Marktkommentar zum Thema Brexit, Stand 25. April 2016

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Brexit oder Nicht-Brexit – das ist hier
die Frage
Stand: 25.04.2016
Am 23. Juni 2016 stimmen die Briten darüber ab, ob
Großbritannien in der Europäischen Union (EU) verbleibt oder daraus austritt. Premierminister David
Cameron, der eigentliche Initiator des Referendums,
will Teil einer reformierten Europäischen Union bleiben. Viele seiner Parteifreunde sind dagegen, auch die
britische Bevölkerung ist tief gespalten.
Der Ausgang des Referendums ist derzeit völlig offen.
Fest steht jedoch: Sowohl für Großbritannien als auch
die Europäische Union wird das Abstimmungsergebnis
am 23. Juni von entscheidender Bedeutung sein.
Nachfolgend haben wir die drängendsten Fragen rund
um das Thema „Brexit“ näher beleuchtet.
Warum wird überhaupt ein Referendum abgehalten?
Die britische Bevölkerung hadert seit Jahren mit der
EU-Mitgliedschaft ihres Landes. Auch David Cameron
war lange Zeit als EU-Skeptiker bekannt, hatte sich
jedoch während seiner ersten Amtszeit zunehmend
EU-freundlich gezeigt. Dies führte 2012 zum Eklat, als
sich das britische Parlament weigerte, dem von ihm
verhandelten EU-Haushalt zuzustimmen. Cameron
zog die Konsequenz und kündigte 2013 an, im Falle
seiner Wiederwahl bis spätestens Ende 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU abzuhalten. Ohne
Frage war dies ein politischer Schachzug, der darauf
abzielte, den EU-Skeptikern in der eigenen Partei und
auch dem Popularitätsanstieg der EU-kritischen UK
Independence Party (UKIP) den Wind aus den Segeln
zu nehmen. Und Camerons Strategie ging auf: Die
Parlamentswahl 2015 hat seine Partei, die Konservativen, entgegen den Erwartungen sogar mit absoluter
Mehrheit gewonnen. Als strahlender Sieger hat Cameron daraufhin das Referendum bestätigt.
Spätestens seit dem letzten EU-Gipfel im Februar
dieses Jahres steht jedoch die Diskussion über einen
möglichen Austritt Großbritanniens wieder ganz oben
auf der politischen Agenda in Europa. Wie schon in
der Vergangenheit konnte Cameron auf dem Gipfeltreffen einmal mehr weitreichende Zugeständnisse
und Sonderregelungen – diesmal für den Fall eines
Verbleibs in der EU – aushandeln. Seit diesem Verhandlungserfolg empfiehlt Cameron, für den Verbleib
in der EU zu stimmen und führt die sogenannte
„Remain“-Kampagne an.
Wie wahrscheinlich ist ein Brexit?
Die aktuelle Berichterstattung sowie die zahlreichen
Meinungsumfragen lassen bislang keine eindeutige
Tendenz hinsichtlich des zu erwartenden Abstimmungsergebnisses erkennen. Befürworter und Gegner
eines Brexits liefern sich im Vorfeld des Referendums
am 23. Juni unverändert ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Aktuellen Umfragen zufolge befinden sich die EUBefürworter mit 45% knapp in der Mehrheit. Auf die
Gegner entfallen gegenwärtig 40% und auf die Unentschlossenen 15% der Stimmen. Ein deutliches Ergebnis des Referendums ist vor diesem Hintergrund nicht
zu erwarten. Der relativ große Anteil an „Unentschiedenen“ dürfte letztlich den Ausschlag geben.
Auch wenn David Cameron noch viel Überzeugungsarbeit für seine Pro-EU-Kampagne leisten muss, erscheint ein Sieg der EU-Befürworter am 23. Juni
wahrscheinlicher. In unserem Basisszenario gehen wir
somit von einem Verbleib Großbritanniens in der EU
aus. Wir sind zuversichtlich, dass eine erfolgreiche
Vermarktung der britischen Verhandlungserfolge in
Brüssel, auch mithilfe einer intensiven Aufklärungskampagne über die Vor- und Nachteile einer EUMitgliedschaft, vor allem aber die mit einem möglichen Brexit verbundenen Risiken, die Mehrheit der
Wähler letztlich doch für einen Verbleib in der EU
stimmen lässt.
Ein Austritt aus der EU würde nicht nur für die EU,
sondern vielmehr noch für das Vereinigte Königreich
einen Aufbruch zu neuen politischen Ufern bedeuten.
Die damit verbundene Unsicherheit verstärkt die Tendenz, für den vermeintlich sicheren Status quo zu
stimmen. Umfragen bestätigen die vorherrschende
Verunsicherung auf Seiten der britischen Wähler: So
halten 56% einen Austritt für sehr riskant. Sie fürchten negative Folgen für die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und den britischen Einfluss in der Welt.
Vor diesem Hintergrund erwarten wir, dass die Briten
am 23. Juni mehrheitlich für den Verbleib in der EU
votieren werden. Entschieden sie sich jedoch tatsäch-
Brexit oder Nicht-Brexit – das ist hier die Frage
lich für einen Austritt, dürfte dies nicht nur für Großbritannien selbst, sondern auch für den Rest der Europäischen Union erhebliche wirtschaftliche und politische Konsequenzen nach sich ziehen.
Welche Konsequenzen hätte ein Austritt für
Großbritannien?
Sollten sich die Briten im Juni tatsächlich für den Ausstieg entscheiden, würde der „Loslösungsprozess“
etwa zwei Jahre in Anspruch nehmen. Ein möglicher
Austrittstermin wäre wohl der 1. Januar 2019. Die
Folgen des Brexits für die britische Wirtschaft wären
gravierend und würden nicht erst mit dem eigentlichen Austritt schlagend. Bereits in der zweijährigen
Übergangszeit dürfte das Wachstum deutlich gedrosselt werden, da ein „Leave“-Ergebnis große Unsicherheit und Belastungen mit sich brächte. Die Briten
müssten neue Handelsverträge mit der EU und über
60 Freihandelsabkommen mit Nicht-EU-Ländern neu
aushandeln. Zentral auch die Frage, in welcher Form
Großbritannien Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten
würde. Immerhin stammen 53% der britischen Importe aus der EU, umgekehrt gehen knapp 48% der
Exporte in die Länder der EU. Solang die künftigen
Handelsbeziehungen zur EU nicht geklärt sind, dürfte
die daraus resultierende Unsicherheit britische Unternehmen dazu bewegen, ihre Investitionen aufzuschieben. Mit der Perspektive eines EU-Austritts würden
zudem vermutlich viele ausländische Investoren andere Standorte innerhalb der EU suchen. Neuinvestitionen blieben aus, bestehende Standorte könnten verlagert und Kapital aus Großbritannien abgezogen
werden.
Verstärkte Kapitalabflüsse dürften wiederum das Britische Pfund, das seit Ende 2015 gegenüber dem Euro
bereits deutlich abgewertet hat, zusätzlich belasten.
In der Folge wäre mit einem deutlichen Anstieg der
Inflation zu rechnen, dem die Bank of England mit
Zinserhöhungen begegnen könnte. Dies wiederum
würde die Wachstumsabschwächung weiter forcieren
und ein heikles geldpolitisches Dilemma für die englische Notenbank darstellen.
Insbesondere die britische Finanzindustrie, die direkt
etwa 7% zur Wirtschaftsleistung des Landes beiträgt,
könnte unter einem Brexit leiden. Allein in London
arbeiten etwa 360.000 Beschäftigte bei Finanzdienstleistern. Dem Vernehmen nach haben bei Londoner
Auslandsbanken bereits die Gedankenspiele begonnen, welche Konsequenzen für die Standortwahl im
Falle eines EU-Austritts zu ziehen wären. Möglich,
dass andere große Finanzplätze in der EU wie Frankfurt, Paris oder das ebenfalls angelsächsisch geprägte
Dublin im Falle eines Brexits von Standortverlagerungen profitierten.
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Was würde ein Austritt Großbritanniens für die
EU selbst bedeuten?
Die negativen Folgen eines Austritts des Vereinigten
Königreichs aus der EU blieben nicht nur auf Großbritannien beschränkt. Der von uns unterstellte Rückgang der britischen Wirtschaftsleistung dürfte sich
aufgrund der starken außenwirtschaftlichen Verflechtungen auch auf andere EU-Mitgliedsstaaten auswirken. Am stärksten betroffen wären die EurolandStaaten Irland, Niederlande und Belgien. Deutschland
und Frankreich lägen dabei im Mittelfeld, während
andere EWU-Staaten wie Italien und Österreich aufgrund ihrer Exportstruktur weniger stark belastet
würden. Dauerhaft signifikant negative Auswirkungen
eines Brexits auf den Handel mit anderen Ländern der
Eurozone wären vor allem dann zu erwarten, wenn es
Großbritannien nicht gelänge, bis zum tatsächlichen
EU-Austritt ein Freihandelsabkommen mit der Gemeinschaft zu vereinbaren.
Während die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexits für die verbleibenden EU-Staaten
vor allem davon abhingen, welche Handelsverträge
mit Großbritannien vereinbart werden könnten und
sich im besten Fall in engen Grenzen halten ließen,
wären die politischen Folgen aus Sicht der Europäischen Union wahrscheinlich immens. Ein etwaiger
Brexit fiele in eine Phase steigender Unzufriedenheit
mit der Gemeinschaft und dem Aufstieg EU- und eurokritischer Parteien in Kern- und Südeuropa. Die
europakritischen Kräfte haben in einigen Ländern
bereits eine Zustimmung in der Bevölkerung von über
30%. Sie könnten weiteren Zulauf erhalten, wenn die
Wähler den EU-Austritt eines Landes als realistische
Option wahrnehmen. Auch gemäßigte Regierungen
dürften aus Sorge vor innenpolitischem Gegenwind
noch stärker als bisher die nationale Karte spielen.
Dabei befindet sich die EU in einem Dilemma: Einerseits dürfte sie ein Interesse haben, durch zielführende Verhandlungen mit Großbritannien die wirtschaftlichen Folgen eines Brexits gering zu halten. Andererseits verlöre der Ausstieg eines Landes aus der EU
seine abschreckende Wirkung und würde den EUKritikern weiter Rückenwind verleihen.
Welche Auswirkungen hätte ein Brexit für die
Finanzmärkte?
Der Austritt eines Landes aus der EU wäre ein völliges
Novum und die daraus resultierende enorme Unsicherheit würde nicht ohne Folgen bleiben. Wie stark
die erste Marktreaktion auf ein „Leave“ im konkreten
Fall ausfällt, würde vor allem davon abhängen, wie
sich die Umfragen in den Wochen vor dem Referendum entwickeln. Sollte sich schon im Vorfeld herauskristallisieren, dass ein Sieg der EU-Kritiker wahrscheinlich ist, dürfte zumindest ein Teil des „Schocks“
an den Märkten bereits absorbiert sein. Das Britische
Brexit oder Nicht-Brexit – das ist hier die Frage
Pfund dürfte in einem solchen Szenario zwar nochmals abwerten, eine gravierende Korrektur oder gar
ein Crash wären in diesem Fall aber eher nicht zu
erwarten. Ähnliches gilt neben dem Pfund auch für die
anderen britischen Anlageklassen.
Vollkommen anders sähe ein Szenario aus, in dem
das Abstimmungsergebnis aus Sicht des Marktes für
Entsetzen sorgte. Dies könnte dann passieren, wenn
die Umfragen im Vorfeld des Referendums auf ein
„Remain“ hindeuteten oder die beiden Lager bis zuletzt gleichauf lägen. In beiden Fällen wäre ein Sieg
des „Leave“-Lagers aus Marktsicht eine Überraschung
und würde wohl zu sehr dynamischen Marktreaktionen führen. Die stärksten Auswirkungen dürften sich
unter diesen Umständen an den Devisenmärkten
zeigen. Die britische Landeswährung könnte insbesondere gegenüber dem US-Dollar unter starken Abwertungsdruck geraten. Ebenso wahrscheinlich wäre,
dass sich infolge des Brexits die Risikozuschläge für
UK-Unternehmensanleihen erhöhen und die Auslandsnachfrage nach britischen Staatsanleihen vorübergehend zurückgeht – nicht unbedingt, weil sich
am Status Großbritanniens als sicherer Hafen etwas
geändert hätte (wobei ein EU-Austritt auch keine
Verbesserung bewirken würde), sondern, weil es aufgrund der von uns prognostizierten Pfund-Abwertung
weniger attraktiv wäre, auf Pfund lautende Anleihen
zu halten. Auch die Aktienmärkte dürften unter Abgabedruck geraten, wobei britische Firmen mit einem
hohen Exportanteil mittelfristig von einem schwächeren Pfund profitieren würden. Mit Blick auf Euroland
dürften der „Schock-Effekt“ und die Sorge, wie denn
die Wirtschaftsbeziehungen zwischen EU und Großbritannien zukünftig aussehen könnten, die typische
Fluchtbewegung in vermeintlich sicherere Häfen wie
deutsche Bundesanleihen nach sich ziehen. Während
Bund-Renditen sänken, könnten die Risikoprämien der
schwächeren Emittenten sowie die jener Staaten, die
ein Brexit stärker träfe, ansteigen.
Schlussbemerkungen
Für die Briten hängt mehr an diesem Referendum als
ihre Mitgliedschaft in der EU. Die dargestellten Konsequenzen eines Brexits wären ohne Frage gravierend:
Das Wirtschaftswachstum Großbritanniens würde
sinken, die Währung stark an Wert verlieren und die
Anleiherenditen tendenziell steigen. Ein Austritt aus
der EU hätte zudem auch innenpolitische Sprengkraft:
So wäre unklar, ob sich Premierminister David Cameron nach einem verlorenen Referendum würde halten
können. Aber auch aus europäischer Sicht wären die
wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen eines
Austritts Großbritanniens nicht zu unterschätzen.
Es bleibt zu hoffen, dass die Briten am 23. Juni 2016
ähnlich entscheiden wie am 6. Juni 1975. Damals, vor
genau 41 Jahren, stimmten die Briten erstmals über
ihre Mitgliedschaft im „Klub Europa“ ab. Dabei hatten
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sie folgende Frage zu beantworten: „Glauben Sie,
dass das Vereinigte Königreich im Gemeinsamen
Markt bleiben sollte?“ Mit einer überwältigenden
Mehrheit von 67% stimmten die Briten damals für
einen Verbleib in der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG). Eines zumindest dürfte sicher sein:
Ein solch eindeutiges Ergebnis wird es am 23. Juni
2016 aller Voraussicht nach nicht geben.
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