1 Manuskript radioWissen SENDUNG: 13.07.2015 9.05 Uhr/B2 AUFNAHME: STUDIO: GESCHICHTE Ab 9. Schuljahr TITEL: Aussteiger um 1900 Nacktkultur und Barfußphilosophen AUTORIN: Carola Zinner REDAKTION: Thomas Morawetz REGIE: Irene Schuck TECHNIK: Monika Gsaenger PERSONEN: ERZÄHLERIN Beate Himmelstoß ZITATOR Gert Heidenreich ZITATORIN (K. Kruse) Katja Schild (PS) GESPRÄCHSPARTNER (O-TÖNE) Ulrich Linse, Historiker Erwin Deprosse, Archivar Musik Atmo Zuspielungen Besondere Anmerkungen: ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 MUSIK Bubbling ideas C1464280 005 ZITATOR Wir essen Salat, ja wir essen Salat Und essen Gemüse von früh bis spat. Auch Früchte gehören zu unsrer Diät. Was sonst noch wächst, wird alles verschmäht. ZUSPIELUNG 1 (Linse) „Rauche nicht, saufe nicht, fresse dich nicht dauernd voll, mache Sport! Das zentrale Bild der Lebensreform ist: Dein Leib ist ein Tempel Gottes. Also kümmere dich um ihn!“ MUSIK Bubbling ideas C1464280 005 ZITATOR Wir sonnen den Leib, ja wir sonnen den Leib, Das ist unser einziger Zeitvertreib. Doch manchmal spaddeln wir auch im Teich, Das kräftigt den Körper und wäscht ihn zugleich. ZUSPIELUNG 2 (Linse) „Das erscheint der Umwelt dann oft sehr merkwürdig. Wenn man also dann im langen wallenden Tuniken im langen wallenden Haar und barfuß durch die Gegend marschiert.“ MUSIK Bubbling ideas C1464280 005 ZITATOR Wir rauchen nicht Taback, nein wir rauchen nicht Taback, Das tut nur das scheußliche Sündenpack. Wir setzen uns lieber auf das Gesäß Und leben gesund und naturgemäß. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 ZUSPIELUNG 3 (Linse) „Und im Nachhinein wird man sagen, dass trotz aller bizarren Seiten der Lebensreform im Zentrum doch sehr vernünftige Gedanken stehen.“ MUSIK Bubbling ideas C1464280 005 Musik Dada ZITATOR (Rousseau, d.h. völlig anderer Tonfall, idealerweise ein anderer Zitator) „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen“. Jean Jacques Rousseau: „Émile oder über die Erziehung“. Musik Mount Saint Helens Ⅰ: Resurgere ERZÄHLER Im November 1888 kam es in München zu einem Aufsehen erregenden Prozess. Vor Gericht standen der Fotograf und Maler Wilhelm Diefenbach und sein Schüler Hugo Höppner, genannt „Fidus“. Die Anklage lautete auf „groben Unfug“. Ein Polizist hatte beobachtet, dass Diefenbachs Kinder und Fidus sich „im adamischen Kostüm“, also nackt, im Gras gesonnt hatten. Die beiden Angeklagten, die barfuß und in weiten Kutten vor Gericht erschienen waren, wurden zu mehreren Wochen Haft verurteilt. Musik aus Musik Jd024 ZITATOR (strenger Jurist) „Derlei von grober Sinnlichkeit zeugende Excesse dürfen unbedingt nicht geduldet werden!“ ZUSPIELUNG 4 (Deprosse) ATMO „Man sieht hier noch deutlich den Steinbruch, die glatte Wand hier – Musik aus und dann oben eine Fläche wo der Diefenbach mit dem Fidus, seinem Gehilfen, da im „Lichtkleid“, wie sie gesagt haben, gemalt haben. + Schritte im Laub drüber ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 4 ERZÄHLER Erwin Deprosse, Archivar der Gemeinde Pullach im Isartal, führt im Ortsteil Höllriegelskreuth zum Schauplatz des Verbrechens. Hier, in einem aufgelassenen Steinbruch am Ufer der Isar, befanden sich einst Wohnhaus und Freiluftatelier des „Lebensreformers“ Wilhelm Diefenbach und seiner Anhänger. ZUSPIELUNG 5 „Es war ja völlige Wildnis hier, und wenn Wanderer gekommen sind, ham´s an Überwurf rüber, und der Gendarm der die Anzeige gemacht hat, musste zugeben, dass er sich erst durcharbeiten musste, bis er dann Anstoß nehmen konnte. Im Lichtkleid hams gemalt - nackert - schöner Ausdruck, was?“ Musik Sol Naciente ERZÄHLER Trotz der idyllischen Abgeschiedenheit des Höllriegelskreuther Domizils war Diefenbach zur Zeit des Prozesses in München schon längst kein Unbekannter mehr. Oft genug hatte er dort in Vorträgen seine Lebensphilosophie verkündet. Als überzeugter Vegetarier prangerte er das Verzehren von „Tierleichen“ als Sünde wider die göttliche Natur an. Impfungen seien gesundheitsschädlich, und der Genuss von Kaffee, Alkohol und Nikotin ebenso zu meiden wie „naturwidrige“ Kleidung, die den Körper einenge. Diefenbach proklamierte die Freikörperkultur und forderte die Gleichstellung nicht-ehelicher Kinder. Obwohl er gläubig war, kritisierte er die etablierten Kirchen und lehnte die Taufe entschieden ab. Musik aus ZUSPIELUNG 6 (Deprosse) „Er war natürlich der „Show-Man“ - er hat ja so eine Kutte und Strick - Sandalen, barfuß und dann das wehende Haar natürlich, dann hat er sich schon gefühlt, wenn ihm die Leute nachgeschaut haben in München - am Oktoberfest ist er Kettenkarussell gefahren, jaja, das war schon auch mit dabei, nicht nur Einsamkeit ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 und Sich-Verkriechen sondern er ist schon unter die Leut gegangen. Das hat er schon auch genossen, diese Aufmerksamkeit.“ ERZÄHLER Sie wurde ihm reichlich zuteil: Zeitungen veröffentlichten Karikaturen des „KohlrabiApostels“, wie man ihn und seine Anhänger spöttisch nannte; Kommentatoren diskutierten launig seine Philosophie. ZITATOR „Man denke doch: Er lebt im Lande des berühmten Bieres - und trinkt nur frisches Wasser; er lebt in der Stadt der ewigen Kalbshaxen und der saftigsten Braten - und begnügt sich mit Pflanzenkost; er lebt in der Kunststadt, wo die buntesten und vertracktesten Modebilder auf den Straßen herumlaufen - und kleidet sich in ein schlichtes wollenes Kuttengewand.“ ERZÄHLER Und doch fanden viele, dass man Diefenbach nicht einfach als „Spinner“ abtun könne: Prangerte er nicht zur Recht die Fehlentwicklungen der modernen Lebensweise an? Litten nicht tatsächlich immer mehr Menschen an Nervenschwäche und nervösen Ticks, an Alkoholsucht und Diabetes, Gicht und Allergien? Musik Dada Das Leben im ausgehenden 19. Jahrhundert war zunehmend geprägt von den Folgen der Industrialisierung. Eine bis dahin unvorstellbare Beschleunigung des Alltags wirkte sich auf jeden einzelnen aus. Gleichzeitig wanderte ein großer Teil der Landbevölkerung ab in die Städte und ließ die alten, bäuerlichen Lebensformen hinter sich, die stark von Traditionen und vom christlichen Glauben geprägt waren. Rituale wie der regelmäßige Besuch des Gottesdienstes verloren an Bedeutung, und der Philosoph Friedrich Nietzsche konnte es sich ungestraft leisten, ein freies und positives Denken zu fordern, das allein aufs Diesseits gerichtet war; „jenseits von Gut und Böse“, wie denn auch der Titel eines seiner Werke lautete. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 Musik aus Musik Last Hymn In diesem Umfeld trat nun Diefenbach auf als einer der ersten einer langen Reihe von „Lebensreformern“, die sich - oft ausgelöst durch eine persönliche Lebenskrise für eine alternative, „bessere“ Lebensweise abseits der großen Masse entschieden und meist versuchten, auch ihre Mitmenschen zur Umkehr zu bewegen. Krise, Umkehr und Bekehrung zum besseren Leben - für den Historiker Ulrich Linse zeigen sich hier deutliche Parallelen zu traditionellen Elementen des Christentums. Musik aus ZUSPIELUNG 7 (Linse) „Du musst den alten Menschen ablegen, den alten Adam - insofern find ich eigentlich das Faszinierende an der Lebensreform, dass es einen ehemals religiösen Impuls jetzt ins Innerweltliche verlagert. Dass es eine, sag ich mal pathetisch, „nachchristliche“ Ära ist, wo der Körper in den Mittelpunkt der Obsorge rückt, weil ja das ewige Leben irgendwo verschwunden ist und die Sorge um die Seele und die Sünde, und dann rückt das diesseitige Leben ins Zentrum.“ ZUSPIELUNG 8 (Deprosse) „Ja, er hat sich auch durchaus mit Christus verglichen, der Diefenbach. Erstens hat Christus die Christliche Lehre gebracht, und er hat sich ja auch als Bringer einer neuen Lebensweise gefühlt, also durchaus verwandt mit Christus und auch die Leiden, die Christus aufgesetzt waren. Und hat sogar gesagt, er hat noch viel mehr mitgemacht als Christus selber, gell. Und hat hier auch ein Kreuz stehen gehabt und eine weiße Fahne für Zeichen des Friedens.“ Musik Sol Naciente ZITATOR (Diefenbach) Erkenne, Menschheit, deine Mutter, die Natur, die rein und frei als höchstes Wesen dich geboren und nicht befleckt mit Erbsünd, Fluch und Schande dich in ihr blühend Eden setzte - “ ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Der schwäbische Arzt hatte nach umfassenden Studien zum Thema „Kleidung und menschlicher Körper“ weite Reformkleider und Unterwäsche aus Wolle entwickelt, die, wie er glaubhaft versicherte, die Leistungsfähigkeit ihres Trägers steigerte und die Ausschüttung angenehmer Körperdüfte förderte, während sie die Produktion übelriechender „Angststoffe“ reduzierte. Zahlreiche Prominente, darunter auch Oscar Wilde, George Bernhard Shaw und der Polarforscher Fridtjof Nansen schworen auf Jägers „Normalkleidung“, und auch Diefenbach hatte seine Kutte nach dem Vorbild des Jäger´schen Wolltrikots anfertigen lassen. Allerdings setzte der empfindliche Künstler auch auf das vom „Wasserdoktor“ Sebastian Kneipp in Wörishofen empfohlene Leinen, vor allem als er später im warmen Süden lebte. MUSIK aus Musik Im Frühling M0028781 107 Der Maler hatte nach seiner Münchner Zeit zusammen mit Familienmitgliedern und einigen Getreuen bei Wien eine der ersten Landkommunen gegründet. Nach einem finanziellen Debakel rund um eine große Diefenbach-Ausstellung musste die Gruppe den gemeinsam bewohnten „Himmelhof“ verlassen. Der Künstler reiste nach Italien, um auf Capri erneut ein Aussteiger-Imperium aufzubauen - es sollte sein letztes sein. „Alles hat sich an seine Eigensinnigkeit gewöhnt“, erzählte der Capri-Besucher Rainer Maria Rilke in einem Brief - ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Damals war er zum Haus des Meisters bei Wolfratshausen gepilgert, wo seit dessen Wegzug nach Wien einige seiner Jünger die Erinnerung an ihn wachhielten. 1919 dann, sechs Jahre nach Diefenbachs Tod auf Capri, besuchte Rilke zum ersten Mal jenen Ort, an dem das Vermächtnis des berühmten Lebensreformers wohl am intensivsten weiterlebte: Den Monte Verità bei Ascona - den Berg der Wahrheit, magisches Zentrum für SinnSuchende jeder Couleur. Musik aus Musik Abschied M0028781 106 ERZÄHLER Im Oktober 1900 trafen sich in einer Münchner Wohnung fünf Männer und Frauen, darunter auch der einstige Diefenbach-Jünger Gusto Gräser und sein Bruder Karl, um ein gemeinsames Projekt zu planen. Es ging um die Gründung einer Siedlung mit vegetarischer und lebensreformerischer Ausrichtung, möglichst im warmen Süden gelegen. Um einen geeigneten Platz zu finden, brach die Gruppe kurz darauf zu einer gemeinsamen Wanderung über die Alpen auf. Die Reise endete in einer idyllischen Gegend am Lago Maggiore, am Monte Verità, wo die Aussteiger einige Hektar Land kauften mit spektakulärer Aussicht auf den See. Kaum hatten sie mit den Rodungs- und Bauarbeiten begonnen, kamen auch schon die ersten Besucher. Unter ihnen auch der Bildhauer Max Kruse. Musik aus ZITATOR (Max Kruse) „Der erste Eindruck, den ich vom Monte Verità erhielt, gehört zu den stärksten meines Lebens. Man glaubte unter Urwaldmenschen zu sein. Sie trugen die Haare ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Ein Großstadt-Leben in Berlin sei nichts für die Kleinen, sagt er und lässt Käthe am Lago Maggiore mit den Worten zurück „So, nun wachse“. Während die 20-Jährige sehnsüchtig auf seine Besuche wartet und nebenbei die Vorläufer jener Puppen kreiert, die den Namen „Käthe Kruse“ weltweit berühmt machen werden, nimmt sie teil am gemeinschaftlichen Leben des Monte Verità - allerdings in leichter Distanz. Man baut Obst und Gemüse an, tanzt - leicht gewandet oder „im Lichtkleid“ - auf Blumenwiesen und strebt nach Echtheit und Wahrheit, nach Freiheit, Reinheit und Schönheit - den erklärten Idealen der Lebensreformer. Was die Umsetzung dieser Ideale angeht, ist man sich allerdings in der Gruppe der Gründer schon bald uneinig. Es kommt zur Spaltung. Während die einen fortan stramm organisiert an der Urbarmachung des Bodens arbeiten und ein florierendes, durchaus kommerziell ausgerichtetes Sanatorium aufbauen, wandern die beiden Brüder Gräser und ihre Gefährtinnen ab an eine andere Stelle des Berges, um dort in äußerster Einfachheit zu leben, unter größtmöglicher Schonung der Umwelt. Die Nachbarschaft zu diesen archaisch anmutenden „Naturmenschen“ gehört nun für Gäste des Sanatoriums wie Franziska zu Reventlow, Gerhard Hauptmann, C.G Jung und Hermann Hesse zu jenen wunderbaren Momenten, die den Aufenthalt auf dem Monte Verità so reizvoll machen. Käthe Kruse allerdings blickt skeptisch auf das puristische Leben der Asketen. Musik Sol Naciente ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Glaubte doch jeder, den Stein der Weisen gefunden zu haben. () Aus aller Welt kamen bedeutende und interessante Menschen, die, selbst Sucher, angezogen wurden von den seltsamen Predigern.“ Musik aus MUSIK Bubbling ideas C1464280 005 ZITATOR Wir essen Salat, ja wir essen Salat Und essen Gemüse von früh bis spat. Und schimpft ihr den Vegetarier einen Tropf, So schmeißen wir euch eine Walnuss an den Kopf. Wir essen Salat, ja wir essen Salat Und essen Gemüse von früh bis spat. Musik aus ERZÄHLER So spöttelt der Dichter Erich Mühsam in seinem Gedicht „Der Gesang der Vegetarier“ - Untertitel: „Ein alkoholfreies Trinklied.“ Und doch kehrt er - wie viele andere - immer wieder zurück zum Monte Verità, dem Ort der Ruhe und Kraft, des Austauschs und der geistigen Erneuerung. Ulrich Linse: ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Im Rückblick würde ich sagen, das hat doch sehr viel Aufklärerisches an sich in einer Zeit, wo sozusagen der Lebensweg der „normalen“ Menschen ja auch nicht sehr vernünftig ist , sondern nehmen wir mal einen Mann wie Max Weber - er muss immer auf diesen Monte Verità gehen, um seinen Körper, den er wieder malträtiert hat durch zu viel Rauchen und zu ungesundes Leben, wieder ein bissl auf Vordermann zu bringen und ein wenig freie Liebe dort zu genießen, damit er wieder zu sich kommt. Also gerade der Max Weber, von dem wir sagen, er hat das doch entdeckt, die Entzauberung der Welt, er lässt sich immer wieder im Monte Verità verzaubern und merkt, dass das ein wichtiger Teil ist der modernen Existenz.“ MUSIK Locura ERZÄHLER Um an den Errungenschaften der Lebensreformer teilzunehmen, musste man damals allerdings nicht mehr unbedingt zum „Berg der Wahrheit“ reisen. Ab 1900 gab es in immer mehr deutschen Städten Reformhäuser, die all das anboten, was es bisher in Läden nicht zu kaufen gab: lockere Kleidung und Kneipp-Sandalen, Vollkornbrot und alkoholfreie Säfte, Pflanzenmargarine und Fleischersatz. Die Kundschaft ist speziell - und tauscht sich untereinander aus. Man spricht über die Bücher der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key - auch sie übrigens ein gern gesehener Gast auf dem Monte Verità - die Kinder zu eigenständigen Wesen erklärt, die Gesamtschule bis zum 15. Lebensjahr fordert und Schläge als Erziehungsmittel rundweg ablehnt. Und man kann sich mit Gleichgesinnten zu einer Interessengemeinschaft zusammentun. So wie die Bewohner der Obstbaukolonie ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Von „Scholle“ und „naturhaftem Leben“ war es nicht weit zu „Blut und Boden“. ZUSPIELUNG 10 (Linse) „Was kann man alles in die Natur hineindeuten. Man kann zum Beispiel sagen „fremdrassige Holzarten“ wie die Douglas-Fichte haben im deutschen Wald nichts verloren, das muss ausgemerzt werden. Oder „Der Wald, das ist die Stätte des Kampfes ums Überleben“, nur der Kräftigste setzt sich da durch.“ ERZÄHLER So mündeten später einige der Wege, die die Lebensreformer unter Berufung auf Freiheit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung gebahnt hatten, in den großen Strom der nationalsozialistischen Massenbewegung. Das Elite-Bewusstsein, die Ideale von Reinheit, Sauberkeit und naturnahem Leben wurden in ihrer pervertierten Form zu einem Teil des geistigen Unterbaus für die größte menschliche Katastrophe des 20. Jahrhunderts. ZUSPIELUNG 11 (Linse) „Es gibt bei den verschiedenen Facetten der Lebensreformbewegung unterschiedlich gelagerte Problemfelder. Zum Beispiel ist bei der Nacktkultur ein Problemfeld, dass es sich sehr gern mit Rassismus verbindet. Der Körper, du kannst ihn nicht mehr verstecken, er wird sichtbar in seiner physischen Qualität und natürlich ist es der ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 13 weiße Körper, der sichtbar wird, er wird sonnengebräunt, aber er wird nicht schwarz das sind, denk ich, so Ansätze von arischen Schönheitsidealen, mit all dem was zu einer Rasse-Zucht-Phantasie da einengen kann. Also ich würde fast sagen, jede Form von Lebensreform hat auch Möglichkeiten des Entgleisens. Und viele vielleicht, wenn sie an Lebensreform denken, denken zuerst an diese Entgleisungen. Das sollte man auch nicht machen. Man sollte sehen, dass dort Substanz ist, aber man sollte auch das andere nicht wegreden, dass es diese Entgleisungsmöglichkeiten auch gibt.“ ERZÄHLER Ein erinnerungswürdiges Gegenbeispiel ist das Leben des Dichters und Naturpropheten Gusto Gräser. Der ehemalige Diefenbach-Schüler, Mitbegründer des Monte Verità und Freund und Vertrauter von Hermann Hesse, hielt sich zeitlebens abseits von aller Vereinnahmung; ob durch das Militär - er kam deswegen wiederholt in Haft - oder durch völkische Ideologen. Der Lebensreformer Gräser blieb Pazifist, und er blieb ein Außenseiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er bis zu seinem Tod 1958 unter ärmlichsten Verhältnissen im Münchner Stadtteil Freimann inmitten seiner Bilder, Postkarten und Flugschriften, in denen er die Mitmenschen zur Einsicht und Umkehr aufrief. Musik Bernie Alap Eines der wenigen Fotos aus seinen letzten Jahren zeigen einen alten Mann mit langem weißem Bart, halb Landstreicher, halb Prophet, lesend im Gras, den Arm gestützt an den Stamm eines Baumes. ZITATOR (Handschrift, Veröffentlichung mit frdl. Genehmigung des Rechteinhabers Hermann Müller, Maulbronn) Mein ich den Himmel? Mein ich die Erde? Dich selber mein ich, oh Mensch! Zu dir selber will ich dich locken. Lieber will ich dir keine meiner Früchte, und noch weniger will ich dir Lehren geben, auf dass du ja kein Anhänger werdest, vielleicht aber ein Freund. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 14 Sei da, sei du, sei ein Freund. MUSIK aus ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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