderater. Deutschland müsste Schätzungen zu Folge mit einer BIP-Einbuße in Höhe von 0,3–0,6% rechnen, wobei bestimmte Branchen, etwa die Automobil- und Chemiehersteller, stärker Kontakt: [email protected] Seite 2 Die Landesvertretung Nordrhein-Westfalen in Brüssel informiert betroffen wären. Nordrhein-Westfalens Exportbilanz könnte im Vergleich zum Bundesdurchschnitt besonders stark beeinträchtigt werden. Großbritannien ist mit einem Gesamtexportvolumen von über 12,2 Mrd. Euro Nordrhein-Westfalens drittwichtigster Handelspartner (nach den Niederlanden und Frankreich). Auch in politischer Hinsicht könnte ein Brexit die Europäische Union empfindlich treffen und ihr Gewicht in der internationalen Politik schmälern. Auch würden Europaskeptiker in anderen Mitgliedstaaten in ihrem Bestreben bestärkt, ebenfalls aus der Europäischen Union auszutreten. Im Worst-Case-Szenario warnen Experten vor dem Beginn eines politischen Zersetzungsprozesses. Aktuelle Entwicklung Jüngste Umfrageergebnisse lassen einen engen Ausgang des Referendums erwarten. Während im Juni 2015 noch 60% der Briten einen Brexit ablehnten, haben die krisengespickten Sommermonate dazu beigetragen, dass die Brexit-Befürworter im September 2015 bis auf 3% aufholten. Laut der britischen Wochenzeitung Independent on Sunday könnte das Referendum bereits im Sommer 2016 stattfinden. Nähere Ankündigungen werden von Cameron auf den Parteitagen der Conservative Party vom 04.-07.10.2015 erwartet. Einen detaillierten Plan für das Referendum will der britische Premier zudem auf dem Gipfeltreffen der europäischen Staatsund Regierungschefs im Dezember 2015 präsentieren. Bis dahin finden auf verschiedenen politischen Ebenen vertrauliche, bilaterale Gespräche mit Vertretern der Europäischen Kommission, des Rates und einzelnen Abgeordneten des Europäischen Parlaments statt. So erfolgte etwa am 15.09.2015 ein Treffen zwischen dem britischen Europaminister David Lidington und Kommissionspräsident Jean Claude Juncker. Zudem soll Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlamentes, Cameron gebeten haben, vor dem Europäischen Parlament zu seinen Plänen Stellung zu beziehen. Weiterführende Informationen: http://www.euractiv.com/sections/ukeurope/brexit-would-cost-eu-314114 http://www.euractiv.com/sections/ukeurope/voting-brexit-eu-issues-shaping-ukelection-311585#group_extlinks http://www.publications.parliament.uk/pa/ld201 516/ldselect/ldeucom/30/30.pdf Kontakt: [email protected] Seite 3
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