A M WO C H E N E N D E WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HF1 MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 25./26. JUNI 2016 72. JAHRGANG / 25. WOCHE / NR. 145 / 3,20 EURO Europa ist schockiert. Großbritannien hat sich für den Ausstieg entschieden. Und nun? Bye-bye, Britain (SZ) Unser aller Zeit auf Erden beginnt mit der Jugend, sie endet mit dem Alter, und zwischen beidem liegt ein sonniger Moment des Glücks, den wir Lebensmittelpunkt nennen. Dieser Punkt ist super, er verspricht innere Ruhe und eine Sekunde der Einkehr im ansonsten ewigen Gerenne. Vor und nach dem Punkt nämlich ist leider die Hölle los. Wer jung ist, wer also nichts hat außer einem Rucksack voller Scham und einem Satz bunter Bettwäsche, der entwickelt erste Fliehkräfte. Es ist eine Flucht nach vorn, ein Drang nach Zugehörigkeit, man will sein und zwar dabei – in der Whatsapp-Gruppe von Nele, beim Knutschen auf der Rüstzeit, unter den Erstgewählten beim Schulsport. Man will hinein ins Leben, rauf auf die Uni, hinfort mit ihr, aber nicht jener und wenn doch, dann nur um, ja warum wohl. Eines Tages dann entdeckt man beim Blick in den Spiegel ein graues Haar und beim Gang zum Briefkasten eine freundliche Mahnung der Schutzgemeinschaft für Robbenbabys. Jahresbeitrag. War man aus Euphorie beigetreten? Aus Weltschmerz? Oder nur, weil die Frau mit dem Formular und dem bunten T-Shirt so nett gelächelt hatte? Wer wüsste es, wen kümmerte es. Man will jetzt eh nur noch weg, die Flucht des Alters ist eine Flucht nicht zu, sondern vor den Dingen. Es beginnt der Kampf gegen unnötigen Hausrat, zu viele E-Mails, gegen die Gebrechlichkeit. Das Leben wird zur Abwehrschlacht, immer öfter wünscht man sich das, was kaum auszuhalten war, als man es noch hatte: seine Ruhe. Flucht ist stets eine Frage der Perspektive, scherzt der Maler, aber das stimmt ja wirklich. In der Liebe kann Flucht Befreiung oder Feigheit bedeuten, einen Ausweg ins Glück oder eine Abkürzung in die Verdammnis, das zeigt sich leider oft viel zu spät, und bis dahin ist der Kopf ein Brummkreisel. Besonders schön verirrte sich in den Schluchten der Fluchten einst Wotan, als er in Wagners Walküre stotterte: „Der Fluch, den ich floh, nicht flieht er nun mich“, und wer da schon aus dem Libretto fliehen mochte, der hat hoffentlich ein paar wenige Zeilen Geduld bewiesen, nämlich bis Wotan wieder zu Klarheit fand. „Auf geb ich mein Werk: nur Eines will ich noch: das Ende – das Ende!“ Nun haben sich die brummkreiselnden Briten kollektiv auf die Flucht begeben. Die Jungen waren eher für den Verbleib in der EU, die Alten eher dagegen und weil sie mehr waren, dürfen nun alle nicht mehr mitspielen. Nur eines wollten die Alten noch, das Ende, das Ende, aber da haben sie die Rechnung ohne die Zeitläufte gemacht. Das Fliehen und Flehen geht ja weiter und was jetzt noch emanzipatorisch klingt, kann morgen schon nerven. Ein Twitterer jedenfalls hat einen Verlierer bereits ausgemacht: Der fluchterfahrene James Bond wird demnach bald seinen härtesten Gegner finden – und zwei Filmstunden lang in der Passkontrolle des Pariser Flughafens hängen. Medien, TV-/Radioprogramm Forum & Leserbriefe München · Bayern Rätsel & Schach Traueranzeigen 46-48 14 45 63 20-22 61025 4 190655 803203 D as europäische Projekt steht an einem Wendepunkt, nachdem eine knappe Mehrheit der britischen Wähler in einer historischen Entscheidung für einen Austritt aus der EU gestimmt hat. Am 1. Januar 1973 war das Vereinigte Königreich der EU beigetreten, der Exit nach mehr als vier Jahrzehnten stürzt das vereinte Europa in die schwerste Krise seiner fast 60-jährigen Geschichte. „Es gibt nichts darum herumzureden, der heutige Tag ist ein Einschnitt für Europa, er ist ein Einschnitt für den europäischen Einigungsprozess“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag in Berlin. Frankreichs Präsident François Hollande sagte, die EU dürfe nun nicht zur Tagesordnung übergehen. Merkel warnte aber auch vor voreiligen Beschlüssen, die Europa weiter spalten könnten. Sie mahnte zu „Ruhe und Besonnenheit“. Davon konnte zunächst aber keine Rede sein. Während britische Europa-Gegner wie Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson oder Ukip-Chef Nigel Farage, aber auch europäische Rechte wie Marine Le Pen und Geert Wilders jubelten, reagierte vor allem die Wirtschaft entsetzt bis panisch. Die Börsen und das Pfund stürzten ab, Ratingagenturen warnten vor einem Ende des Finanzplatzes London, Vertreter deutscher Konzerne fürchten Boris Johnson. „Ich glaube nicht, dass ich der richtige Kapitän bin, der unser Land an einen neuen Bestimmungsort steuert“, sagte Cameron im Beisein seiner Ehefrau vor seinem Amtssitz Downing Street No. 10, den Tränen nahe. Cameron hatte das Referendum eigentlich nur angesetzt, um parteiinterne EU-Kritiker ruhigzustellen. In den letzten Wochen hatte er eindringlich für einen Verbleib Großbritanniens in der EU geworben – mit mäßigem Erfolg. „Der Wille des britischen Volkes ist ein Befehl, der ausgeführt werden muss“, sagte er nun. 51,9 Prozent votierten für den Austritt, nach ersten Analysen waren das vor allem ältere, ländliche und konservative Wähler, während 75 Prozent der 18bis 24-Jährigen für remain stimmten. Die EU-Spitzen machten klar, dass sie von Großbritannien nun schnelle, konkrete Schritte erwarten und wissen wollen, wie der Austritt vonstatten gehen soll. Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, sagte der Süddeut- Angeblich basteln die Außenminister schon an Plänen für eine „flexiblere“ EU schen Zeitung: „David Cameron kann nicht einen ganzen Kontinent in Geiselhaft nehmen und für einen innerparteilichen Kampf der Tories missbrauchen.“ Der britische Premier müsse so schnell wie möglich das Verfahren für den Aus- So hat Großbritannien gewählt Ja zum Brexit Nein zum Brexit Das nationale Ergebnis 51,9 % 17,4 Millionen 48,1 % Schottland 16,1 Millionen Gibraltar Die Einheit Großbritanniens ist bedroht, denn die Schotten wollen Europäer bleiben um ihre Geschäftsbeziehungen. Auch die Einheit Großbritanniens ist bedroht: Im europafreundlichen Schottland wurden sogleich Stimmen laut, erneut über den Austritt des Landesteils aus dem Vereinigten Königreich abzustimmen und sich dann eben ohne England der EU anzuschließen. Ähnliche Stimmen gab es in Nordirland. Der, der mit der Ansetzung des Referendums alles angestiftet hatte, nämlich Premierminister David Cameron, kündigte in London seinen Rücktritt an – allerdings soll ein Nachfolger erst zum Tory-Parteitag im Oktober feststehen. Gute Chancen hat der Wortführer der Europa-Skeptiker, FOTO: MAURITIUS/TONY EVES/ALAMY Erschütterung in Brüssel: Was wird jetzt aus der EU? Seite 2 Verzockt: Der tiefe Fall des David Cameron Seite 3 Alt gegen Jung: So haben die Briten gewählt Seiten 6 – 8 Unerhört: Was Intellektuelle aus Großbritannien jetzt sagen Seite 15 Börse und BMW: Die Wirtschaft in Angst Seiten 25 und 26 72 % Wahlbeteiligung Die regionalen Ergebnisse England 53,4 46,6 Nordirland 44,2 55,8 Schottland 38,0 62,0 Wales 52,5 47,5 London 40,1 59,9 Nordirland Wales London SZ-Grafik; Quelle: BBC tritt einleiten. „Bis Oktober kann er auf keinen Fall warten.“ Schulz sowie EUKommissionschef Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk und der niederländische Regierungschef Mark Rutte stellten klar, dass ihrer Ansicht nach jede Verzögerung die Unsicherheit unnötig verlängern würde. Auf die Frage bei einer Pressekonferenz, ob der Brexit der Anfang vom Ende der EU sei, sagte Juncker nur wortkarg „No“ – und ging ab. Für diesen Montag hat Kanzlerin Merkel ihre Kollegen aus Frankreich und Italien sowie Ratspräsident Tusk nach Berlin eingeladen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Nach Angaben aus Diplomatenkreisen wollen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault bereits an diesem Samstag in Berlin ein gemeinsames Papier präsentieren. Angeblich soll es um Pläne gehen, die EU flexibler zu gestalten. Am Rande des EU-Gipfels am Dienstag und Mittwoch soll es ein „informelles Treffen“ der 27 geben – erstmals ohne Großbritannien. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn forderte eine schnelle und zivilisierte „Scheidung“. Danach sieht es jedoch nicht aus. Cameron will seine Kollegen hinhalten, bis es einen neuen Regierungschef in London gibt. Er sagte: „Die Verhandlung mit der Europäischen Union muss unter einem neuen Premierminister beginnen, und ich halte es für richtig, dass dieser neue Premierminister die Entscheidung trifft.“ Derweil droht der Funke der Teilung überzuspringen. Rechtspopulisten fühlen sich im Aufwind. „Zeit für ein niederländisches Referendum“, verlangte Geert Wilders. „Danke Großbritannien, jetzt sind wir an der Reihe“, verkündete Matteo Salvini, der Vorsitzende von Italiens ausländerfeindlicher Lega Nord. Und die französische Front-National-Chefin Le Pen frohlockte: „Wie ich es seit Jahren fordere, brauchen wir jetzt ein gleiches Referendum in Frankreich.“ Doch im übrigen Europa überwog ein anderes Gefühl: Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa sagte, dass der Ausgang des Referendums „uns alle nur traurig stimmen kann“. Allerdings sei es „offensichtlich“, dass die Ideale der EU „überdacht und verstärkt“ werden müssten. sz Der Absturz Weltweit purzeln die Aktienkurse, das Pfund sackt ab, Börsianer erinnern sich an die Lehman-Krise. Wie schlimm ist die Lage? Frankfurt – Die Finanzmärkte haben in ihrer Geschichte schon viele Krisen erlebt, und fast immer hatten die Katastrophen eine Gemeinsamkeit: Sie kamen überraschend, stürzten die Börsen ins Chaos und lösten hektische Betriebsamkeit bei Regierungen und Notenbanken aus. Das Kursbeben nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 etwa traf die Welt wie ein Schock. Niemand war darauf vorbereitet. Auch das Platzen der Internetblase im Jahr 2000 oder der „Schwarze Montag“ von 1987 kamen völlig überraschend. In dieser Reihe der Finanzcrashs stellt die Volksabstimmung der Briten über den Austritt aus der EU einen Sonderfall dar. Schließlich konnten sich Investoren, Bankenaufseher und Notenbanker seit Monaten auf den Termin einstellen. Das Versprechen der Bank of England, man werde notfalls 250 Milliarden Pfund zur Verfügung stellen, um die Banken liquide zu halten, lag am Freitag längst in der Schublade. DIZdigital: Alle Alle Rechte Rechte vorbehalten vorbehalten –- Süddeutsche Süddeutsche Zeitung Zeitung GmbH, GmbH, München München DIZdigital: Jegliche Veröffentlichung Veröffentlichungund undnicht-private nicht-privateNutzung Nutzungexklusiv exklusivüber überwww.sz-content.de www.sz-content.de Jegliche Dennoch kam es zur großen Panik. Die Börsenkurse gaben so stark nach wie seit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008 nicht mehr. Das britische Pfund verlor im Vergleich zum US-Dollar zehn Prozent und stürzte auf den niedrigsten Stand seit 1985. Der deutsche Börsenindex Dax büßte zum Handelsbeginn ebenfalls zehn Prozent ein. Das war einer der stärksten Einbrüche in seiner Geschichte. Warum diese Panik? Die Anleger kannten die beiden Szenarien: Entweder Großbritannien bleibt Mitglied der EU – oder das Land geht. Das sind eigentlich klare Alternativen. Man kann sein Geld entsprechend anlegen. Doch Börsianer sind Spekulanten. In den letzten Tagen hatten sie viele Aktien gekauft. Sie waren fest überzeugt, dass die Briten für den Verbleib in der EU stimmen würden, und vertrauten dabei auf die Wettquoten der britischen Buchmacher. Die Wette ging schief. Nach dem Brexit-Votum drückten die Händler am Computer ihre Verkaufstasten. Das ist ein wichtiger Grund für die Turbulenzen – aber nicht der entscheidende. Der Brexit könnte die Finanzmärkte auf Jahre hinaus schwächen, weil niemand weiß, wie die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien künftig aussehen werden. Die Börsen arbeiten mit Prognosen zur Wirtschaftsentwicklung. Britisches Pfund in US-Dollar Entwicklung seit Anfang Juni 2016 1,5 1,4 1,3 1,2 1,3232* SZ-Grafik; Quelle: Bloomberg 31.05. *Tagestiefstand 14.06. 24.06. Doch genau diese Vorhersagen sind nun noch schwieriger geworden. Die Finanzmärkte bleiben deshalb vorsichtig. Das merkt man daran, dass die Anleger zehnjährige Bundesanleihen kaufen. Das tun sie immer, wenn sie das Schlimmste befürchten. Deutsche Staatsschulden gelten den Investoren als „sicherer Hafen“. Dabei liegt die Rendite dieser Wertpapiere jetzt bei minus 0,17 Prozent. Wer dem Bundesfinanzminister Geld leiht, legt also noch drauf. Doch in diesen unsicheren Zeiten nimmt man den Verlust in Kauf. Wie ernst die Lage ist, lässt sich auch am Goldpreis ablesen. Auch das Edelmetall ist in Krisenzeiten beliebt. Der Preis stieg mit 1358 Dollar je Feinunze auf den höchsten Stand seit Sommer 2014. Die Turbulenzen an den Börsen dürften in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen. Es ist schwer, sich in dieser Situation für Aktien oder Anleihen zu entscheiden. Die Politik bestimmt jetzt die Kurse an den Börsen. markus zydra Sanders will Clinton wählen US-Demokraten beschwören Einigkeit gegen Donald Trump Washington – Bernie Sanders will bei der US-Präsidentenwahl im November Hillary Clinton wählen. Das sagte der hartnäckige innerparteiliche Konkurrent der voraussichtlichen Kandidatin der Demokraten am Freitag in Interviews der Sender MSNBC und CNN. Sanders hatte sich bisher nicht zu einer Unterstützung der Ex-Außenministerin durchringen können. Der Senator von Vermont hatte Clinton in den Vorwahlen einen langen Kampf geliefert und für seine linken Positionen viel Zustimmung erhalten. Er ist aus dem Rennen noch nicht offiziell ausgestiegen, weil er den inhaltlichen Druck auf die Partei aufrechterhalten will. Die Demokraten bemühen sich nach dem harten Vorwahlkampf aber zunehmend um Geschlossenheit, um bei der Wahl am 8. November gegen Donald Trump zu bestehen, den voraussichtlichen Kandidaten der Republikaner. Ein Sieg Trumps müsse in jedem Fall verhindert werden, betonte Sanders. sz Seiten 5 und 9 Bangen um Boateng Évian-les-Bains – Weltmeister Deutschland bangt vor dem Achtelfinale der Fußball-Europameisterschaft um den Einsatz von Jérôme Boateng. Ob der Innenverteidiger in Lille gegen die Slowakei antreten kann, wird sich womöglich erst kurz vor Anpfiff der Partie am Sonntag (18 Uhr, live im ZDF) entscheiden. Boateng leidet an einer Muskelverhärtung in der Wade, wegen der er beim 1:0 im letzten Gruppenspiel gegen Nordirland ausgewechselt worden war. sz Sport MIT STELLENMARKT Dax ▼ Dow ▼ Euro ▼ Xetra 16.30 h 9686 Punkte N.Y. 16.30 h 17642 Punkte 16.30 h 1,1100 US-$ - 5,56% - 2,06% - 0,0285 DAS WETTER ▲ TAGS 32°/ 10° ▼ NACHTS Verbreitet kräftige Regengüsse und Gewitter. Im Osten, Süden und über den Mittelgebirgen vereinzelt schwere Gewitter mit Gefahr von Hagelschauern und stürmischen Windböen möglich. Temperaturen 16 bis 32 Grad. Seite 14 Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8, 81677 München; Telefon 089/2183-0, Telefax -9777; [email protected] Anzeigen: Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt), 089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte). Abo-Service: Telefon 089/21 83-80 80, www.sz.de/abo A, B, F, GR, I, L, NL, SLO, SK: € 3,90; dkr. 31; £ 3,60; kn 35; SFr. 5,00; czk 115; Ft 1050 Die SZ gibt es als App für Tablet und Smartphone: sz.de/plus
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