Tageblatt, Ausgabe: Tageblatt, vom: Montag, 15. Februar 2016

POLITIK
Montag,
15. Februar 2016
Foto: Thomas Roser
Seite 7 / Nr. 38
Persönlich erstellt für: asbl asti
Tageblatt
Die fehlenden Gesichter sind wieder zurück: Straßenszene in Vushtrri in Kosovo
Ohne Perspektive
KOSOVO Sie mussten zurück, doch sehen keine Zukunft in ihrem Land
Von unserem
Korrespondenten
Thomas Roser, Studime
Heimatmüde Kosovo-Albaner
haben mit ihrem Exodus gen
Westeuropa vor Jahresfrist
die sogenannte Balkanroute
geebnet. Die meisten
mussten zurück. Aber die
Zwangsheimkehrer sehen
zuhause keine Perspektive.
Die meisten wollen wieder
weg.
Wiedersehensfreude kommt bei
dem hageren Mann keine auf.
Ratlos schweift der Blick von
Safet Gerguri über die Hühner
vor seinem baufälligen Haus im
Kosovo-Dorf Studime. 13 Monate nach seinem Aufbruch in ein
vermeintlich besseres Leben ist
der 36-jährige Familienvater um
seine beiden verkauften Kühe
und das verscherbelte Auto ärmer – und eine teure AuswanderErfahrung reicher.
3.500 Euro habe seine fünfköpfige Familie die Reise nach
Deutschland gekostet, seufzt der
arbeitslose Landarbeiter: „Hier
muss ich dafür fast fünf Jahre arbeiten.“ Doch er bereue nicht,
dass er gegangen sei, versichert
der Kosovo-Albaner: „Ich bedau-
re nur, dass ich dort nicht bleiben
und arbeiten konnte.“
Die Abstimmung mit den Füßen kam ohne Ankündigung.
Zehntausende junger Kosovo-Albaner machten sich im letztjährigen Winter mit Bussen und Taxis
aus Pristina zu Serbiens grüner
Grenze mit Ungarn auf. Auf
70.000 bis 100.000 Menschen
wurde die Zahl geschätzt, die innerhalb weniger Wochen das
Land verließen – fast fünf Prozent der Bevölkerung.
Ein Exodus
ohne Hoffnung
Nass baumelt im Nieselregen das
blau-gelbe Kosovo-Banner vor
dem Rathaus von Vushtrri. 5.000
der 70.000 Einwohner hatten
sich vor einem Jahr in der Hoffnung auf einen Job nach
Deutschland aufgemacht. Über
die Hälfte von ihnen sind nach
Auskunft des Stadtsprechers bereits wieder zurück. „Fast alle
Jungen überlegten, ob sie gehen
sollten. Die Leute erzählten, dass
in Deutschland Arbeitskräfte gesucht würden“, beschreibt der
hochgewachsene Kellner Valdet
Vilance in der Provinzstadt
Vushtrri die damalige Atmosphäre. Er sei deprimiert und ohne Arbeit gewesen, erklärt der 21-Jährige, warum auch er sich am 28.
Januar 2015 in einen überfüllten
Bus drängte. Acht Stunden marschierte er zu Fuß über Ungarns
grüne
Schengen-Grenze.
In
Frankfurt beantragte er Asyl, in
Hamburg harrte er sechs Monate
aus, bis zum negativen Bescheid.
Im August kehrte Valdet aus
Deutschland „freiwillig“ mit leeren Händen und einem Berg von
Schulden zurück. 2.000 Euro
hatte ihn die versuchte Auswanderung gekostet. Von den 170
Euro, die er nun im Monat als
Kellner verdiene, gingen 100 an
seine Geldgeber. Nein, er bereue
es nicht, gegangen zu sein: „Ich
habe zumindest versucht, wegzukommen. Und träume jede Nacht
davon, wieder wegzugehen.“
Offiziell liegt Kosovos Jugendarbeitslosigkeit bei 55 Prozent,
die tatsächlich auf 70 Prozent geschätzt wird. Sechs Jahre habe er
nach dem Abitur als Lagerarbeiter in Pristina gearbeitet, doch
nach dem Bankrott seines Arbeitgebers einfach keinen Job
mehr finden können, erzählt der
26-jährige Ahmed Uka: „Freunde
und Angehörige legten zusammen. Und so fuhr ich.“ Ein
Schiffsmodell ziert den Schreibtisch, ein Plastikflugzeug die Bürowand. Der Verkauf von Tickets
ist eigentlich das Geschäft von
Besart Halili. Täglich 100 bis 150
Kundenanfragen nach Tickets in
den Westen gab es Anfang 2015
in seinem Reisebüro „Soni
Tours“, erzählt der 29-jährige:
„Mit jedem Fahrschein hätten
wir fünf Euro, täglich mindestens
500 Euro verdient.“ Doch er sei
gegen den Exodus gewesen. „Viele dachten, dass man in Deutschland automatisch Arbeit und
Wohnung erhalte. Nun haben die
Leute ein realistischeres Bild.“
Europa
betrachtet
Kosovo als
sicheres Land.
Aber das stimmt
nicht. Denn
Sicherheit
bedeutet, dass
man mit Arbeit
sein Leben
bestreiten kann.
Verständnis
ohne zu klagen
Valdet Vilance, Kosovo-Heimkehrer
Standpunkt: Prozess gegen
die OCK-Sekte in Brüssel
Schuldzuweisungen
S. 8
Die Münchener Sicherheitskonferenz / S. 12
Gegen ihren Willen sind die
meisten „freiwillig“ heimgekehrt,
um ein mehrjähriges Einreiseverbot nach Zwangsdeportation zu
vermeiden. Klagen über die Ablehnung ihres Asylgesuchs oder
die Rückführung sind von den
Zwangsheimkehrern kaum zu
vernehmen. Er verstehe das, versichert Valdet. Er wolle auch
kein Flüchtling sein, sondern nur
ins Ausland, um zu arbeiten:
„Europa betrachtet Kosovo als sicheres Land. Aber das stimmt
nicht. Denn Sicherheit bedeutet,
dass man mit Arbeit sein Leben
bestreiten kann.“
TTIP: Lasst die
Information beginnen
S. 9