14 Brexit oder Nicht-Brexit – das ist hier die Frage Stand: 25.04.2016 Am 23. Juni 2016 stimmen die Briten darüber ab, ob Großbritannien in der Europäischen Union (EU) verbleibt oder daraus austritt. Premierminister David Cameron, der eigentliche Initiator des Referendums, will Teil einer reformierten Europäischen Union bleiben. Viele seiner Parteifreunde sind dagegen, auch die britische Bevölkerung ist tief gespalten. Der Ausgang des Referendums ist derzeit völlig offen. Fest steht jedoch: Sowohl für Großbritannien als auch die Europäische Union wird das Abstimmungsergebnis am 23. Juni von entscheidender Bedeutung sein. Nachfolgend haben wir die drängendsten Fragen rund um das Thema „Brexit“ näher beleuchtet. Warum wird überhaupt ein Referendum abgehalten? Die britische Bevölkerung hadert seit Jahren mit der EU-Mitgliedschaft ihres Landes. Auch David Cameron war lange Zeit als EU-Skeptiker bekannt, hatte sich jedoch während seiner ersten Amtszeit zunehmend EU-freundlich gezeigt. Dies führte 2012 zum Eklat, als sich das britische Parlament weigerte, dem von ihm verhandelten EU-Haushalt zuzustimmen. Cameron zog die Konsequenz und kündigte 2013 an, im Falle seiner Wiederwahl bis spätestens Ende 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU abzuhalten. Ohne Frage war dies ein politischer Schachzug, der darauf abzielte, den EU-Skeptikern in der eigenen Partei und auch dem Popularitätsanstieg der EU-kritischen UK Independence Party (UKIP) den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und Camerons Strategie ging auf: Die Parlamentswahl 2015 hat seine Partei, die Konservativen, entgegen den Erwartungen sogar mit absoluter Mehrheit gewonnen. Als strahlender Sieger hat Cameron daraufhin das Referendum bestätigt. Spätestens seit dem letzten EU-Gipfel im Februar dieses Jahres steht jedoch die Diskussion über einen möglichen Austritt Großbritanniens wieder ganz oben auf der politischen Agenda in Europa. Wie schon in der Vergangenheit konnte Cameron auf dem Gipfeltreffen einmal mehr weitreichende Zugeständnisse und Sonderregelungen – diesmal für den Fall eines Verbleibs in der EU – aushandeln. Seit diesem Verhandlungserfolg empfiehlt Cameron, für den Verbleib in der EU zu stimmen und führt die sogenannte „Remain“-Kampagne an. Wie wahrscheinlich ist ein Brexit? Die aktuelle Berichterstattung sowie die zahlreichen Meinungsumfragen lassen bislang keine eindeutige Tendenz hinsichtlich des zu erwartenden Abstimmungsergebnisses erkennen. Befürworter und Gegner eines Brexits liefern sich im Vorfeld des Referendums am 23. Juni unverändert ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Aktuellen Umfragen zufolge befinden sich die EUBefürworter mit 45% knapp in der Mehrheit. Auf die Gegner entfallen gegenwärtig 40% und auf die Unentschlossenen 15% der Stimmen. Ein deutliches Ergebnis des Referendums ist vor diesem Hintergrund nicht zu erwarten. Der relativ große Anteil an „Unentschiedenen“ dürfte letztlich den Ausschlag geben. Auch wenn David Cameron noch viel Überzeugungsarbeit für seine Pro-EU-Kampagne leisten muss, erscheint ein Sieg der EU-Befürworter am 23. Juni wahrscheinlicher. In unserem Basisszenario gehen wir somit von einem Verbleib Großbritanniens in der EU aus. Wir sind zuversichtlich, dass eine erfolgreiche Vermarktung der britischen Verhandlungserfolge in Brüssel, auch mithilfe einer intensiven Aufklärungskampagne über die Vor- und Nachteile einer EUMitgliedschaft, vor allem aber die mit einem möglichen Brexit verbundenen Risiken, die Mehrheit der Wähler letztlich doch für einen Verbleib in der EU stimmen lässt. Ein Austritt aus der EU würde nicht nur für die EU, sondern vielmehr noch für das Vereinigte Königreich einen Aufbruch zu neuen politischen Ufern bedeuten. Die damit verbundene Unsicherheit verstärkt die Tendenz, für den vermeintlich sicheren Status quo zu stimmen. Umfragen bestätigen die vorherrschende Verunsicherung auf Seiten der britischen Wähler: So halten 56% einen Austritt für sehr riskant. Sie fürchten negative Folgen für die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und den britischen Einfluss in der Welt. Vor diesem Hintergrund erwarten wir, dass die Briten am 23. Juni mehrheitlich für den Verbleib in der EU votieren werden. Entschieden sie sich jedoch tatsäch- Brexit oder Nicht-Brexit – das ist hier die Frage lich für einen Austritt, dürfte dies nicht nur für Großbritannien selbst, sondern auch für den Rest der Europäischen Union erhebliche wirtschaftliche und politische Konsequenzen nach sich ziehen. Welche Konsequenzen hätte ein Austritt für Großbritannien? Sollten sich die Briten im Juni tatsächlich für den Ausstieg entscheiden, würde der „Loslösungsprozess“ etwa zwei Jahre in Anspruch nehmen. Ein möglicher Austrittstermin wäre wohl der 1. Januar 2019. Die Folgen des Brexits für die britische Wirtschaft wären gravierend und würden nicht erst mit dem eigentlichen Austritt schlagend. Bereits in der zweijährigen Übergangszeit dürfte das Wachstum deutlich gedrosselt werden, da ein „Leave“-Ergebnis große Unsicherheit und Belastungen mit sich brächte. Die Briten müssten neue Handelsverträge mit der EU und über 60 Freihandelsabkommen mit Nicht-EU-Ländern neu aushandeln. Zentral auch die Frage, in welcher Form Großbritannien Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten würde. Immerhin stammen 53% der britischen Importe aus der EU, umgekehrt gehen knapp 48% der Exporte in die Länder der EU. Solang die künftigen Handelsbeziehungen zur EU nicht geklärt sind, dürfte die daraus resultierende Unsicherheit britische Unternehmen dazu bewegen, ihre Investitionen aufzuschieben. Mit der Perspektive eines EU-Austritts würden zudem vermutlich viele ausländische Investoren andere Standorte innerhalb der EU suchen. Neuinvestitionen blieben aus, bestehende Standorte könnten verlagert und Kapital aus Großbritannien abgezogen werden. Verstärkte Kapitalabflüsse dürften wiederum das Britische Pfund, das seit Ende 2015 gegenüber dem Euro bereits deutlich abgewertet hat, zusätzlich belasten. In der Folge wäre mit einem deutlichen Anstieg der Inflation zu rechnen, dem die Bank of England mit Zinserhöhungen begegnen könnte. Dies wiederum würde die Wachstumsabschwächung weiter forcieren und ein heikles geldpolitisches Dilemma für die englische Notenbank darstellen. Insbesondere die britische Finanzindustrie, die direkt etwa 7% zur Wirtschaftsleistung des Landes beiträgt, könnte unter einem Brexit leiden. Allein in London arbeiten etwa 360.000 Beschäftigte bei Finanzdienstleistern. Dem Vernehmen nach haben bei Londoner Auslandsbanken bereits die Gedankenspiele begonnen, welche Konsequenzen für die Standortwahl im Falle eines EU-Austritts zu ziehen wären. Möglich, dass andere große Finanzplätze in der EU wie Frankfurt, Paris oder das ebenfalls angelsächsisch geprägte Dublin im Falle eines Brexits von Standortverlagerungen profitierten. 24 Was würde ein Austritt Großbritanniens für die EU selbst bedeuten? Die negativen Folgen eines Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU blieben nicht nur auf Großbritannien beschränkt. Der von uns unterstellte Rückgang der britischen Wirtschaftsleistung dürfte sich aufgrund der starken außenwirtschaftlichen Verflechtungen auch auf andere EU-Mitgliedsstaaten auswirken. Am stärksten betroffen wären die EurolandStaaten Irland, Niederlande und Belgien. Deutschland und Frankreich lägen dabei im Mittelfeld, während andere EWU-Staaten wie Italien und Österreich aufgrund ihrer Exportstruktur weniger stark belastet würden. Dauerhaft signifikant negative Auswirkungen eines Brexits auf den Handel mit anderen Ländern der Eurozone wären vor allem dann zu erwarten, wenn es Großbritannien nicht gelänge, bis zum tatsächlichen EU-Austritt ein Freihandelsabkommen mit der Gemeinschaft zu vereinbaren. Während die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexits für die verbleibenden EU-Staaten vor allem davon abhingen, welche Handelsverträge mit Großbritannien vereinbart werden könnten und sich im besten Fall in engen Grenzen halten ließen, wären die politischen Folgen aus Sicht der Europäischen Union wahrscheinlich immens. Ein etwaiger Brexit fiele in eine Phase steigender Unzufriedenheit mit der Gemeinschaft und dem Aufstieg EU- und eurokritischer Parteien in Kern- und Südeuropa. Die europakritischen Kräfte haben in einigen Ländern bereits eine Zustimmung in der Bevölkerung von über 30%. Sie könnten weiteren Zulauf erhalten, wenn die Wähler den EU-Austritt eines Landes als realistische Option wahrnehmen. Auch gemäßigte Regierungen dürften aus Sorge vor innenpolitischem Gegenwind noch stärker als bisher die nationale Karte spielen. Dabei befindet sich die EU in einem Dilemma: Einerseits dürfte sie ein Interesse haben, durch zielführende Verhandlungen mit Großbritannien die wirtschaftlichen Folgen eines Brexits gering zu halten. Andererseits verlöre der Ausstieg eines Landes aus der EU seine abschreckende Wirkung und würde den EUKritikern weiter Rückenwind verleihen. Welche Auswirkungen hätte ein Brexit für die Finanzmärkte? Der Austritt eines Landes aus der EU wäre ein völliges Novum und die daraus resultierende enorme Unsicherheit würde nicht ohne Folgen bleiben. Wie stark die erste Marktreaktion auf ein „Leave“ im konkreten Fall ausfällt, würde vor allem davon abhängen, wie sich die Umfragen in den Wochen vor dem Referendum entwickeln. Sollte sich schon im Vorfeld herauskristallisieren, dass ein Sieg der EU-Kritiker wahrscheinlich ist, dürfte zumindest ein Teil des „Schocks“ an den Märkten bereits absorbiert sein. Das Britische Brexit oder Nicht-Brexit – das ist hier die Frage Pfund dürfte in einem solchen Szenario zwar nochmals abwerten, eine gravierende Korrektur oder gar ein Crash wären in diesem Fall aber eher nicht zu erwarten. Ähnliches gilt neben dem Pfund auch für die anderen britischen Anlageklassen. Vollkommen anders sähe ein Szenario aus, in dem das Abstimmungsergebnis aus Sicht des Marktes für Entsetzen sorgte. Dies könnte dann passieren, wenn die Umfragen im Vorfeld des Referendums auf ein „Remain“ hindeuteten oder die beiden Lager bis zuletzt gleichauf lägen. In beiden Fällen wäre ein Sieg des „Leave“-Lagers aus Marktsicht eine Überraschung und würde wohl zu sehr dynamischen Marktreaktionen führen. Die stärksten Auswirkungen dürften sich unter diesen Umständen an den Devisenmärkten zeigen. Die britische Landeswährung könnte insbesondere gegenüber dem US-Dollar unter starken Abwertungsdruck geraten. Ebenso wahrscheinlich wäre, dass sich infolge des Brexits die Risikozuschläge für UK-Unternehmensanleihen erhöhen und die Auslandsnachfrage nach britischen Staatsanleihen vorübergehend zurückgeht – nicht unbedingt, weil sich am Status Großbritanniens als sicherer Hafen etwas geändert hätte (wobei ein EU-Austritt auch keine Verbesserung bewirken würde), sondern, weil es aufgrund der von uns prognostizierten Pfund-Abwertung weniger attraktiv wäre, auf Pfund lautende Anleihen zu halten. Auch die Aktienmärkte dürften unter Abgabedruck geraten, wobei britische Firmen mit einem hohen Exportanteil mittelfristig von einem schwächeren Pfund profitieren würden. Mit Blick auf Euroland dürften der „Schock-Effekt“ und die Sorge, wie denn die Wirtschaftsbeziehungen zwischen EU und Großbritannien zukünftig aussehen könnten, die typische Fluchtbewegung in vermeintlich sicherere Häfen wie deutsche Bundesanleihen nach sich ziehen. Während Bund-Renditen sänken, könnten die Risikoprämien der schwächeren Emittenten sowie die jener Staaten, die ein Brexit stärker träfe, ansteigen. Schlussbemerkungen Für die Briten hängt mehr an diesem Referendum als ihre Mitgliedschaft in der EU. Die dargestellten Konsequenzen eines Brexits wären ohne Frage gravierend: Das Wirtschaftswachstum Großbritanniens würde sinken, die Währung stark an Wert verlieren und die Anleiherenditen tendenziell steigen. Ein Austritt aus der EU hätte zudem auch innenpolitische Sprengkraft: So wäre unklar, ob sich Premierminister David Cameron nach einem verlorenen Referendum würde halten können. Aber auch aus europäischer Sicht wären die wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen eines Austritts Großbritanniens nicht zu unterschätzen. Es bleibt zu hoffen, dass die Briten am 23. Juni 2016 ähnlich entscheiden wie am 6. Juni 1975. Damals, vor genau 41 Jahren, stimmten die Briten erstmals über ihre Mitgliedschaft im „Klub Europa“ ab. Dabei hatten 34 sie folgende Frage zu beantworten: „Glauben Sie, dass das Vereinigte Königreich im Gemeinsamen Markt bleiben sollte?“ Mit einer überwältigenden Mehrheit von 67% stimmten die Briten damals für einen Verbleib in der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG). Eines zumindest dürfte sicher sein: Ein solch eindeutiges Ergebnis wird es am 23. Juni 2016 aller Voraussicht nach nicht geben. Rechtliche Hinweise Dieses Dokument wurde von der Walser Privatbank AG ausschließlich zu Informationszwecken erstellt und darf nicht als unabhängige Wertpapieranalyse gelesen werden. 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