Statement Dr. Jens Baas, Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse, zur Vorstellung des Innovationsreports 2015 am 9. September 2015 in Berlin ___________________________________________________________________________ Zum dritten Mal in Folge stellen wir den Innovationsreport vor, den die Techniker Krankenkasse gemeinsam mit Professor Dr. Glaeske und seinem Team von der Universität Bremen veröffentlicht. Er soll einen Überblick über die Arzneimittelinnovationen des Jahres 2012 liefern nachdem wir im vorherigen Report die neuen Wirkstoffe des Jahres 2011 betrachtet hatten. Der zeitliche Abstand ermöglicht eine Beurteilung, ob und wie die neuen Arzneimittel in der Versorgungsrealität angekommen sind. Er lässt auch Schlüsse zu, wie sich die frühe Nutzenbewertung, die der Gesetzgeber mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) eingeführt hat, auf den Markt auswirkt und wo dringender Nachbesserungsbedarf besteht. Im diesjährigen Innovationsreport wurden die Präparate wieder nach dem Ampelschema bewertet. Von den 20 Medikamenten bekam nur das Krebsmedikament Zelboraf (Vemurafenib) eine grüne Ampel in der Gesamtbewertung. Sieben Mal zeigt die Ampel gelb und sogar zwölf Mal rot. Beim Marketing haben die Pharmahersteller ihre Hausaufgaben hingegen gemacht. Obwohl die Bewertungen im Vergleich zum Vorjahr deutlich schlechter ausgefallen sind, wurden die Präparate im ersten Jahr nach Markteinführung beinahe genauso häufig verordnet wie die neuen Arzneimittel im Vorjahr (41.000 Packungen zu 49.000 Packungen zu Lasten der TK). Lediglich der Umsatz fiel in Anbetracht der niedrigen Innovationskraft auch geringer aus (27,5 Mio. Euro zu 74,0 Mio. Euro). Bemerkenswert ist, dass mehr als die Hälfte der untersuchten Präparate, trotz der schlechten Bewertung, schon jetzt in die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften aufgenommen wurden. Nach einer aktuellen DocCheck-Umfrage im Auftrag der TK treffen 30 Prozent der befragten Ärzte ihre Entscheidung zur Verordnung neuer Arzneimittel am häufigsten aufgrund von Leitlinienempfehlungen. Nur 15 Prozent der Befragten gaben das Ergebnis der frühen Nutzenbewertung als häufigste Informationsquelle an. Wenn Ärzte den Leitlinien mehr vertrauen als dem Ergebnis der frühen Nutzenbewertung, ist es umso folgenreicher, wenn darin auch Präparate aufgenommen werden, bei denen kein patientenrelevanter Zusatznutzen nachgewiesen werden kann. Die Auswirkungen sehen wir am Beispiel des Präparats Fingolimod (Gilenya), das zu Behandlung von Multipler Sklerose zugelassen ist. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) sah für lediglich 1.500 Patienten in der GKV einen Zusatznutzen. Allein in der TK haben wir jedoch schon fast so viele Patienten, die mit diesem Medikament behandelt werden. Demnach wird es auch für Patientengruppen verordnet, bei denen der G-BA keinen Zusatznutzen feststellen konnte. Um ein ernstzunehmendes Seite 1 von 4 Statement Dr. Jens Baas, Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse, zur Vorstellung des Innovationsreports 2015 am 9. September 2015 in Berlin ___________________________________________________________________________ Gegengewicht zum Pharmamarketing bilden zu können, müssen die Ergebnisse des AMNOGProzesses verbindlich in die medizinischen Leitlinien implementiert werden. Wir sehen außerdem immer mehr Schlupflöcher im AMNOG. Von den 20 Präparaten wurden lediglich zwölf vollständig bewertet, da für die übrigen entweder das zu erwartende Verordnungsvolumen zu gering war, die Präparate nicht zu Lasten der GKV erstattungsfähig sind oder es sich um Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen handelt. Wenn das AMNOG endlich in der Arztpraxis ankommen und eine echte Entscheidungshilfe sein soll, müssen ausnahmslos alle neuen Arzneimittel auf ihren patientenrelevanten Zusatznutzen bewertet werden. Ein weiteres Ergebnis unseres Innovationsreports ist, dass die Innovationen auf die falschen Bereiche fokussieren. Forschung findet erkennbar nicht dort statt, wo sie benötigt wird. Statt neuer Antibiotika stehen hauptsächlich Indikationsgebiete im Fokus, bei denen die Pharmaindustrie die größte Rendite erwartet. Von den 20 neuen Präparaten des Jahres 2012 sind fünf zur Behandlung von seltenen Erkrankungen zugelassen und neun gegen Krebs. Was zunächst wie ein positiver Trend aussieht, wird durch die extrem hohen Preise für diese Medikamente in den Schatten gestellt. Außerdem bedeutet die vermehrte Zulassung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen nicht automatisch, dass es nun deutlich mehr Therapiemöglichkeiten für Menschen gibt, die ein seltenes angeborenes Leiden haben. Es liegt vielmehr im Interesse der Industrie große Volkskrankheiten so umzudefinieren, dass Patientengruppen auf das Maß von seltenen Erkrankungen verkleinert werden. Dies sichert ihnen einen relativ raschen Durchlauf durch das AMNOG-Verfahren und per Gesetz einen Zusatznutzen. Vier Medikamente sind zur Therapie von Volkskrankheiten indiziert (COPD, Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2 und Hormontherapie bei Wechseljahrbeschwerden), die über eine hohe Zahl an Betroffenen große Umsätze erzielen können. In der Bewertung sind diese Präparate alle durchgefallen. Nicht nur qualitativ, sondern auch ökonomisch bleibt die frühe Nutzenbewertung im Rahmen des AMNOG weit hinter den Erwartungen zurück. Das Ziel waren Einsparungen in Höhe von zwei Milliarden Euro pro Jahr. 2014 haben wir gerade einmal 320 Millionen erreicht. Die wirtschaftliche Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherungen ist also auf einem homöopathischen Niveau. Dabei sind viel größere Einsparungen möglich, wenn das AMNOG als viel zitiertes "lernendes System" konsequent weiterentwickelt wird. Zudem müssten einige Systemfehler im AMNOG ausgebessert werden. Seite 2 von 4 Statement Dr. Jens Baas, Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse, zur Vorstellung des Innovationsreports 2015 am 9. September 2015 in Berlin ___________________________________________________________________________ Aus fachlicher Sicht ist es sinnvoll, dass der verhandelte Erstattungsbetrag rückwirkend ab dem Tag der Markteinführung gilt und nicht erst ab dem zweiten Jahr. Entweder hat ein neuer Wirkstoff einen Zusatznutzen für die Patienten oder nicht. Karenzzeiten für "Mondpreise" von Präparaten ohne Zusatznutzen müssen also entfallen. In den Preisverhandlungen sollten die tatsächlichen Kosten für die Vergleichstherapie herangezogen werden. Wenn ein Präparat keinen Zusatznutzen aufweist und die zweckmäßige Vergleichstherapie bereits generisch ist, werden die Generikarabattverträge der Kassen bei der Preisfestlegung bislang nicht berücksichtigt. Die Klagen der Industrie über die Höhe der Erstattungsbeiträge sind demnach überzogen, denn der eigentliche Preis der Vergleichstherapie ist aufgrund der geheimen Rabatte viel niedriger. Wir schätzen, dass die Berücksichtigung der tatsächlichen Preise zu zusätzlichen Einsparungen von 6 Prozent im Jahr führen würden. Es ist außerdem sinnvoll, dass der zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem pharmazeutischen Unternehmer ausgehandelte Erstattungsbetrag zumindest in Teilen geheim ist. Öffentliche Preise setzen den Unternehmer aufgrund der besonderen Rolle des deutschen Marktes (Referenzpreisland) zusätzlich unter Druck. Durch geheime Preisnachlässe könnten die gesetzlichen Krankenkassen höhere Rabatte aushandeln, weil die Industrie damit nicht mehr automatisch in vielen anderen Märkten Abschläge hinnehmen müsste. Trotz der frühen Nutzenbewertung können Arzneimittel ohne Zusatznutzen einen hohen Preis erzielen, wenn die zweckmäßige Vergleichstherapie ebenfalls hochpreisig ist. Das AMNOG bietet daher keinen wirklichen Schutz vor Nachahmerpräparaten ("Me-Too"). Ähnlich wie bei Operationen sehen wir zudem auch im Verordnungsverhalten der Ärzte deutliche regionale Unterschiede. Dies betrifft auch Präparate ohne Zusatznutzen und ist in den meisten Fällen fachlich nicht zu begründen. Daher sollten Wege gefunden werden, ineffiziente und somit falsche Behandlungen mit Arzneimitteln in der gesamten Republik zu reduzieren. Der Innovationsreport kann an dieser Stelle einen Beitrag leisten. Verbesserungsbedarf gibt es auch bei der Zulassung von neuen Krebsmedikamenten. Hier werden neue Wirkstoffe immer häufiger nach beschleunigten Zulassungsverfahren auf den Markt gebracht. Die Anforderungen an die Erkenntnisse zu Wirksamkeit und Sicherheit werden Seite 3 von 4 Statement Dr. Jens Baas, Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse, zur Vorstellung des Innovationsreports 2015 am 9. September 2015 in Berlin ___________________________________________________________________________ dadurch geringer. Patienten und Ärzte erwarten, leider meist zu Unrecht, einen großen therapeutischen Fortschritt. Mit diesem Report haben wir nun in den vergangenen Jahren insgesamt 62 Präparate bewertet. Lediglich zehn erhielten die "Höchstnote", also eine grüne Ampel in der Gesamtbewertung. Seit Einführung haben alle bewerteten Arzneimittel den gesetzlichen Krankenkassen bis heute schon knapp 5 Mrd. Euro gekostet. 1,77 Mrd. Euro wurden allein für die Präparate mit geringem Innovationsgrad (rote Ampel) ausgegeben. Der Innovationsreport zeigt, dass die Arzneimittel im untersuchten Jahrgang qualitativ schlechter, aber auch weniger kostenintensiv sind. Er zeigt auch die Notwendigkeit weitere Korrekturen am AMNOG vorzunehmen und er appelliert an die pharmazeutischen Hersteller, sich stärker ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen. Nämlich weniger auf die größtmöglichen Gewinne zu schielen und dafür stärker in die Forschung zu investieren, damit hochwertige Arzneimittel in den Bereichen zur Verfügung stehen, in denen sie gebraucht werden. Seite 4 von 4
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