Aussteiger um 1900 - Bayerischer Rundfunk

1
Manuskript
radioWissen
SENDUNG: 13.07.2015
9.05 Uhr/B2
AUFNAHME:
STUDIO:
GESCHICHTE
Ab 9. Schuljahr
TITEL:
Aussteiger um 1900 Nacktkultur und Barfußphilosophen
AUTORIN:
Carola Zinner
REDAKTION:
Thomas Morawetz
REGIE:
Irene Schuck
TECHNIK:
Monika Gsaenger
PERSONEN:
ERZÄHLERIN
Beate Himmelstoß
ZITATOR
Gert Heidenreich
ZITATORIN (K. Kruse)
Katja Schild (PS)
GESPRÄCHSPARTNER (O-TÖNE)
Ulrich Linse, Historiker
Erwin Deprosse, Archivar
Musik
Atmo
Zuspielungen
Besondere Anmerkungen:
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Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich!
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Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max.
42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de
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MUSIK Bubbling ideas C1464280 005
ZITATOR
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
Auch Früchte gehören zu unsrer Diät.
Was sonst noch wächst, wird alles verschmäht.
ZUSPIELUNG 1 (Linse)
„Rauche nicht, saufe nicht, fresse dich nicht dauernd voll, mache Sport! Das zentrale
Bild der Lebensreform ist: Dein Leib ist ein Tempel Gottes. Also kümmere dich um
ihn!“
MUSIK Bubbling ideas C1464280 005
ZITATOR
Wir sonnen den Leib, ja wir sonnen den Leib,
Das ist unser einziger Zeitvertreib.
Doch manchmal spaddeln wir auch im Teich,
Das kräftigt den Körper und wäscht ihn zugleich.
ZUSPIELUNG 2 (Linse)
„Das erscheint der Umwelt dann oft sehr merkwürdig. Wenn man also dann im
langen wallenden Tuniken im langen wallenden Haar und barfuß durch die Gegend
marschiert.“
MUSIK Bubbling ideas C1464280 005
ZITATOR
Wir rauchen nicht Taback, nein wir rauchen nicht Taback,
Das tut nur das scheußliche Sündenpack.
Wir setzen uns lieber auf das Gesäß
Und leben gesund und naturgemäß.
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ZUSPIELUNG 3 (Linse)
„Und im Nachhinein wird man sagen, dass trotz aller bizarren Seiten der
Lebensreform im Zentrum doch sehr vernünftige Gedanken stehen.“
MUSIK Bubbling ideas C1464280 005
Musik Dada
ZITATOR (Rousseau, d.h. völlig anderer Tonfall, idealerweise ein anderer Zitator)
„Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den
Händen des Menschen“. Jean Jacques Rousseau: „Émile oder über die Erziehung“.
Musik Mount Saint Helens Ⅰ: Resurgere
ERZÄHLER
Im November 1888 kam es in München zu einem Aufsehen erregenden Prozess. Vor
Gericht standen der Fotograf und Maler Wilhelm Diefenbach und sein Schüler Hugo
Höppner, genannt „Fidus“. Die Anklage lautete auf „groben Unfug“. Ein Polizist hatte
beobachtet, dass Diefenbachs Kinder und Fidus sich „im adamischen Kostüm“, also
nackt, im Gras gesonnt hatten. Die beiden Angeklagten, die barfuß und in weiten
Kutten vor Gericht erschienen waren, wurden zu mehreren Wochen Haft verurteilt.
Musik aus
Musik Jd024
ZITATOR (strenger Jurist)
„Derlei von grober Sinnlichkeit zeugende Excesse dürfen unbedingt nicht geduldet
werden!“
ZUSPIELUNG 4 (Deprosse)
ATMO „Man sieht hier noch deutlich den Steinbruch, die glatte Wand hier –
Musik aus
und dann oben eine Fläche wo der Diefenbach mit dem Fidus, seinem Gehilfen, da
im „Lichtkleid“, wie sie gesagt haben, gemalt haben. + Schritte im Laub drüber
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4
ERZÄHLER
Erwin Deprosse, Archivar der Gemeinde Pullach im Isartal, führt im Ortsteil
Höllriegelskreuth zum Schauplatz des Verbrechens. Hier, in einem aufgelassenen
Steinbruch am Ufer der Isar, befanden sich einst Wohnhaus und Freiluftatelier des
„Lebensreformers“ Wilhelm Diefenbach und seiner Anhänger.
ZUSPIELUNG 5
„Es war ja völlige Wildnis hier, und wenn Wanderer gekommen sind, ham´s an
Überwurf rüber, und der Gendarm der die Anzeige gemacht hat, musste zugeben,
dass er sich erst durcharbeiten musste, bis er dann Anstoß nehmen konnte. Im
Lichtkleid hams gemalt - nackert - schöner Ausdruck, was?“
Musik Sol Naciente
ERZÄHLER
Trotz der idyllischen Abgeschiedenheit des Höllriegelskreuther Domizils war
Diefenbach zur Zeit des Prozesses in München schon längst kein Unbekannter mehr.
Oft genug hatte er dort in Vorträgen seine Lebensphilosophie verkündet. Als
überzeugter Vegetarier prangerte er das Verzehren von „Tierleichen“ als Sünde
wider die göttliche Natur an. Impfungen seien gesundheitsschädlich, und der Genuss
von Kaffee, Alkohol und Nikotin ebenso zu meiden wie „naturwidrige“ Kleidung, die
den Körper einenge. Diefenbach proklamierte die Freikörperkultur und forderte die
Gleichstellung nicht-ehelicher Kinder. Obwohl er gläubig war, kritisierte er die
etablierten Kirchen und lehnte die Taufe entschieden ab.
Musik aus
ZUSPIELUNG 6 (Deprosse)
„Er war natürlich der „Show-Man“ - er hat ja so eine Kutte und Strick - Sandalen,
barfuß und dann das wehende Haar natürlich, dann hat er sich schon gefühlt, wenn
ihm die Leute nachgeschaut haben in München - am Oktoberfest ist er
Kettenkarussell gefahren, jaja, das war schon auch mit dabei, nicht nur Einsamkeit
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und Sich-Verkriechen sondern er ist schon unter die Leut gegangen. Das hat er
schon auch genossen, diese Aufmerksamkeit.“
ERZÄHLER
Sie wurde ihm reichlich zuteil: Zeitungen veröffentlichten Karikaturen des „KohlrabiApostels“, wie man ihn und seine Anhänger spöttisch nannte; Kommentatoren
diskutierten launig seine Philosophie.
ZITATOR
„Man denke doch: Er lebt im Lande des berühmten Bieres - und trinkt nur frisches
Wasser; er lebt in der Stadt der ewigen Kalbshaxen und der saftigsten Braten - und
begnügt sich mit Pflanzenkost; er lebt in der Kunststadt, wo die buntesten und
vertracktesten Modebilder auf den Straßen herumlaufen - und kleidet sich in ein
schlichtes wollenes Kuttengewand.“
ERZÄHLER
Und doch fanden viele, dass man Diefenbach nicht einfach als „Spinner“ abtun
könne: Prangerte er nicht zur Recht die Fehlentwicklungen der modernen
Lebensweise an? Litten nicht tatsächlich immer mehr Menschen an Nervenschwäche
und nervösen Ticks, an Alkoholsucht und Diabetes, Gicht und Allergien?
Musik Dada
Das Leben im ausgehenden 19. Jahrhundert war zunehmend geprägt von den
Folgen der Industrialisierung. Eine bis dahin unvorstellbare Beschleunigung des
Alltags wirkte sich auf jeden einzelnen aus.
Gleichzeitig wanderte ein großer Teil der Landbevölkerung ab in die Städte und ließ
die alten, bäuerlichen Lebensformen hinter sich, die stark von Traditionen und vom
christlichen Glauben geprägt waren. Rituale wie der regelmäßige Besuch des
Gottesdienstes verloren an Bedeutung, und der Philosoph Friedrich Nietzsche
konnte es sich ungestraft leisten, ein freies und positives Denken zu fordern, das
allein aufs Diesseits gerichtet war; „jenseits von Gut und Böse“, wie denn auch der
Titel eines seiner Werke lautete.
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Musik aus
Musik Last Hymn
In diesem Umfeld trat nun Diefenbach auf als einer der ersten einer langen Reihe
von „Lebensreformern“, die sich - oft ausgelöst durch eine persönliche Lebenskrise für eine alternative, „bessere“ Lebensweise abseits der großen Masse entschieden
und meist versuchten, auch ihre Mitmenschen zur Umkehr zu bewegen. Krise,
Umkehr und Bekehrung zum besseren Leben - für den Historiker Ulrich Linse zeigen
sich hier deutliche Parallelen zu traditionellen Elementen des Christentums.
Musik aus
ZUSPIELUNG 7 (Linse)
„Du musst den alten Menschen ablegen, den alten Adam - insofern find ich eigentlich
das Faszinierende an der Lebensreform, dass es einen ehemals religiösen Impuls
jetzt ins Innerweltliche verlagert. Dass es eine, sag ich mal pathetisch,
„nachchristliche“ Ära ist, wo der Körper in den Mittelpunkt der Obsorge rückt, weil ja
das ewige Leben irgendwo verschwunden ist und die Sorge um die Seele und die
Sünde, und dann rückt das diesseitige Leben ins Zentrum.“
ZUSPIELUNG 8 (Deprosse)
„Ja, er hat sich auch durchaus mit Christus verglichen, der Diefenbach. Erstens hat
Christus die Christliche Lehre gebracht, und er hat sich ja auch als Bringer einer
neuen Lebensweise gefühlt, also durchaus verwandt mit Christus und auch die
Leiden, die Christus aufgesetzt waren. Und hat sogar gesagt, er hat noch viel mehr
mitgemacht als Christus selber, gell. Und hat hier auch ein Kreuz stehen gehabt und
eine weiße Fahne für Zeichen des Friedens.“
Musik Sol Naciente
ZITATOR (Diefenbach)
Erkenne, Menschheit, deine Mutter, die Natur, die rein und frei als höchstes Wesen
dich geboren und nicht befleckt mit Erbsünd, Fluch und Schande dich in ihr blühend
Eden setzte - “
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7
ERZÄHLER
So dichtete Diefenbach, überzeugt davon, dass das andere, das „richtige“ Leben
alles umfassen müsse, von der Körperpflege über die Ernährung bis hin zur Kunst.
Musik Locura
Dabei griff er bereitwillig bereits bestehende Alternativ-Konzepte auf.
Die von Samuel Hahnemann entwickelte Homöopathie etwa; die Luft- und
Lichttherapie des Schweizer Naturheilkundlers Arnold Rikli, mit dessen Hilfe auch
Diefenbach selbst in jungen Jahren von schwerer Krankheit genesen war - und die
so genannte „Normalkleidung“ von Gustav Jäger, genannt „Woll-Jäger“. Der
schwäbische Arzt hatte nach umfassenden Studien zum Thema „Kleidung und
menschlicher Körper“ weite Reformkleider und Unterwäsche aus Wolle entwickelt,
die, wie er glaubhaft versicherte, die Leistungsfähigkeit ihres Trägers steigerte und
die Ausschüttung angenehmer Körperdüfte förderte, während sie die Produktion
übelriechender „Angststoffe“ reduzierte. Zahlreiche Prominente, darunter auch Oscar
Wilde, George Bernhard Shaw und der Polarforscher Fridtjof Nansen schworen auf
Jägers „Normalkleidung“, und auch Diefenbach hatte seine Kutte nach dem Vorbild
des Jäger´schen Wolltrikots anfertigen lassen. Allerdings setzte der empfindliche
Künstler auch auf das vom „Wasserdoktor“ Sebastian Kneipp in Wörishofen
empfohlene Leinen, vor allem als er später im warmen Süden lebte.
MUSIK aus
Musik Im Frühling
M0028781 107
Der Maler hatte nach seiner Münchner Zeit zusammen mit Familienmitgliedern und
einigen Getreuen bei Wien eine der ersten Landkommunen gegründet. Nach einem
finanziellen Debakel rund um eine große Diefenbach-Ausstellung musste die Gruppe
den gemeinsam bewohnten „Himmelhof“ verlassen. Der Künstler reiste nach Italien,
um auf Capri erneut ein Aussteiger-Imperium aufzubauen - es sollte sein letztes sein.
„Alles hat sich an seine Eigensinnigkeit gewöhnt“, erzählte der Capri-Besucher
Rainer Maria Rilke in einem Brief -
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ZITATOR (Rilke)
„- dann und wann kann man ihn auftauchen sehen, Grau in Grau, von jenen Graus,
die altes Holz an Lattenzäunen unter dem Einfluss von Regen und Sonne nimmt.“
ERZÄHLER
Rilke hatte sich bereits als 22-Jähriger für Diefenbachs Theorien interessiert. Damals
war er zum Haus des Meisters bei Wolfratshausen gepilgert, wo seit dessen Wegzug
nach Wien einige seiner Jünger die Erinnerung an ihn wachhielten.
1919 dann, sechs Jahre nach Diefenbachs Tod auf Capri, besuchte Rilke zum ersten
Mal jenen Ort, an dem das Vermächtnis des berühmten Lebensreformers wohl am
intensivsten weiterlebte:
Den Monte Verità bei Ascona - den Berg der Wahrheit, magisches Zentrum für SinnSuchende jeder Couleur.
Musik aus
Musik Abschied
M0028781 106
ERZÄHLER
Im Oktober 1900 trafen sich in einer Münchner Wohnung fünf Männer und Frauen,
darunter auch der einstige Diefenbach-Jünger Gusto Gräser und sein Bruder Karl,
um ein gemeinsames Projekt zu planen. Es ging um die Gründung einer Siedlung mit
vegetarischer und lebensreformerischer Ausrichtung, möglichst im warmen Süden
gelegen. Um einen geeigneten Platz zu finden, brach die Gruppe kurz darauf zu
einer gemeinsamen Wanderung über die Alpen auf. Die Reise endete in einer
idyllischen Gegend am Lago Maggiore, am Monte Verità, wo die Aussteiger einige
Hektar Land kauften mit spektakulärer Aussicht auf den See. Kaum hatten sie mit
den Rodungs- und Bauarbeiten begonnen, kamen auch schon die ersten Besucher.
Unter ihnen auch der Bildhauer Max Kruse.
Musik aus
ZITATOR (Max Kruse)
„Der erste Eindruck, den ich vom Monte Verità erhielt, gehört zu den stärksten
meines Lebens. Man glaubte unter Urwaldmenschen zu sein. Sie trugen die Haare
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so lang, wie sie wachsen wollten, die Männer natürlich auch die Bärte. Ihre
Bekleidung war sehr einfach: kurze Hosen, Hemdbluse und für schlechtes Wetter
einen Friessack mit einem Loch für den Kopf und zwei für die Arme – natürlich
nackte Beine und primitive Sandalen. Ihre Häuser waren aus unbehauenen Steinen,
wie sie dort zu finden sind, die Möbel aus knorrigen Ästen zusammengenagelt, aber
alles in seiner Art geschmackvoll. Sie hatten das Prinzip, alles, was der Mensch
braucht, selbst zu verfertigen.“
ERZÄHLER
Später wird Max Kruse seine junge Lebensgefährtin mitsamt den beiden
gemeinsamen Kindern auf den Monte Verità bringen. Ein Großstadt-Leben in Berlin
sei nichts für die Kleinen, sagt er und lässt Käthe am Lago Maggiore mit den Worten
zurück „So, nun wachse“. Während die 20-Jährige sehnsüchtig auf seine Besuche
wartet und nebenbei die Vorläufer jener Puppen kreiert, die den Namen „Käthe
Kruse“ weltweit berühmt machen werden, nimmt sie teil am gemeinschaftlichen
Leben des Monte Verità - allerdings in leichter Distanz. Man baut Obst und Gemüse
an, tanzt - leicht gewandet oder „im Lichtkleid“ - auf Blumenwiesen und strebt nach
Echtheit und Wahrheit, nach Freiheit, Reinheit und Schönheit - den erklärten Idealen
der Lebensreformer. Was die Umsetzung dieser Ideale angeht, ist man sich
allerdings in der Gruppe der Gründer schon bald uneinig. Es kommt zur Spaltung.
Während die einen fortan stramm organisiert an der Urbarmachung des Bodens
arbeiten und ein florierendes, durchaus kommerziell ausgerichtetes Sanatorium
aufbauen, wandern die beiden Brüder Gräser und ihre Gefährtinnen ab an eine
andere Stelle des Berges, um dort in äußerster Einfachheit zu leben, unter
größtmöglicher Schonung der Umwelt. Die Nachbarschaft zu diesen archaisch
anmutenden „Naturmenschen“ gehört nun für Gäste des Sanatoriums wie Franziska
zu Reventlow, Gerhard Hauptmann, C.G Jung und Hermann Hesse zu jenen
wunderbaren Momenten, die den Aufenthalt auf dem Monte Verità so reizvoll
machen. Käthe Kruse allerdings blickt skeptisch auf das puristische Leben der
Asketen.
Musik Sol Naciente
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ZITATORIN (Käthe Kruse)
„Sie verschmähten jede Hilfe. Nur was der Mensch mit seiner eigenen Kraft, mit
seiner eigenen Hände Arbeit sich schaffen könne, sei ihm gemäß und gut. Nicht
einmal der Tiere und Menschen dürfe er sich bedienen. Kraft stehlen heiße die Natur
betrügen. Man kann sich denken, wie solche - mit fanatischem Ernst vorgebrachten Lehren auf mich wirkten. Ich durchlief die ganze Skala der Empfindungen von
unwiderstehlicher Lachlust bis zu ernstlichen Selbstvorwürfen, dass ich mich
unterstand, eine Kinderfrau zu halten. ()
Damals war Ascona geladen von Hochspannung, von Prophetengefühl, Sicherheit
und Stolz. Glaubte doch jeder, den Stein der Weisen gefunden zu haben. () Aus aller
Welt kamen bedeutende und interessante Menschen, die, selbst Sucher, angezogen
wurden von den seltsamen Predigern.“
Musik aus
MUSIK Bubbling ideas C1464280 005
ZITATOR
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
Und schimpft ihr den Vegetarier einen Tropf,
So schmeißen wir euch eine Walnuss an den Kopf.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
Musik aus
ERZÄHLER
So spöttelt der Dichter Erich Mühsam in seinem Gedicht „Der Gesang der Vegetarier“
- Untertitel: „Ein alkoholfreies Trinklied.“ Und doch kehrt er - wie viele andere - immer
wieder zurück zum Monte Verità, dem Ort der Ruhe und Kraft, des Austauschs und
der geistigen Erneuerung. Ulrich Linse:
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ZUSPIELUNG 9 (Linse)
„Erich Mühsam hat ja gesagt, es war kein Sanatorium sondern ein Salatorium. und
das war also nicht vielleicht nach jedermanns Geschmack. Aber es gibt ja dieses
berühmte Foto, wie er nackt da unterm Wasserfall steht und offenbar seinen Tempel
Gottes, seinen Leib, sehr genießt. Wie viele andere dort. Die Entdeckung der
eigenen Körperlichkeit ist sicher auch ein zentraler Punkt. Im Rückblick würde ich
sagen, das hat doch sehr viel Aufklärerisches an sich in einer Zeit, wo sozusagen der
Lebensweg der „normalen“ Menschen ja auch nicht sehr vernünftig ist , sondern nehmen wir mal einen Mann wie Max Weber - er muss immer auf diesen Monte
Verità gehen, um seinen Körper, den er wieder malträtiert hat durch zu viel Rauchen
und zu ungesundes Leben, wieder ein bissl auf Vordermann zu bringen und ein
wenig freie Liebe dort zu genießen, damit er wieder zu sich kommt. Also gerade der
Max Weber, von dem wir sagen, er hat das doch entdeckt, die Entzauberung der
Welt, er lässt sich immer wieder im Monte Verità verzaubern und merkt, dass das ein
wichtiger Teil ist der modernen Existenz.“
MUSIK Locura
ERZÄHLER
Um an den Errungenschaften der Lebensreformer teilzunehmen, musste man
damals allerdings nicht mehr unbedingt zum „Berg der Wahrheit“ reisen. Ab 1900
gab es in immer mehr deutschen Städten Reformhäuser, die all das anboten, was es
bisher in Läden nicht zu kaufen gab: lockere Kleidung und Kneipp-Sandalen,
Vollkornbrot und alkoholfreie Säfte, Pflanzenmargarine und Fleischersatz. Die
Kundschaft ist speziell - und tauscht sich untereinander aus. Man spricht über die
Bücher der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key - auch sie übrigens ein gern
gesehener Gast auf dem Monte Verità - die Kinder zu eigenständigen Wesen erklärt,
die Gesamtschule bis zum 15. Lebensjahr fordert und Schläge als Erziehungsmittel
rundweg ablehnt. Und man kann sich mit Gleichgesinnten zu einer
Interessengemeinschaft zusammentun. So wie die Bewohner der Obstbaukolonie
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Eden bei Berlin, jener bereits 1893 entstandenen vegetarischen
Genossenschaftssiedlung, in der Freidenker, Bodenreformer und Anhänger von
Körperkultur ein naturnahes Leben führen. In enger Nachbarschaftshilfe gewinnen
sie dem kargen märkischen Boden erstaunliche Erträge ab.
MUSIK aus
Allerdings zeigt sich gerade an dieser Siedlung die Kehrseite der Lebensreform und
ihrer Auswirkungen. Denn anders als in der von Künstlern und Bohemiens
durchsetzten Gesellschaft auf dem Monte Verità bekam in der Gartenkolonie Eden
das antikapitalistische „naturnahe“ Gedankengut schon bald völkische und
antisemitische Züge. Von „Scholle“ und „naturhaftem Leben“ war es nicht weit zu
„Blut und Boden“.
ZUSPIELUNG 10 (Linse)
„Was kann man alles in die Natur hineindeuten. Man kann zum Beispiel sagen
„fremdrassige Holzarten“ wie die Douglas-Fichte haben im deutschen Wald nichts
verloren, das muss ausgemerzt werden. Oder „Der Wald, das ist die Stätte des
Kampfes ums Überleben“, nur der Kräftigste setzt sich da durch.“
ERZÄHLER
So mündeten später einige der Wege, die die Lebensreformer unter Berufung auf
Freiheit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung gebahnt hatten, in den großen
Strom der nationalsozialistischen Massenbewegung. Das Elite-Bewusstsein, die
Ideale von Reinheit, Sauberkeit und naturnahem Leben wurden in ihrer pervertierten
Form zu einem Teil des geistigen Unterbaus für die größte menschliche Katastrophe
des 20. Jahrhunderts.
ZUSPIELUNG 11 (Linse)
„Es gibt bei den verschiedenen Facetten der Lebensreformbewegung unterschiedlich
gelagerte Problemfelder. Zum Beispiel ist bei der Nacktkultur ein Problemfeld, dass
es sich sehr gern mit Rassismus verbindet. Der Körper, du kannst ihn nicht mehr
verstecken, er wird sichtbar in seiner physischen Qualität und natürlich ist es der
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weiße Körper, der sichtbar wird, er wird sonnengebräunt, aber er wird nicht schwarz das sind, denk ich, so Ansätze von arischen Schönheitsidealen, mit all dem was zu
einer Rasse-Zucht-Phantasie da einengen kann. Also ich würde fast sagen, jede
Form von Lebensreform hat auch Möglichkeiten des Entgleisens. Und viele vielleicht,
wenn sie an Lebensreform denken, denken zuerst an diese Entgleisungen. Das
sollte man auch nicht machen. Man sollte sehen, dass dort Substanz ist, aber man
sollte auch das andere nicht wegreden, dass es diese Entgleisungsmöglichkeiten
auch gibt.“
ERZÄHLER
Ein erinnerungswürdiges Gegenbeispiel ist das Leben des Dichters und
Naturpropheten Gusto Gräser. Der ehemalige Diefenbach-Schüler, Mitbegründer des
Monte Verità und Freund und Vertrauter von Hermann Hesse, hielt sich zeitlebens
abseits von aller Vereinnahmung; ob durch das Militär - er kam deswegen wiederholt
in Haft - oder durch völkische Ideologen. Der Lebensreformer Gräser blieb Pazifist,
und er blieb ein Außenseiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er bis zu seinem
Tod 1958 unter ärmlichsten Verhältnissen im Münchner Stadtteil Freimann inmitten
seiner Bilder, Postkarten und Flugschriften, in denen er die Mitmenschen zur Einsicht
und Umkehr aufrief.
Musik Bernie Alap
Eines der wenigen Fotos aus seinen letzten Jahren zeigen einen alten Mann mit
langem weißem Bart, halb Landstreicher, halb Prophet, lesend im Gras, den Arm
gestützt an den Stamm eines Baumes.
ZITATOR (Handschrift, Veröffentlichung mit frdl. Genehmigung des Rechteinhabers Hermann Müller, Maulbronn)
Mein ich den Himmel? Mein ich die Erde?
Dich selber mein ich, oh Mensch!
Zu dir selber will ich dich locken.
Lieber will ich dir keine meiner Früchte,
und noch weniger will ich dir Lehren geben,
auf dass du ja kein Anhänger werdest,
vielleicht aber ein Freund.
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Sei da,
sei du,
sei ein Freund.
MUSIK aus
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