72 GASTKOMMENTAR WOCHENENDE 10./11./12. APRIL 2015, NR. 69 Der Brexit rückt näher Denis MacShane fürchtet die geopolitischen Erschütterungen eines Austritts Englands aus der EU. A Faktoren – Politik, Wirtschaft, mediale Berichterstattung, Kultur, Identität und Geschichte – Großbritannien aus der EU treiben wird, sofern es zur Volksabstimmung kommen sollte. In welche Richtung die britischen Konservativen denken, wenn sie die Mindestanforderungen an einen neuen Vertrag formulieren, der es Großbritannien ermöglichen würde, ohne Gesichtsverlust Mitglied der EU zu bleiben, hat Ex-Premier John Major unlängst deutlich gemacht – und Cameron damit weiter unter Druck gesetzt: Der Zuzug von EU-Bürgern auf den britischen Arbeitsmarkt müsse ungeachtet der europäischen Freizügigkeitsrechte künftig streng gesteuert und begrenzt werden. Europa und Großbritannien erscheinen wie eine gealterte Wohngemeinschaft, in der sich die Briten in einem separaten Raum abkapseln. imago [M] lle Aufmerksamkeit der Europäer scheint derzeit auf die Frage eines möglichen Euro-Austritts Griechenlands gerichtet. Dabei droht an anderer Stelle eine viel größere Gefahr: Würde Großbritannien sich aus der Europäischen Union zurückziehen, so wäre das der größte anzunehmende Unfall für Europa. Der britische Premier David Cameron hofft, seine politische Zukunft mit dem Versprechen sichern zu können, 2017 eine Volksabstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der EU abzuhalten. Im Vorfeld der britischen Unterhauswahlen am 7. Mai spielt die „Brexit“-Frage keine dominierende Rolle. Doch die Welt sollte sich wappnen: Ein EU-Austritt Großbritanniens hätte eine geo- und wirtschaftspolitische Dimension von historischer Tragweite. Mit Großbritannien würden die USA ihren engsten Partner und Verbündeten innerhalb der EU verlieren. Die Amerikaner würden sich dann zwar nicht von Großbritannien, aber zweifellos noch weiter von Europa entfernen. Ohne das britische Gegengewicht würde Deutschland seine Vormachtstellung in der EU weiter ausbauen, ohne dass es danach streben würde. Denn Großbritannien beheimatet nicht nur die derzeit am schnellsten wachsende Volkswirtschaft, sondern auch jeden achten EU-Bürger. Und Frankreichs Rechtspopulistin Marine Le Pen hat schon angekündigt, Cameron nacheifern zu wollen und ihr Land per Referendum zum „Frexit“ zu führen, sollte sie die Wahlen 2017 gewinnen. Auch für Irland würde der Brexit einen tiefen Einschnitt bedeuten. Trotz unterschiedlicher Währungen teilen Iren und Briten einen gemeinsamen Wirtschaftsraum. Nach einem Gesetz von 1949 können Iren in Großbritannien leben und arbeiten, als hätten sie einen britischen Pass. Irland müsste diesen Status quo zur Disposition stellen, falls Großbritannien der EU den Rücken kehrte. Ein Brexit würde auch das schottische Unabhängigkeitsstreben weiter befeuern. Denn anders als die überwiegend europaskeptischen Engländer würden die Schotten wohl mehrheitlich für einen Verbleib in der EU stimmen. Die großen britischen Unternehmen sehen einem Brexit zwar besorgt entgegen, ziehen dieses Risiko aber doch der Aussicht auf eine neue Labour-Regierung unter Ed Miliband vor, deren Mehrheit im Unterhaus womöglich von der linksgerichteten, etatistischen Scottish Nationalist Party abhinge. Die Selbstgefälligkeit, mit der viele Wirtschaftsvertreter privat vor dem Brexit warnen, aber öffentlich nicht gegen die geplante Volksabstimmung Stellung beziehen wollen, könnte sich noch rächen – auch ökonomisch. Cameron selbst gibt sich zuversichtlich, die britischen Beziehungen zur EU reformieren zu können, um den Europaskeptikern ein „Ja“ zu Europa abzuringen. Das ist durchaus ambitioniert, denn Schützenhilfe aus Berlin oder Paris ist kaum zu erwarten. Ausgerechnet im geplanten Referendumsjahr stehen auch Kanzlerin Merkel und Präsident Hollande im Wahlkampf und müssen die antieuropäischen Populisten in ihren eigenen Ländern in Schach halten. So ist kaum anzunehmen, dass Zugeständnisse an Großbritannien zu ihrer Wahlkampfstrategie gehören werden. Jüngste Umfragen bestätigen die wachsende Europamüdigkeit der Briten. Noch kann sich das Pro-EU-Lager auf eine hauchdünne Mehrheit stützen. Aber die skeptischen Stimmen werden immer lauter. Wenn sich die Pro-Europäer einreden, der Volksentscheid sei ebenso leicht zu gewinnen wie 1975, als es um die Ratifizierung des Eintritts in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ging, oder jüngst um die Abspaltung Schottlands, verkennen sie den Ernst der Lage. 1975, zwei Jahre nach dem EWG-Eintritt Großbritanniens, waren alle politischen Parteien, der Gewerkschaftsdachverband und selbst die Murdoch-Presse enthusiastische Europäer. Sogar Margaret Thatcher als neu gewählte Chefin der Konservativen schrieb das überschwänglich europhile Buch „Britain and Europe“ und trug im Wahlkampf einen Pullover mit allen Flaggen der Wirtschaftsgemeinschaft. Der EU-Moloch Brüssel war damals noch vergleichsweise unbedeutend. Es gab kaum Richtlinien, keinen außenpolitischen Anspruch der EU, keinen Kommissionspräsidenten und keinen Euro. In Großbritannien bestand das antieuropäische Lager primär aus der kommunistischen Partei, Fast alle großen Volksabstimmungen in europäischen Staaten während der vergangenen 15 Jahre haben zu einem Nein zu Europa geführt. linksnationalistischen Labour-Abgeordneten und den syndikalistischen, militanten Gewerkschaften. Heute sind die gegen Europa vereinten Kräfte ungleich mächtiger. Man darf auch nicht übersehen, dass London das Schottland-Referendum im September 2014 erst nach massiven finanziellen und politischen Zugeständnissen für sich entschied – und so das Ende der 307 Jahre währenden englisch-schottischen Ehe in letzter Minute abwenden konnte. In den klammen Brüsseler Kassen fehlt das nötige Kleingeld für einen ähnlichen Deal mit Großbritannien. Und ohnehin ist der Briten-Rabatt, den Margaret Thatcher vor 30 Jahren aushandelte, weil das damals deutlich ärmere England von den EUAgrarsubventionen kaum profitierte, vielen Europäern längst ein Dorn im Auge. Heute erscheinen Europa und Großbritannien wie eine gealterte Wohngemeinschaft, in der sich die Briten in einem separaten Raum von den kontinentalen Mitbewohnern abkapseln. Die Briten fühlen sich von ihren Partnern herumkommandiert, an den Rand gedrängt und ausgenutzt. Und jetzt kommen auch noch immer mehr mittellose ausländische Verwandte hinzu. Wir sollten zudem nicht vergessen, dass fast alle großen Volksabstimmungen in anderen europäischen Staaten während der vergangenen 15 Jahre zu einem Nein zu Europa geführt haben – mit Ausnahme nur der Voten zur EU-Verfassung im europhilen Spanien und Luxemburg. Franzosen und Niederländer lehnten die EU-Verfassung ab, ebenso wie die Schweden den Euro. Warum sollte man darauf vertrauen, dass ausgerechnet die Briten sich zugunsten Europas entscheiden würden? Es spricht im Gegenteil einiges dafür, dass das Zusammenspiel verschiedener Doch es ist schlicht unvorstellbar, dass die großen europäischen Akteure Merkel, Hollande und Juncker an den vier Freiheiten von Waren, Kapital, Dienstleistungen und eben auch Menschen rütteln lassen werden. Immerhin handelt es sich hier um die Grundpfeiler der europäischen Idee. Auch die Forderungen aus den Reihen der britischen Wirtschaft, die Rechte von Gewerkschaften und Arbeitnehmern dürften nicht durch das „europäische Sozialmodell“ vorgegeben werden, sind weltfremd. Statt integrativ und kooperativ zu agieren wie die Unternehmen in den anderen EU-Staaten, bleiben viele britische Firmenchefs gern dem alten Klassendenken treu und beklagen, das Brüsseler Sozialmodell wirke sich geschäftsschädigend aus. Natürlich wird dies keine europäische Regierung – die deutsche schon gar nicht – zum Anlass nehmen, die Idee eines „sozialen Europas“ aufzugeben, nur um die Briten zu beschwichtigen. Seit 1997 haben sich die britischen Konservativen in den jeweiligen Wahlkämpfen auf einer zunehmend europaskeptischen bis -feindlichen Plattform eingerichtet und damit einen Zug ins Rollen gebracht, der sich nur noch schwer aufhalten lassen wird. Dass die pro-europäische Elite in London diese Gefahr immer noch leichtfertig abtut, macht es nicht besser. Großbritannien entfernt sich wie ein Schlafwandler von Europa, auch wenn Cameron weiter von einem neuen Vertrag im Sinne der europaskeptischen Kräfte träumt. Für den Fall, dass dieser nicht zustande kommen sollte, hat Camerons wichtigster Berater, Staatsminister Oliver Letwin, schon im November 2014 erklärt, dann sehe er sich „geneigt, einen EU-Austritt zu empfehlen“. Der Brexit steht also vor der Tür. Und eine Wiederwahl Camerons wird diese Tür aller Voraussicht nach aufstoßen. Der Autor war britischer Europaminister. Sie erreichen ihn unter: [email protected] © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected].
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