Vernunft als Wahrheit - Bayerischer Rundfunk

Manuskript
radioWissen
SENDUNG: Mittwoch, 22.09.2015
9.30 – 9.50 Uhr
AUFNAHME:
STUDIO:
ETHIK, RELIGION
Ab 8. Schuljahr
TITEL:
Vernunft als Wahrheit
Die Philosophie der Aufklärung
AUTOR/IN:
Michael Reitz
REDAKTION:
Bernhard Kastner
REGIE:
Irene Schuck
PERSONEN:
Sprecherin
Sprecher 1
Sprecher 2
Zitator
Musik
Zuspielungen
Werner Schneiders, Philosophieprofessor an der Universität Münster
Besondere Anmerkungen:
ED 21.10.2009
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Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich!
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2
Musik
Zitator
Diese Gärung, die nach allen Seiten hin wirkt, hat alles, was sich ihr darbot, mit
Heftigkeit ergriffen, gleich einem Strom, der seine Dämme durchbricht. Von den
Prinzipien der Wissenschaften an bis zu den Grundlagen der offenbarten Religion,
von den Problemen der Metaphysik bis zu denen des Geschmacks, von der Musik
bis zur Moral ist alles diskutiert, analysiert, aufgerührt worden.
Sprecherin
Der französische Philosoph und Aufklärer Jean-Baptiste d’Alembert
Musik: Haydn
Zitator
Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und
besitzen gewisse angeborene Rechte. Und zwar den Genuss des Lebens und der
Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und Glück und
Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.
Sprecherin
Artikel eins der Verfassung des US-Bundesstaates Virginia, in der zum ersten Mal
die Menschen- und Bürgerrechte garantiert werden. Geschrieben im Jahr 1776.
Musik: Haydn
O-Ton (1) Schneiders
Es sind zweifellos vor allem die Bürger, das aufstrebende Bürgertum, was die
Aufklärung trägt, aber (...) es gehören auch Adlige dazu, vor allem der niedere
Adel gehört dazu. Und man darf, jedenfalls in Deutschland, nicht vergessen, dass
eine Reihe von Theologen auch zu den Aufklärern gehörte.
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3
Sprecherin
Werner Schneiders, Philosophieprofessor an der Universität Münster und einer
der herausragendsten Forscher über die Epoche der Aufklärung.
Musik: Haydn
Sprecher 1
Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts entsteht in Europa, vor allem in
England, Frankreich und Deutschland eine Philosophie, die alsbald weite Teile
des gesellschaftlichen Lebens erfassen und bis heute beeinflussen sollte: die
Aufklärung. Auf sie gehen so unterschiedliche Ereignisse wie die amerikanische
Verfassung, das moderne Schulwesen, die Strafprozessordnung und schließlich
die französische Revolution zurück. Zum ersten Mal seit der Antike wird die
Philosophie wieder praktisch, und zum ersten Mal in ihrer Geschichte ist sie nicht
ausschließlich eine Angelegenheit der Fachphilosophen an Universitäten und
Akademien. Aufklärung bedeutet nämlich zu allererst: Selbstdenken, sich nicht auf
Autoritäten zu verlassen und der eigenen Vernunft die führende Rolle
zuzusprechen.
Zitator
Folglich beruht die Unabhängigkeit des Menschen wie auch seine Freiheit, nach
seinem eigenen Willen zu handeln, auf seiner Vernunft.
Sprecherin
John Locke, englischer Philosoph, Arzt und Politiker in seiner Schrift „Zwei
Abhandlungen über die Regierung“, erschienen 1690.
Sprecher 1
Sucht man nach Voraussetzungen und Ursachen, einem konkreten Datum oder
einer Publikation, die als Beginn der Aufklärung gesehen werden können, so stößt
man auf mehrere Spuren – die oberflächlich betrachtet mit Philosophie reichlich
wenig zu tun haben.
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Sprecher 2
Da ist zunächst die Glorious Revolution in England, die nach fast zwanzigjährigem
Bürgerkrieg 1688 mit der Einführung der parlamentarischen Monarchie endet. Der
alleinherrschende König ist entmachtet.
Sprecher 1
Bereits im Jahr 1685 hebt Frankreichs katholischer Herrscher Ludwig der 14. das
Edikt von Nantes auf, das den französischen Protestanten bis dahin Schutz vor
Verfolgung garantierte. Tausende der sogenannten Hugenotten müssen aus
Frankreich fliehen. Und sinnen fortan auf eine Gesellschaftsordnung, in der sie in
Frieden leben können.
Sprecher 2
Unter dem Schlachtruf „Wissen ist Macht“ sind die Naturwissenschaften auf dem
Vormarsch. Nicht mehr der religiöse Glaube, sondern der wissenschaftlich
geführte Beweis einer Behauptung wird nun zum Hauptkriterium von Wahrheit.
Damit werden die Naturwissenschaften zu einem Model des Denkens unabhängig
von religiösen und politischen Dogmen.
Sprecher 1
1687 – ein akademischer Skandal erschüttert Deutschland: der Hallenser Jurist
und Philosophieprofessor Christian Thomasius veröffentlicht sein Buch „Ausübung
der Vernunftlehre“ auf Deutsch – und nicht auf Lateinisch. Damit wird Philosophie
nach und nach einem breiteren Publikum zugänglich.
Zitator
Eine wahre Logik soll nichts anderes sein als eine Lehre, wie man seine Vernunft
recht brauchen solle. Ich habe in dem ersten Teile meiner Vernunftlehre gezeiget,
wie so gar leichte die Erkenntnis der Wahrheit und die Erfindung neuer
Wahrheiten in allen Disziplinen sei, wenn man nur sein Gemüte von dem
hochschädlichen Vorurteile menschlicher Autorität saubern und sich das Leben
nicht sauer machen lassen wolle.
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Sprecher 1
All diese Ereignisse des siebzehnten Jahrhunderts zusammengenommen lassen
in Europa eine konfliktträchtige Spannung entstehen, die sich im achtzehnten
Jahrhundert entlädt. Denn das kontinentale Europa ist geprägt von Intoleranz,
staatlicher Willkür, religiösen Vorurteilen, konfessionellen Streitigkeiten und vor
allem vom System des Absolutismus: der Fürst ist der alleinige Herrscher. Adel
verpflichtet – zur Ausbeutung
Sprecherin
Der wohl bekannteste Aufklärer, Francois-Marie Arouet, der sich selbst Voltaire
nennt, kommentiert diese drückende Atmosphäre:
Zitator
Man fragt sich heute, bei welchen Menschenfressern diese Probleme aufgeworfen
und praktisch gelöst worden sind. Wir müssen gestehen, dass dies bei uns
geschah, in den gleichen Städten, in denen man sich nur für Opern, Komödien
und Bälle, für die Mode und die Liebe interessiert.
Sprecher 2
Die Philosophie, die sich Jahrhunderte lang mit so wichtigen Fragen beschäftigte,
wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben, fängt an sich einzumischen.
Sich Gehör zu verschaffen in einer Welt, die längst reif ist für die reine Luft des
freien Denkens.
O-Ton (2) Schneiders
Man könnte sogar noch weiter gehen und sagen, die Philosophie wird militant. Sie
versucht also, Vorurteile, Fanatismus, Schwärmerei und so weiter regelrecht zu
zerstören, das ist ihr Programm. Und die Aufklärung war insofern eine gewisse
Abwendung von der Theologie (....) Es gab zwar auch in der Aufklärung den
Versuch, die Theologie vernünftig zu reformieren, das heißt eine vernünftige
Religion, oder wie Kant später sagt, eine Religion innerhalb der Grenzen der
bloßen Vernunft zu definieren, aber ihr eigentliches Interesse ist eine vernünftige
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Daseinsordnung zu finden. Und deshalb hat auch das sogenannte Naturrecht eine
Konjunktur in der Aufklärung, nämlich man versucht die Rechte und Pflichten des
Menschen zu definieren, was bekanntlich zur Erklärung der Menschenrechte in
der Französischen Revolution geführt hat. Also, das ist die gesamte Hinwendung
(...) zur Praxis und was damit zusammenhängt: die Pädagogik, die Medizin wird
verbessert, das Justizwesen, Abschaffung der Folter, der Hexenprozesse (...) das
hängt alles damit (...) zusammen.
Sprecher 1
Die Voraussetzung für diese Ideenlawine ist die Entwicklung dessen, was wir
heute Öffentlichkeit nennen. Denn das Denken und Diskutieren spielt sich von nun
an nicht mehr nur in den Universitäten oder an den Fürstenhöfen ab. In England
entstehen die Debattierclubs. Hier diskutieren Geschäftsleute, Philosophen und
Politiker darüber, wie ein gerechter Staat aussehen sollte.
In rascher Folge werden Zeitungen gegründet, denn ein neues Verfahren
ermöglicht den massenhaften und preiswerten Druck. In Frankreich sind es die
privaten Salons, in denen neue Ideen ausgebrütet werden. Diese offen
auszubreiten, ist völlig unmöglich, denn Kirche und Staat führen ein
unbarmherziges Zensurregiment.
O-Ton (3) Schneiders
Deshalb steht die französische Aufklärung ja von vorneherein in Opposition zu
Kirche und Staat, was in Deutschland nicht der Fall war. Die deutsche Aufklärung
ist modern ausgedrückt reformistisch und die französische Aufklärung ist (...)
durch eine verbal radikale Opposition charakterisiert (...) Also, das war eine ganz
andere Situation, eine, ja Opposition, totale Opposition. Es gab keine andere
Möglichkeit, Staat und Kirche waren in dem Sinne nicht reformierbar.
Sprecher 2
An den deutschen Lehranstalten ist man vorsichtiger, und doch genießen
Forschung und Lehre hier eine relative Freiheit. Trotz der unterschiedlichen
Bedingungen in diesen drei Ländern – liberale Politik in England, straffe Zensur in
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Frankreich, wohlwollende Universitäten in Deutschland – kommt das Denken der
Aufklärung schnell und effektiv unter die Leute.
O-Ton (4) Schneiders
Die Möglichkeit, Schriften billiger zu drucken als bisher war eine der
Voraussetzungen der sogenannten Volksaufklärung (..) die kleinen Schriften, auch
die sogenannten Kalender, mit denen die Bauern aufgeklärt wurden, In Frankreich
wurden zumindest in der ersten Hälfte der Aufklärung Schriften hauptsächlich in
Manuskriptform in Raubdrucken oder mit fingiertem Druckort verbreitet, weil die
staatliche Zensur es gar nicht anders zuließ.
Sprecher 1
Das Denken der Aufklärung ist facettenreich und deckt die unterschiedlichsten
Sphären des menschlichen Zusammenlebens ab. So erscheint es zunächst
befremdlich, dass sowohl die englische Gartenbaukunst als auch der Roman
„Robinson Crusoe“ zur Aufklärung gezählt werden können. Die Fülle von
Veröffentlichungen im achtzehnten Jahrhundert macht es schwer, die Aufklärung
lupenrein und allgemein gültig zu definieren. Professor Werner Schneiders
beschreibt die Schwierigkeiten dieses Versuches:
O-Ton (5) Schneiders
Das können Sie auf zweierlei Weise machen, Sie können einerseits sagen,
wogegen hat sich Aufklärung gerichtet, denn dadurch ist sie auch charakterisiert.
Und dann kommen also als ihre Hauptfeinde, jedenfalls was sie dafür hielt,
Vorurteile, Volksirrtümer, Schwärmerei, Aberglaube in Frage. Und Sie können es
so versuchen, dass Sie sagen, was waren die Orientierungspunkte der
Aufklärung, was waren ihre Ideale. Aufklärung ist ja zunächst definiert als
Aufklärung des Verstandes, das heißt Klärung der Begriffe, Ernüchterung des
Denkens. Dann aber auch, so wie Kant es dann später gemacht hat in seiner
berühmten Definition, Ausgang aus der Unmündigkeit, auf Freiheit bezogen. Das
sind vielleicht die vordergründigen Hauptpunkte, was aber in den Blick fällt, wenn
man die Schriften aufschlägt sind immer so Begriffe wie Tugend und Glück. Also
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Vernunft und Freiheit, bzw. die Verbreitung von Vernunft und Freiheit sollen der
Verbesserung des Menschen dienen, Verbesserung des Verstandes soll der
Verbesserung des Willens dienen, der Mensch soll tugendhaft werden. Und
dadurch, so glaubte man damals, soll er glücklich werden.
Sprecher 2
Doch um den Menschen verbessern zu können, muss man ihn erreichen. Und das
ist fast unmöglich, wenn man für seine Gedanken eingekerkert oder gar zum Tode
verurteilt werden kann. Um die Zensur an der Nase herumzuführen, sind die
maßgeblichen Ideen der Aufklärung oft in eine erzählerische Form verpackt. Es
entsteht hauptsächlich in Frankreich die Gattung des philosophischen Romans,
die es den Zensurbehörden schwer macht, die Autoren zu belangen. Denn immer
wieder können die sich darauf zurückziehen, dass das Erzählte lediglich erfunden
ist und nicht die Meinung des Autors widerspiegelt – ein Trick, der den Denker
neuen Typs entstehen lässt, der gleichzeitig Literat ist. Werner Schneiders
beschreibt den Unterschied zwischen dem neuen Typ des französischen
philosophe und dem, was wir im Allgemeinen unter Philosoph verstehen.
O-Ton (6) Schneiders
Diese sogenannten Philosophen verstehen sich ja hauptsächlich als gents de
lettre, sie sind Literaten, oder sie sind wie man modern sagen könnte, kritische
Intellektuelle. Damals nannten sie sich zum Teil auch Freigeister, esprits forts,
Starkgeister. Also sie sind ja auch, mit ganz wenigen Ausnahmen, an keiner
Universität tätig, sondern sie schreiben. Sie müssen sich aber natürlich auch
ernähren und das kann man nicht nur durch Schreiben, damals jedenfalls nicht,
und dafür brauchten sie Mäzene. Die deutschen Fachphilosophen waren Beamte,
sie wurden von ihren Fürsten besoldet (...) Die französischen philosophes waren
von ihren Mäzenen abhängig. Das ist eine ganz andere Kultur als in Deutschland,
was aber damit zusammenhängt, dass es in Frankreich eine Zentralmonarchie
gibt, mit einer Hauptstadt (..) in der sich alle großen Geister sammeln.
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9
Sprecher 2
Diese Sammlung der großen Geister in Paris führt zu einem Projekt, das wie kein
anderes mit dem Denken der Aufklärung in Verbindung gebracht werden muss:
Die sogenannte Enzyklopädie, ein gewaltiges Lexikon-Werk, an dem zeitweise bis
zu zweihundert Autoren beteiligt sind. Ihre Herausgeber, Denis Diderot und
d’Alembert, wollen das gesamte Wissen ihrer Zeit den Menschen zur Verfügung
stellen. Denn Wissen – so ihre Überzeugung – macht Menschen unabhängig,
immunisiert sie gegen Vorurteile, Aberglaube und Dummheit.
Und sorgt schließlich dafür, dass sie in der Lage sind, einen Staat zu führen.
Denis Diderot in seinem Vorwort zur Enzyklopädie:
Zitator
Der aufgeklärteste Mensch wird darin Ideen finden, die ihm neu sind und
Tatsachen, die er nicht kennt. Möge die allgemeine Bildung so schnell
fortschreiten, dass es nach zwanzig Jahren in tausend Seiten von uns kaum noch
eine Zeile gibt, die nicht etwas überall Bekanntes sagt! Es ist Sache der Herrscher
der Welt, diese glückliche Umwälzung zu beschleunigen. Denn sie können den
Kreis der Aufklärung erweitern oder einschränken. Gelobt sei die Zeit, in der sie
alle begriffen haben, dass ihre Sicherheit darin besteht, über gebildete Menschen
zu gebieten!
Sprecher 1
Die Enzyklopädie saust wie ein Hammerschlag in die französische Gesellschaft.
Denn von nun an kann jeder nachlesen, wie die Definition des Begriffes „Religion“
aussieht, die nicht von einem Theologen geschrieben ist; was „Regierung“
bedeutet, unabhängig davon, was ein Fürst darunter versteht. Durch die
Enzyklopädie wird vor allem eines deutlich: wir haben als Menschen die
Möglichkeit, uns mit Hilfe des bloßen Verstandes in der Welt zu orientieren. Wir
brauchen keine kirchlichen oder staatlichen Autoritäten, die für uns das Denken
übernehmen.
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10
Zitator
Wir werden wohl nie so glücklich sein wie die Dummköpfe. Aber versuchen wir es
wenigstens auf unsere Art.
Sprecherin
Francois-Marie Arouet, genannt Voltaire.
Zitator
Satzungen und Formeln (...) sind die Fußschellen einer immerwährenden
Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten
Graben einen unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht
gewöhnt ist.
Sprecherin
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant.
Zitator
Für was sollte es gut sein, unser Glück in der Meinung anderer zu suchen, wenn
wir es in uns selbst finden können? Überlassen wir anderen die Sorge, die Völker
über ihre Pflichten zu belehren. Beschränken wir uns darauf, die unseren gut zu
erfüllen.
Sprecherin
Jean-Jacques Rousseau, Philosoph und Schriftsteller. Autor der Schrift “Der
Gesellschaftsvertrag“
Sprecher 2
Zwar wurde die Enzyklopädie zeitweise verboten. Doch die politischen Debatten
darüber, ob der aristokratische Staat, die unumschränkte Herrschaft des Adels
tatsächlich so gottgegeben war wie Jahrhunderte lang behauptet, wurden immer
intensiver und nahmen an Schärfe zu. Das wirtschaftlich aufstrebende Bürgertum,
die Klasse der Händler, Kaufleute und Bankiers strebte auch nach politischer
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Macht. Im Denken der Aufklärer fanden sie ihre nötige Munition für den Kampf
gegen Klerus und Aristokratie. Denn Denker wie der Engländer John Locke
sprachen der Obrigkeit sowohl das Recht als auch die Fähigkeit ab, sich um das
Seelenheil ihrer Untertanen zu kümmern
Zitator
Die Freiheit des Menschen in der Gesellschaft besteht darin, unter keiner anderen
gesetzgebenden Gewalt zu stehen als der, die durch Übereinkunft in dem
Gemeinwesen eingesetzt worden ist.
O-Ton (7) Schneiders
Mehrere der Aufklärer waren ja, wenn auch nur für ein paar Tage, in der Bastille
gesessen, und Voltaire hat sogar Prügel beziehen müssen, das gehörte noch zu
den möglichen Strafen damals. Ja es war ein katholisch, dogmatisch,
monarchistisches System. Und das war nur im Ganzen zu attackieren oder man
musste sich einlassen. Andere Möglichkeiten gab es nicht.
Zitator
Ich beabsichtige zu untersuchen, ob es in der bürgerlichen Verfassung
irgendeinen gerechten und sicheren Grundsatz der Verwaltung geben kann, wenn
man die Menschen nimmt, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können.
Man wird mich fragen, ob ich Fürst oder Gesetzgeber sei, um berechtigt zu sein,
über Politik zu schreiben. Ich antworte nein und schreibe gerade deshalb über
Politik. Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft
unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied
als untrennbares Teil des Ganzen auf.
Sprecherin
Jean-Jacques Rousseau in „Der Gesellschaftsvertrag“.
Sprecher 1
Das Denken koppelt sich ab von allen Beschränkungen, es überschreitet Grenzen,
die lange für unüberschreitbar gehalten worden waren. So lösen sich im Jahr 1776
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12
dreizehn Kolonien vom englischen Mutterland und gründen die Vereinigten
Staaten von Amerika mit der ersten demokratischen Verfassung der Moderne.
Und auch in den Wissenschaften und ihrer praktischen Schwester, der Technik,
kommt es im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts zu einem Erdbeben,
das alles durcheinander wirbelt.
Sprecher 2
Entdeckung des Südkontinents Australien – Erfindung des Blitzableiters –
Konstruktion der ersten Dampfmaschine – Der Planet Uranus wird gefunden –
Erster Flug mit einem Fesselballon – Die Stahlverarbeitung wird revolutioniert –
Die elektrischen Impulse in unserem Nervensystem werden entdeckt.
Zitator
Unser achtzehntes Jahrhundert wird sich sicherlich nicht zu schämen haben,
wenn es dereinst sein Inventarium von neu erworbenen Kenntnissen und
angeschafften Sachen an das neunzehnte übergeben wird, auch selbst wenn die
Überreichung morgen geschehen müsste.
Sprecherin
Der deutsche Physiker und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg
Sprecher 1
Im Jahr 1789 entwickelt das Denken der Aufklärung, ihr politisches Postulat, allen
Despotien und Diktaturen den Garaus zu machen, auch eine ganz Europa
erschütternde politische Sprengkraft – die französische Revolution. Ihre
Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gehen auf die Theorien der
Aufklärer zurück. Zum ersten Mal werden in Europa die freie Meinungsäußerung,
Presse- und Religionsfreiheit festgeschrieben – wenn auch nur für kurze Zeit.
Denn schon bald beginnt eine neue Gewaltherrschaft, die in die Diktatur eines
einzigen Mannes mündet: Napoleon.
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Sprecher 2
Aber ist damit das Projekt Aufklärung erledigt? Wohl kaum, denn schon JeanJacques Rousseau hatte darauf hingewiesen, dass Aufklärung und die aus ihr
resultierende Staatsform der Demokratie ein immerwährender Prozess ist.
Zitator
Schließlich will ich noch bemerken, dass keine Regierung in so hohem Grade
inneren Erschütterungen ausgesetzt ist als die demokratische, weil keine andere
so heftig und so unaufhörlich nach Veränderung der Form strebt und keine mehr
Wachsamkeit und Mut zur Aufrechterhaltung ihrer bestehenden Form verlangt.
O-Ton (8) Schneiders
Ich glaube, dass kein vernünftiger Mensch glauben kann, dass man die Aufklärung
des 18ten Jahrhunderts einfach wiederbeleben könnte und hier neu propagieren
könnte. Aber Aufklärung ist ja ein Begriff, der nicht nur historisch ist (...) sondern
ist ja zunächst mal und immer wieder ein universal zu gebrauchender Begriff, ein
programmatischer Begriff, der eine bestimmte Aktion bezeichnet, auch militärische
und sexuelle Aufklärung und so etwas, also Aufklärung von Tatsachen und
Begriffen. Und in diesem Sinne ist ja Aufklärung eine unvollendbare Aufgabe.
Und auch das, was die Aufklärer sich als Feinde vorgenommen haben, hat ja nicht
aufgehört. Die Welt ist ja immer noch voller Aberglauben (..) Und gerade auch der
(...) politische Aberglaube ist ja heutzutage noch ein großes Problem.
Ende
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