Manuskript radioWissen SENDUNG: Mittwoch, 22.09.2015 9.30 – 9.50 Uhr AUFNAHME: STUDIO: ETHIK, RELIGION Ab 8. Schuljahr TITEL: Vernunft als Wahrheit Die Philosophie der Aufklärung AUTOR/IN: Michael Reitz REDAKTION: Bernhard Kastner REGIE: Irene Schuck PERSONEN: Sprecherin Sprecher 1 Sprecher 2 Zitator Musik Zuspielungen Werner Schneiders, Philosophieprofessor an der Universität Münster Besondere Anmerkungen: ED 21.10.2009 ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 Musik Zitator Diese Gärung, die nach allen Seiten hin wirkt, hat alles, was sich ihr darbot, mit Heftigkeit ergriffen, gleich einem Strom, der seine Dämme durchbricht. Von den Prinzipien der Wissenschaften an bis zu den Grundlagen der offenbarten Religion, von den Problemen der Metaphysik bis zu denen des Geschmacks, von der Musik bis zur Moral ist alles diskutiert, analysiert, aufgerührt worden. Sprecherin Der französische Philosoph und Aufklärer Jean-Baptiste d’Alembert Musik: Haydn Zitator Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte. Und zwar den Genuss des Lebens und der Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen. Sprecherin Artikel eins der Verfassung des US-Bundesstaates Virginia, in der zum ersten Mal die Menschen- und Bürgerrechte garantiert werden. Geschrieben im Jahr 1776. Musik: Haydn O-Ton (1) Schneiders Es sind zweifellos vor allem die Bürger, das aufstrebende Bürgertum, was die Aufklärung trägt, aber (...) es gehören auch Adlige dazu, vor allem der niedere Adel gehört dazu. Und man darf, jedenfalls in Deutschland, nicht vergessen, dass eine Reihe von Theologen auch zu den Aufklärern gehörte. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 Sprecherin Werner Schneiders, Philosophieprofessor an der Universität Münster und einer der herausragendsten Forscher über die Epoche der Aufklärung. Musik: Haydn Sprecher 1 Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts entsteht in Europa, vor allem in England, Frankreich und Deutschland eine Philosophie, die alsbald weite Teile des gesellschaftlichen Lebens erfassen und bis heute beeinflussen sollte: die Aufklärung. Auf sie gehen so unterschiedliche Ereignisse wie die amerikanische Verfassung, das moderne Schulwesen, die Strafprozessordnung und schließlich die französische Revolution zurück. Zum ersten Mal seit der Antike wird die Philosophie wieder praktisch, und zum ersten Mal in ihrer Geschichte ist sie nicht ausschließlich eine Angelegenheit der Fachphilosophen an Universitäten und Akademien. Aufklärung bedeutet nämlich zu allererst: Selbstdenken, sich nicht auf Autoritäten zu verlassen und der eigenen Vernunft die führende Rolle zuzusprechen. Zitator Folglich beruht die Unabhängigkeit des Menschen wie auch seine Freiheit, nach seinem eigenen Willen zu handeln, auf seiner Vernunft. Sprecherin John Locke, englischer Philosoph, Arzt und Politiker in seiner Schrift „Zwei Abhandlungen über die Regierung“, erschienen 1690. Sprecher 1 Sucht man nach Voraussetzungen und Ursachen, einem konkreten Datum oder einer Publikation, die als Beginn der Aufklärung gesehen werden können, so stößt man auf mehrere Spuren – die oberflächlich betrachtet mit Philosophie reichlich wenig zu tun haben. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 4 Sprecher 2 Da ist zunächst die Glorious Revolution in England, die nach fast zwanzigjährigem Bürgerkrieg 1688 mit der Einführung der parlamentarischen Monarchie endet. Der alleinherrschende König ist entmachtet. Sprecher 1 Bereits im Jahr 1685 hebt Frankreichs katholischer Herrscher Ludwig der 14. das Edikt von Nantes auf, das den französischen Protestanten bis dahin Schutz vor Verfolgung garantierte. Tausende der sogenannten Hugenotten müssen aus Frankreich fliehen. Und sinnen fortan auf eine Gesellschaftsordnung, in der sie in Frieden leben können. Sprecher 2 Unter dem Schlachtruf „Wissen ist Macht“ sind die Naturwissenschaften auf dem Vormarsch. Nicht mehr der religiöse Glaube, sondern der wissenschaftlich geführte Beweis einer Behauptung wird nun zum Hauptkriterium von Wahrheit. Damit werden die Naturwissenschaften zu einem Model des Denkens unabhängig von religiösen und politischen Dogmen. Sprecher 1 1687 – ein akademischer Skandal erschüttert Deutschland: der Hallenser Jurist und Philosophieprofessor Christian Thomasius veröffentlicht sein Buch „Ausübung der Vernunftlehre“ auf Deutsch – und nicht auf Lateinisch. Damit wird Philosophie nach und nach einem breiteren Publikum zugänglich. Zitator Eine wahre Logik soll nichts anderes sein als eine Lehre, wie man seine Vernunft recht brauchen solle. Ich habe in dem ersten Teile meiner Vernunftlehre gezeiget, wie so gar leichte die Erkenntnis der Wahrheit und die Erfindung neuer Wahrheiten in allen Disziplinen sei, wenn man nur sein Gemüte von dem hochschädlichen Vorurteile menschlicher Autorität saubern und sich das Leben nicht sauer machen lassen wolle. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 Sprecher 1 All diese Ereignisse des siebzehnten Jahrhunderts zusammengenommen lassen in Europa eine konfliktträchtige Spannung entstehen, die sich im achtzehnten Jahrhundert entlädt. Denn das kontinentale Europa ist geprägt von Intoleranz, staatlicher Willkür, religiösen Vorurteilen, konfessionellen Streitigkeiten und vor allem vom System des Absolutismus: der Fürst ist der alleinige Herrscher. Adel verpflichtet – zur Ausbeutung Sprecherin Der wohl bekannteste Aufklärer, Francois-Marie Arouet, der sich selbst Voltaire nennt, kommentiert diese drückende Atmosphäre: Zitator Man fragt sich heute, bei welchen Menschenfressern diese Probleme aufgeworfen und praktisch gelöst worden sind. Wir müssen gestehen, dass dies bei uns geschah, in den gleichen Städten, in denen man sich nur für Opern, Komödien und Bälle, für die Mode und die Liebe interessiert. Sprecher 2 Die Philosophie, die sich Jahrhunderte lang mit so wichtigen Fragen beschäftigte, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben, fängt an sich einzumischen. Sich Gehör zu verschaffen in einer Welt, die längst reif ist für die reine Luft des freien Denkens. O-Ton (2) Schneiders Man könnte sogar noch weiter gehen und sagen, die Philosophie wird militant. Sie versucht also, Vorurteile, Fanatismus, Schwärmerei und so weiter regelrecht zu zerstören, das ist ihr Programm. Und die Aufklärung war insofern eine gewisse Abwendung von der Theologie (....) Es gab zwar auch in der Aufklärung den Versuch, die Theologie vernünftig zu reformieren, das heißt eine vernünftige Religion, oder wie Kant später sagt, eine Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zu definieren, aber ihr eigentliches Interesse ist eine vernünftige ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 Daseinsordnung zu finden. Und deshalb hat auch das sogenannte Naturrecht eine Konjunktur in der Aufklärung, nämlich man versucht die Rechte und Pflichten des Menschen zu definieren, was bekanntlich zur Erklärung der Menschenrechte in der Französischen Revolution geführt hat. Also, das ist die gesamte Hinwendung (...) zur Praxis und was damit zusammenhängt: die Pädagogik, die Medizin wird verbessert, das Justizwesen, Abschaffung der Folter, der Hexenprozesse (...) das hängt alles damit (...) zusammen. Sprecher 1 Die Voraussetzung für diese Ideenlawine ist die Entwicklung dessen, was wir heute Öffentlichkeit nennen. Denn das Denken und Diskutieren spielt sich von nun an nicht mehr nur in den Universitäten oder an den Fürstenhöfen ab. In England entstehen die Debattierclubs. Hier diskutieren Geschäftsleute, Philosophen und Politiker darüber, wie ein gerechter Staat aussehen sollte. In rascher Folge werden Zeitungen gegründet, denn ein neues Verfahren ermöglicht den massenhaften und preiswerten Druck. In Frankreich sind es die privaten Salons, in denen neue Ideen ausgebrütet werden. Diese offen auszubreiten, ist völlig unmöglich, denn Kirche und Staat führen ein unbarmherziges Zensurregiment. O-Ton (3) Schneiders Deshalb steht die französische Aufklärung ja von vorneherein in Opposition zu Kirche und Staat, was in Deutschland nicht der Fall war. Die deutsche Aufklärung ist modern ausgedrückt reformistisch und die französische Aufklärung ist (...) durch eine verbal radikale Opposition charakterisiert (...) Also, das war eine ganz andere Situation, eine, ja Opposition, totale Opposition. Es gab keine andere Möglichkeit, Staat und Kirche waren in dem Sinne nicht reformierbar. Sprecher 2 An den deutschen Lehranstalten ist man vorsichtiger, und doch genießen Forschung und Lehre hier eine relative Freiheit. Trotz der unterschiedlichen Bedingungen in diesen drei Ländern – liberale Politik in England, straffe Zensur in ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 7 Frankreich, wohlwollende Universitäten in Deutschland – kommt das Denken der Aufklärung schnell und effektiv unter die Leute. O-Ton (4) Schneiders Die Möglichkeit, Schriften billiger zu drucken als bisher war eine der Voraussetzungen der sogenannten Volksaufklärung (..) die kleinen Schriften, auch die sogenannten Kalender, mit denen die Bauern aufgeklärt wurden, In Frankreich wurden zumindest in der ersten Hälfte der Aufklärung Schriften hauptsächlich in Manuskriptform in Raubdrucken oder mit fingiertem Druckort verbreitet, weil die staatliche Zensur es gar nicht anders zuließ. Sprecher 1 Das Denken der Aufklärung ist facettenreich und deckt die unterschiedlichsten Sphären des menschlichen Zusammenlebens ab. So erscheint es zunächst befremdlich, dass sowohl die englische Gartenbaukunst als auch der Roman „Robinson Crusoe“ zur Aufklärung gezählt werden können. Die Fülle von Veröffentlichungen im achtzehnten Jahrhundert macht es schwer, die Aufklärung lupenrein und allgemein gültig zu definieren. Professor Werner Schneiders beschreibt die Schwierigkeiten dieses Versuches: O-Ton (5) Schneiders Das können Sie auf zweierlei Weise machen, Sie können einerseits sagen, wogegen hat sich Aufklärung gerichtet, denn dadurch ist sie auch charakterisiert. Und dann kommen also als ihre Hauptfeinde, jedenfalls was sie dafür hielt, Vorurteile, Volksirrtümer, Schwärmerei, Aberglaube in Frage. Und Sie können es so versuchen, dass Sie sagen, was waren die Orientierungspunkte der Aufklärung, was waren ihre Ideale. Aufklärung ist ja zunächst definiert als Aufklärung des Verstandes, das heißt Klärung der Begriffe, Ernüchterung des Denkens. Dann aber auch, so wie Kant es dann später gemacht hat in seiner berühmten Definition, Ausgang aus der Unmündigkeit, auf Freiheit bezogen. Das sind vielleicht die vordergründigen Hauptpunkte, was aber in den Blick fällt, wenn man die Schriften aufschlägt sind immer so Begriffe wie Tugend und Glück. Also ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 8 Vernunft und Freiheit, bzw. die Verbreitung von Vernunft und Freiheit sollen der Verbesserung des Menschen dienen, Verbesserung des Verstandes soll der Verbesserung des Willens dienen, der Mensch soll tugendhaft werden. Und dadurch, so glaubte man damals, soll er glücklich werden. Sprecher 2 Doch um den Menschen verbessern zu können, muss man ihn erreichen. Und das ist fast unmöglich, wenn man für seine Gedanken eingekerkert oder gar zum Tode verurteilt werden kann. Um die Zensur an der Nase herumzuführen, sind die maßgeblichen Ideen der Aufklärung oft in eine erzählerische Form verpackt. Es entsteht hauptsächlich in Frankreich die Gattung des philosophischen Romans, die es den Zensurbehörden schwer macht, die Autoren zu belangen. Denn immer wieder können die sich darauf zurückziehen, dass das Erzählte lediglich erfunden ist und nicht die Meinung des Autors widerspiegelt – ein Trick, der den Denker neuen Typs entstehen lässt, der gleichzeitig Literat ist. Werner Schneiders beschreibt den Unterschied zwischen dem neuen Typ des französischen philosophe und dem, was wir im Allgemeinen unter Philosoph verstehen. O-Ton (6) Schneiders Diese sogenannten Philosophen verstehen sich ja hauptsächlich als gents de lettre, sie sind Literaten, oder sie sind wie man modern sagen könnte, kritische Intellektuelle. Damals nannten sie sich zum Teil auch Freigeister, esprits forts, Starkgeister. Also sie sind ja auch, mit ganz wenigen Ausnahmen, an keiner Universität tätig, sondern sie schreiben. Sie müssen sich aber natürlich auch ernähren und das kann man nicht nur durch Schreiben, damals jedenfalls nicht, und dafür brauchten sie Mäzene. Die deutschen Fachphilosophen waren Beamte, sie wurden von ihren Fürsten besoldet (...) Die französischen philosophes waren von ihren Mäzenen abhängig. Das ist eine ganz andere Kultur als in Deutschland, was aber damit zusammenhängt, dass es in Frankreich eine Zentralmonarchie gibt, mit einer Hauptstadt (..) in der sich alle großen Geister sammeln. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Denis Diderot in seinem Vorwort zur Enzyklopädie: Zitator Der aufgeklärteste Mensch wird darin Ideen finden, die ihm neu sind und Tatsachen, die er nicht kennt. Möge die allgemeine Bildung so schnell fortschreiten, dass es nach zwanzig Jahren in tausend Seiten von uns kaum noch eine Zeile gibt, die nicht etwas überall Bekanntes sagt! Es ist Sache der Herrscher der Welt, diese glückliche Umwälzung zu beschleunigen. Denn sie können den Kreis der Aufklärung erweitern oder einschränken. Gelobt sei die Zeit, in der sie alle begriffen haben, dass ihre Sicherheit darin besteht, über gebildete Menschen zu gebieten! Sprecher 1 Die Enzyklopädie saust wie ein Hammerschlag in die französische Gesellschaft. Denn von nun an kann jeder nachlesen, wie die Definition des Begriffes „Religion“ aussieht, die nicht von einem Theologen geschrieben ist; was „Regierung“ bedeutet, unabhängig davon, was ein Fürst darunter versteht. Durch die Enzyklopädie wird vor allem eines deutlich: wir haben als Menschen die Möglichkeit, uns mit Hilfe des bloßen Verstandes in der Welt zu orientieren. Wir brauchen keine kirchlichen oder staatlichen Autoritäten, die für uns das Denken übernehmen. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 10 Zitator Wir werden wohl nie so glücklich sein wie die Dummköpfe. Aber versuchen wir es wenigstens auf unsere Art. Sprecherin Francois-Marie Arouet, genannt Voltaire. Zitator Satzungen und Formeln (...) sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Sprecherin Der deutsche Philosoph Immanuel Kant. Zitator Für was sollte es gut sein, unser Glück in der Meinung anderer zu suchen, wenn wir es in uns selbst finden können? Überlassen wir anderen die Sorge, die Völker über ihre Pflichten zu belehren. Beschränken wir uns darauf, die unseren gut zu erfüllen. Sprecherin Jean-Jacques Rousseau, Philosoph und Schriftsteller. Autor der Schrift “Der Gesellschaftsvertrag“ Sprecher 2 Zwar wurde die Enzyklopädie zeitweise verboten. Doch die politischen Debatten darüber, ob der aristokratische Staat, die unumschränkte Herrschaft des Adels tatsächlich so gottgegeben war wie Jahrhunderte lang behauptet, wurden immer intensiver und nahmen an Schärfe zu. Das wirtschaftlich aufstrebende Bürgertum, die Klasse der Händler, Kaufleute und Bankiers strebte auch nach politischer ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 11 Macht. Im Denken der Aufklärer fanden sie ihre nötige Munition für den Kampf gegen Klerus und Aristokratie. Denn Denker wie der Engländer John Locke sprachen der Obrigkeit sowohl das Recht als auch die Fähigkeit ab, sich um das Seelenheil ihrer Untertanen zu kümmern Zitator Die Freiheit des Menschen in der Gesellschaft besteht darin, unter keiner anderen gesetzgebenden Gewalt zu stehen als der, die durch Übereinkunft in dem Gemeinwesen eingesetzt worden ist. O-Ton (7) Schneiders Mehrere der Aufklärer waren ja, wenn auch nur für ein paar Tage, in der Bastille gesessen, und Voltaire hat sogar Prügel beziehen müssen, das gehörte noch zu den möglichen Strafen damals. Ja es war ein katholisch, dogmatisch, monarchistisches System. Und das war nur im Ganzen zu attackieren oder man musste sich einlassen. Andere Möglichkeiten gab es nicht. Zitator Ich beabsichtige zu untersuchen, ob es in der bürgerlichen Verfassung irgendeinen gerechten und sicheren Grundsatz der Verwaltung geben kann, wenn man die Menschen nimmt, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können. Man wird mich fragen, ob ich Fürst oder Gesetzgeber sei, um berechtigt zu sein, über Politik zu schreiben. Ich antworte nein und schreibe gerade deshalb über Politik. Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbares Teil des Ganzen auf. Sprecherin Jean-Jacques Rousseau in „Der Gesellschaftsvertrag“. Sprecher 1 Das Denken koppelt sich ab von allen Beschränkungen, es überschreitet Grenzen, die lange für unüberschreitbar gehalten worden waren. So lösen sich im Jahr 1776 ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Zitator Unser achtzehntes Jahrhundert wird sich sicherlich nicht zu schämen haben, wenn es dereinst sein Inventarium von neu erworbenen Kenntnissen und angeschafften Sachen an das neunzehnte übergeben wird, auch selbst wenn die Überreichung morgen geschehen müsste. Sprecherin Der deutsche Physiker und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg Sprecher 1 Im Jahr 1789 entwickelt das Denken der Aufklärung, ihr politisches Postulat, allen Despotien und Diktaturen den Garaus zu machen, auch eine ganz Europa erschütternde politische Sprengkraft – die französische Revolution. Ihre Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gehen auf die Theorien der Aufklärer zurück. Zum ersten Mal werden in Europa die freie Meinungsäußerung, Presse- und Religionsfreiheit festgeschrieben – wenn auch nur für kurze Zeit. Denn schon bald beginnt eine neue Gewaltherrschaft, die in die Diktatur eines einzigen Mannes mündet: Napoleon. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 13 Sprecher 2 Aber ist damit das Projekt Aufklärung erledigt? Wohl kaum, denn schon JeanJacques Rousseau hatte darauf hingewiesen, dass Aufklärung und die aus ihr resultierende Staatsform der Demokratie ein immerwährender Prozess ist. Zitator Schließlich will ich noch bemerken, dass keine Regierung in so hohem Grade inneren Erschütterungen ausgesetzt ist als die demokratische, weil keine andere so heftig und so unaufhörlich nach Veränderung der Form strebt und keine mehr Wachsamkeit und Mut zur Aufrechterhaltung ihrer bestehenden Form verlangt. O-Ton (8) Schneiders Ich glaube, dass kein vernünftiger Mensch glauben kann, dass man die Aufklärung des 18ten Jahrhunderts einfach wiederbeleben könnte und hier neu propagieren könnte. Aber Aufklärung ist ja ein Begriff, der nicht nur historisch ist (...) sondern ist ja zunächst mal und immer wieder ein universal zu gebrauchender Begriff, ein programmatischer Begriff, der eine bestimmte Aktion bezeichnet, auch militärische und sexuelle Aufklärung und so etwas, also Aufklärung von Tatsachen und Begriffen. Und in diesem Sinne ist ja Aufklärung eine unvollendbare Aufgabe. Und auch das, was die Aufklärer sich als Feinde vorgenommen haben, hat ja nicht aufgehört. Die Welt ist ja immer noch voller Aberglauben (..) Und gerade auch der (...) politische Aberglaube ist ja heutzutage noch ein großes Problem. Ende ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de
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