Überleben in Venedig - Bayerischer Rundfunk

Manuskript
Nahaufnahme
Titel:
Überleben in Venedig
Untertitel:
Das Staudammprojekt MOSE und die Mafia
Autor:
Moritz Holfelder
Redaktion:
Bayern 2 Programmredaktion
Sendedatum:
Freitag, 25. September 2015
Sendung:
15:30 Uhr
Seite 1
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Auf dem Weg nach Venedig mache ich kurz Halt in Bozen. Ein Zwischenstopp. Die
Provinzhauptstadt liegt nicht nur auf der Hälfte der Strecke, hier lebt auch der 1967 in
Südtirol geborene Regisseur Andreas Pichler, der zuletzt mit dem Dokumentarfilm "Das
Venedig Prinzip" in den Kinos war. Wir haben uns in einem Café auf dem Waltherplatz
verabredet, wo gerade ein Tag gegen Diskriminierung stattfindet. Eine große Bühne ist
aufgebaut, das Trommeln der Sinti-Gruppe Nevo Drom vermischt sich mit dem Läuten
der Dompfarrkirche. Es dauert eine Weile, bis ich Andreas Pichler in dem Lärm gefunden habe – wir machen uns dann wegen des Trubels auf den Weg in Pichlers nahes
Büro in der Bahnhofsallee. "Das Venedig Prinzip" lief 2014 erfolgreich in deutschen,
österreichischen und kanadischen Kinos, der Dokumentarfilm ist auf über 30 Internationalen Festivals zu sehen gewesen und gewann zahlreiche Preise. Auf der inzwischen
erhältlichen DVD, die ich als Erkennungszeichen dabei habe, steht in Großbuchstaben
der Satz: "Wenn in Venedig noch ein Herz schlägt, dann ist es das der übriggebliebenen Venezianer." Zu sehen ist auf dem Cover die Fotomontage eines riesigen weißen
Kreuzfahrtschiffes, das die rund 40 Meter hohe Kuppel einer Palladio-Kirche deutlich
überragt.
O-Ton Pichler: "Mich hat wirklich mal die Frage interessiert, was passiert mit einem Ort,
der so massiv dem Tourismus ausgesetzt ist. Die Wahl fiel dann auf Venedig, zum einen, weil es relativ nahe an Bozen liegt, zum anderen, weil ich dort ein paar Leute
kenne und dadurch immer wieder Veränderungen mitbekam. Ich habe am Ende sicher
so 30 bis 40 Leute gehabt, und aus denen sind dann diese 5, 6 Protagonisten des Films
geworden."
Eine Demonstration durch die Straßen Venedigs. "Wir wollen zeigen, dass die Bürger
noch da sind", ruft ein Mann durch ein Megafon. "Und diese Bürger fordern, dass sinnvolle Bauten für sie errichtet werden. Wir brauchen keine Großprojekte."
Der Makler Pietro Codato lässt in Andreas Pichlers Film keinen Zweifel am Versagen
der Verantwortlichen aus Politik und venezianischer Verwaltung. Das habe zum Verfall
von Venedig geführt, sagt er, keiner sei bereit gewesen, die wirtschaftliche Entwicklung
der Stadt verantwortungsvoll zu lenken.
Alle, wirklich alle, die seit den siebziger Jahren in Venedig regierten, seien schuld an
dieser Entwicklung.
Und dann findet Pietro Codato zu sehr drastischen Worten: Man könne das nur als einen biblischen Exodus bezeichnen, 170.000 Bürger seien seit Mitte der siebziger Jahre
weggezogen. Die Stadt werde völlig entvölkert. Die richtige Bezeichnung dafür sei Deportation. Aber sie behaupten, das wäre der Markt.
Die Kamera sucht nach Spuren der alten Schönheit, während sich der in die Jahre gekommene Gondoliere Giorgio in seine Stammkneipe verkriecht und sich fragt, wo die
bis zu 250.000 Touristen, die sich im Sommer täglich durch Venedigs Straßen wälzen,
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wohl zum Pinkeln hingehen. Die Reiseführerin Frederica erklärt den Besuchern, dass
ein Campo, ein Platz, früher als Treffpunkt der Leute, die hier wohnten, diente. Diese
Zeiten seien aber tagsüber längst vorbei, zumindest nahe der Touristen-Hauptrouten
vom Bahnhof und vom Kreuzfahrtschiff-Hafen zu den Sehenswürdigkeiten. Dort quetschen sich diejenigen, die unbedingt ihr Erinnerungsfoto vor der Rialto- oder der Seufzerbrücke machen wollen, Rücken an Rücken durch die engen Gassen. Nicht wenige
der letzten rund 30.000 Bewohner Venedigs setzen erst nachts einen Fuß in die Innenstadt, beschreibt Filmemacher Andreas Pichler die Situation.
O-Ton: "Natürlich, es ist ja ein bisschen diese Ambivalenz. Man hat diese Stadt, die
wunderbar ist, die besonders nachts leer ist, das ist alles sehr romantisch, aber wenn
man sich dann fragt, warum ist das alles leer, dann ist es auch ein bisschen spooky.
Man kann auf alle Fälle dort noch gut leben, es ist halt eine Frage des Geldes."
"Hast du das Gefühl, dass die Leute, die dort noch Leben, gerne dort Leben. Oder was
war so das Gefühl, das Venedig-Gefühl, das du bei den meisten angetroffen hast?"
"Bei den Venezianern ist ihr Verhältnis zur Stadt sehr unterschiedlich. Die Jüngeren, die
dort leben, sind wirklich überzeugt davon. Bei ihnen ist es eine bewusste Entscheidung,
auch wenn es für viele extrem schwierig ist, weil es dort außer beim Tourismus kaum
Arbeitsplätze gibt. Federica, eine meiner Protagonistinnen, hat jetzt entsprechend einen
Job. In diesem Sinne gibt es auch noch eine Zivilgesellschaft in Venedig, auch wenn
die immer schwächer wird. Bei den älteren Menschen ist es so ein HängengebliebenSein auf der einen Seite, und auf der anderen Seite eine Liebe oder auch Hassliebe zur
eigenen Stadt, das ist relativ unterschiedlich."
Man steht auf dem Markusplatz, lauscht den verwehten Klängen des Orchesters im
traditionsreichen Café Florian, blickt sich um – und sieht Tauben. Und natürlich die
vielen Touristen. Es ist bisweilen ein fast schon choreographiert wirkender Kampf, den
sie miteinander aufführen. Phalanx-artig stoßen Touristengruppen vor und flattern
Taubenschwärme auf, auch wenn es seit dem offiziellen Fütterungsverbot nicht mehr
so viele sind wie noch vor 2008. Die Touristen bevölkern die Lagunenstadt aber nach
wie vor in einer beunruhigend hohen Zahl: Über 30 Millionen sollen es sein pro Jahr,
vermutlich mehr. Und alle überqueren sie den Markusplatz, wo inzwischen ein
Gedränge herrscht wie beim Schlussverkauf in einem Billig-Kaufhaus. Da ist es
geradezu verwunderlich, dass an der nordwestlichen Ecke des Platzes, im ehemaligen
Showroom des Schreibmaschinen-Herstellers Olivetti, fast schon meditative Ruhe
herrscht. Nur leise klingt die Musik noch herein, es ist angenehm kühl und die Venedigin-one-Day-Touristen marschieren an diesem Ort vorbei, als sei er wie ein
Dornröschenschloss hinter einer dichten Hecke längst in Vergessenheit geraten. Auch
solche Räume gibt es noch in dieser Stadt, die man in halbwegs ruhiger Atmosphäre
eigentlich nur noch in den Wintermonaten besuchen kann, so wie das Patricia
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Highsmith in ihrem melancholischen Krimi "Venedig kann sehr kalt sein" wunderbar
beschrieben hat.
Der an exponierter Stelle eröffnete Olivetti-Laden ist inzwischen ein kleines Museum zu
Ehren des Architekten Carlo Scarpa, eines Klassikers der Moderne, der 1958
beauftragt wurde, das Schreibmaschinen-Geschäft einzurichten. Der Blick schweift fast
schon aufgeregt von einem Detail zum anderen, von der aus Stahlbändern
geflochtenen Eingangstür über den außergewöhnlichen Terrazzo-Fußboden und ein
dort eingelassenes Wasserbecken aus schwarzem Marmor bis hin zur der
faszinierenden Treppe in den ersten Stock hinauf, die als begehbare Skulptur konzipiert
ist. Carlo Scarpa hat die unterschiedlichen Materialien und Formen als eine
architektonische Symphonie komponiert, so meisterhaft wie elegant.
Dem Baumeister begegnet man in der Lagunenstadt immer wieder, so in der
Fondazione Querini Stampalia mit dem von Scarpa wunderbar gestalteten Garten, oder
auch auf dem Gelände der Biennale in den Gardini, wo Scarpa das Eingangshäuschen
und den schicken Pavillon von Venezuela entworfen hat. Nur ein paar Gehminuten von
Scarpas Olivetti-Laden entfernt, in der Nähe des 1996 abgebrannten und danach
wieder aufgebauten Teatro La Fenice, bin ich mit der Journalistin und Autorin Petra
Reski in einem Restaurant verabredet. Reski wurde im Ruhrpott geboren und lebt seit
1991 in Venedig.
O-Ton Petra Reski: "Also, ein Spaß ist es überwiegend nicht, wenn man in einer Stadt
lebt, die von 33 Millionen Menschen pro Jahr tot geliebt und tot getrampelt wird, und
dagegen auch keiner was unternimmt. Man macht sich nur extrem unbeliebt, wenn man
sich darüber beschwert. Wenn man in Venedig lebt, dann wird das immer als so ein
großes Privileg angesehen, das sich darüber jede Klage verbietet. Die
Lebensumstände der Venezianer haben sich inzwischen wahnsinnig verschlechtert. Es
gibt keine Einkaufsmöglichkeiten. Das betrifft oft die banalsten Dinge. Wenn ich etwa
einen Knopf kaufen will, da muss ich bis ans andere Ende der Stadt laufen. Man muss
sich durch diese vollen Gassen durchquälen. 99 % der Touristen sind Tagesbesucher,
die sich auch gar nicht groß für Venedig interessieren, sondern eigentlich nur das Selfie
am Markusplatz machen wollen. Das ist sehr traurig, aber scheinbar will die
venezianische Politik das so. Die einzigen, die da stören, sind die Venezianer – und da
zähle ich mich inzwischen auch dazu. Außerdem werden hier neuerdings sehr viele
Ferienwohnungen schwarz vermietet, man wundert sich dann immer, wenn jeden Tag
plötzlich vollkommen unbekannte Menschen aus dem eigenen Haus herausfallen. In
München und Berlin ist das ja verboten, und hier wird eben nichts dagegen gemacht.
Also vermieten viele schwarz. Also - ich kann jetzt nicht unbedingt dieses romantische
Venedig-Bild vermitteln."
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Petra Reski schreibt für einige deutsche Magazine und Zeitungen über Italien und vor
allem über die Mafia. Sie wurde 2008 in Deutschland als Reporterin des Jahres
ausgezeichnet, nachdem sie kurz zuvor mit ihrem Anti-Mafia-Buch "Von Paten,
Pizzerien und falschen Priestern" große Aufmerksamkeit erregt hatte, nicht nur bei den
Rezensenten und bei den Lesern, sondern auch bei dem italienischen Gastronom
Spartaco Pitanti aus Erfurt. Der erwirkte beim Landgericht München eine einstweilige
Verfügung gegen die in dem Buch erhobene Behauptung, dass er Geldwäsche
betreibe. Daraufhin wurden die betreffenden Stellen geschwärzt. Zu Unrecht, meinten
damals viele, denen spätestens seit dem Massaker in der Duisburger Pizzeria Da
Bruno im August 2007 klar war, dass die kalabrische Ndrangheta längst auch in
Deutschland aktiv ist. Tatsächlich ist Spartaco Pitanti auch im Ruhrgebiet eine
schillernde Figur gewesen und hatte dort eben das Duisburger Da Bruno besessen. Im
Dezember 2008 sprach Petra Reski in einem Spiegel-Interview darüber, dass die Mafia
nicht nur in deutschen Großstädten eine Rolle spiele, sondern inzwischen auch an der
Ostseeküste Geldwäsche betreibe, in Restaurants und durch Immobiliengeschäfte. Das
sei verlockend – wegen der liberaleren Gesetze in Deutschland und der deshalb
eingeschränkten Abhörpraxis. Im Berliner Tagesspiegel listete Reski, ebenfalls im
Dezember 2008, die "acht größten Irrtümer der Deutschen" über die Mafia auf. Sie
dekonstruierte das gern gepflegte und hierzulande beruhigende Klischee, die Mafia
existiere nur in rückständigen, süditalienischen Dörfern.
O-Ton Petra Reski: "Da muss man nicht nach Palermo fahren, um das zu sehen. Im
Gegenteil, das ist hier in Venedig genauso. Im Mai 2015 wurde am Lido ein sogenannter kalabrischer Erfolgsunternehmer verhaftet, und auch gegen seinen Sohn wird ermittelt wegen Mafia-Zugehörigkeit. Man erinnere sich nur an den Skandal mit der
Hochwasserschleuse, der hier schon vollkommen in Vergessenheit geraten ist. Da kann
man nicht sagen, Venedig wäre nicht von der Mafia betroffen. In den Großprojekten ist
die überall mit drin."
Wir treffen uns am nächsten Tag auf dem Lido, der länglichen Insel zwischen der historischen Altstadt und dem offenen Meer. Der Lido mit seinem langen Sandstrand ist für
viele korrupte Unternehmer und Politiker interessant, weil es der einzige Ort Venedigs
ist, wo noch gebaut werden kann. Petra Reski schrieb 1989 zum ersten Mal über die
Mafia und hat seitdem einige Sachbücher zum organisierten Verbrechen in Italien und
Deutschland veröffentlicht. Im Herbst 2014 erschien dann ihr erster Roman – über eine
fiktive Staatsanwältin namens Serena Vitale. Die ermittelt in Palermo gegen das organisierte Verbrechen – und erinnert natürlich an die beiden legendären Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und Paolo Borselino, die 1992 von der Mafia samt ihren Autos
und Begleitpersonen in die Luft gesprengt wurden. Klar, denkt man sich – Palermo, die
Mafia-Stadt schlechthin. Dann, nach den Anschlägen von 1992 und den Reaktionen
des Staates, wurde Palermo zur Anti-Mafia-Stadt überhaupt, in der der kunstsinnige
Leoluca Orlando Bürgermeister war und die Gelegenheit ergreifen konnte, zu einer
Symbolfigur des Kampfes gegen die Mafia zu werden. Auf diese (so oder so) Mafia-foSeite 5
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kussierte Stadt wollte Petra Reski ihre fiktive Ermittlerin aber nicht beschränken müssen, und so gestattet sie Serena Vitale immer wieder Ausflüge in die Welt jenseits von
Palermo, Dienstreisen, die eben zeigen, dass die Mafia inzwischen auch den Norden
erobert hat – und zwar nicht nur den Italiens. In ihrem zweiten Fall kommt Serena Vitale
bis nach Deutschland, im ersten kommt sie immerhin schon bis Venedig.
O-Ton Petra Reski: "Anflug auf Venedig durch Dunst…"
Petra Reski steht in den Arkaden neben dem Palazzo del Cinema, wo auf dem Lido
einmal im Jahr die Filmfestspiele stattfinden. Wir haben uns einen Kaffee geholt und
Petra Reski liest das Venedig-Kapitel aus ihrem ersten Roman vor. Dann informieren
wir uns in der lokalen Tageszeitung La Nuova Venezia über die jüngsten Zwischenfälle
rund um das von ihr bereits erwähnte, gewaltige Schleusen- und Staudammprojekt
MOSE. Cassone Rotto. Buffera sul MOSE ist auf einem Ständer mit den Schlagzeilen
zu lesen, also sinngemäß: Unterwasser-Fundamentkasten gebrochen. Große Aufregung rund um MOSE. Rund 12 Millionen Euro Schaden sind entstanden, die Bauarbeiten wurden gestoppt. Petra Reski spricht von vorhersehbaren Mängeln. Wer billige Angebote mache und damit den Zuschlag bekomme, baue dann eben auch billig, sprich:
schlecht! Da wird zum Beispiel in den Beton zu viel Sand und zu wenig Zement gemischt – und dann fliegt einem alles um die Ohren. Egal. Nun kassieren die Bauunternehmer eben noch einmal für die Nachbesserungen.
O-Ton Petra Reski: "Ein Mafiaboss bzw. jemand, der als Strohmann für die Mafia arbeitet, der macht sich dadurch beliebt, dass er die besten Preise offeriert, die DumpingPreise, die natürlich nur mit illegalen Mitteln möglich sind. Und meist kriegt er dann den
Zuschlag bei einer Ausschreibung, weil er vorher die Politiker entsprechend geschmiert
hat.
"Und was verdient er dann daran?"
"Wenn er den Auftrag bekommt, kann er Geld waschen; außerdem hat er bei einem
großen Bauprojekt regional plötzlich großen Einfluss, er hat eine gewisse Machtposition. Außerdem verfügt er über die Arbeitsplätze bei den Bauarbeiten. Das alles wird
von ihm kontrolliert."
"Sie haben vorhin das MOSE-Projekt, den riesigen Staudamm angesprochen. Das ist
auch ein Mafia-Projekt?"
"Der MOSE-Staudamm in der Lagune ist zuerst einmal ein riesiges Schmiergeld-Projekt. Das sollte mal um die fünf Milliarden Euro kosten, inzwischen sind es acht. Ungefähr eine Milliarde ist in Schmiergelder geflossen. Von dieser Geschichte ist die ganze
politische Klasse in Italien betroffen, von rechts bis links, also alle klassischen Parteien
Italiens, abgesehen nur von der Fünf-Sterne-Bewegung. Alle haben davon profitiert –
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Minister, Staatssekretäre und und und. Der venezianische Bürgermeister musste dann
zurücktreten, er wurde verhaftet, aber er saß nie im Gefängnis, sondern durfte in seiner
Villa am Canal Grande bleiben. Und der unterrichtet inzwischen schon wieder Verwaltungsrecht an der venezianischen Universität. Wer besser als er? Das muss man dann
auch sagen: Der kann's."
Petra Reski verdreht die Augen, die ganze Geschichte ist ein Fass ohne Boden. Dabei
soll das Staudammprojekt MOSE den drohenden Untergang Venedigs verhindern. Nun
stellt sich die berechtigte Frage, ob das trotz der Investitionen von bisher knapp acht
Milliarden Euro je funktionieren wird. Wir beschließen, uns die Baustelle näher anzuschauen und mit Alberto, einem alten venezianischen Fischer, rauszufahren und uns
von ihm erklären zu lassen, inwieweit MOSE das ganze Ökosystem der Lagune verändert. Alberto ist ein schwerer Mann, er wiegt um die 150 Kilo – und das Boot schwankt
heftig, als er es betritt.
O-Ton Alberto, italienisch
Alberto legt sofort los: Die Lagune sei eine Lagune, man dürfe sie nicht schließen. Sie
sei gewissermaßen das Bidet Venedigs. Alle Abwässer würden direkt in sie fließen, es
gebe keine Kanalisation in einer Stadt, die ins Wasser gebaut worden sei. Hochwasser
und die Flut seien die Spülung, die es brauche, um alles immer wieder zu säubern. Es
geht um Algenbildung und den Fakt, dass – wenn man die Lagune jetzt zeitweise durch
die Hochwasserschleuse MOSE dicht mache – der Austausch mit dem offenen Meer
nachhaltig gestört würde.
Wir nähern uns mit dem Boot den MOSE-Dämmen rund um den Lido. Von weitem erinnert das an die Berliner Mauer. Blanke, abweisende Beton-Wälle. Doch der Hauptteil
dieses Wehrsystems ist unter Wasser: In Beton-Fundamente gebettet liegen auf dem
Meeresgrund riesige Kästen, die Cassoni, sowie die Segment-Klappen aus Stahl, die
bei drohendem Hochwasser mit Pressluft aufgestellt werden und dann die Flut abhalten. Drei offene Stellen gibt es zwischen dem Mittelmeer und der Lagune, die mit dem
beweglichen Schutzdamm bei Bedarf geschlossen wird. 78 der gigantischen pneumatischen Klapp-Elemente sind dafür im Bau, im Herbst 2017 sollen sie betriebsbereit sein.
Die Frage ist, ob sie unter dem Einfluss von Salzwasser und Algenbewuchs überhaupt
je funktionieren werden. Die möglichen Veränderungen des Meeresbodens sind da
noch gar nicht mit berücksichtigt – und die veranschlagten jährlichen Unterhaltskosten
aufgrund solcher Unwägbarkeiten bereits astronomisch. Das Geld dafür ist eigentlich
gar nicht da. Nicht ausmalen möchte sich Alberto, was passierte, wenn bei geschlossenen Toren und Hochwasser aufgrund von Baumängeln oder auch durch Sabotage bzw.
einen terroristischen Akt das Dammsystem brechen würde.
O-Ton Alberto, italienisch
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O-Ton Petra Reski: "Der Witz an der MOSE-Geschichte ist ja, dass dieses Consorzio
Venezia Nuova einfach ein Zusammenschluss privater norditalienischer Bauunternehmer ist, die das Ganze initiiert haben. Nie gab es eine internationale Ausschreibung
oder eine wissenschaftliche Begleitung der Planungen. Lange Jahre war ich naiv davon
ausgegangen, dass es so ist. Da lag ich aber gründlich falsch. Nachdem der Schmiergeld-Skandal aufgedeckt wurde, ist die ganze Leitung einem Hoch-Kommissar übertragen worden, aber unter ihm operieren dieselben Leute wie bisher."
O-Ton Alberto, italienisch
Dann hält Alberto noch einen kleinen Vortrag, dass Venedig nicht geliebt, sondern nur
besucht werde, dass niemand Venedig verteidige, dass die jungen Leute weggingen,
weil sie hier keine Zukunft hätten. Alberto wird von Venedig nicht lassen können. Bei
steigenden Meeresspiegeln wird seine Stadt aber nur überleben, wenn man die Lagune
mit einem festen Wall auf Dauer vom offenen Meer trennt. Das sagen zumindest unabhängige Fachleute, und bis dahin habe man noch rund 50 Jahre Zeit.
Petra Reski hat ihrem zweiten Roman über die Mafia-Ermittlerin Serena Vitale ein Zitat
von David Bowie vorangestellt:
We can beat them
Just for one Day
We can be Heroes
Just for one Day
Wir können gewinnen
wenn auch nur für einen Tag
Wir können Helden sein
wenn auch nur für einen Tag
O-Ton Petra Reski: "Es geht ja im Grunde nur um Zivilcourage. Jeder kann das in verschiedenster Form zeigen. Ob man jetzt in einer Diskussion mal Flüchtlinge verteidigt,
anstatt die Klappe zu halten; oder ob man was gegen die Mafia sagt. Das ist eine Form
von Heldenhaftigkeit, da musst du keine großen Aktionen machen, das meinte ich damit. Jeder kann ein Held sein, und sei es nur für einen Tag oder für 'ne halbe Stunde.
Einfach mal was sagen, was nicht stromlinienförmig ist. Das meine ich einfach nur damit."
– stopp –
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