Manuskript radioWissen SENDUNG: 23.10.2015 AUFNAHME STUDIO: TITEL: Nudging Eine neue Form der Manipulation? AUTOR/IN: Jenny von Sperber REDAKTION Nicole Ruchlak REGIE: PERSONEN: Erzählerin 1 männlicher Overvoice Prof. Gerd Gigerenzer: Psychologe, Direktor der Abteilung „Adaptives Verhalten und Kognition“ und Direktor des Harding-Zentrum für Risikokompetenz, beide am MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung in Berlin Prof. Hans Michael Heinig: Öffentliches Recht, insb. Kirchen- und Staatskirchenrecht, Universität Göttingen und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD Prof. Cass Sunstein: Rechtswissenschaftler, Robert Walmsley University Professor Harvard Universität (keynote lecture Verfassungsblog) Besondere Anmerkungen: Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 Kennen Sie diese neuen Autobahnschilder? Da ist eine junge Familie im Auto drauf / „Einer drängelt 3 sterben“ / kein Drängelverbot, kein neues Gesetz, kein Tempolimit / nur ein Bild mit Hinweis, der einen subtil vom Drängeln abbringen soll / eher auf der emotionalen Schiene und freiwillig / Verhaltensforscher sagen, dass solche Methoden sehr erfolgreich sein können / sich den nicht-rationalen sondern emotionalen Teil der menschlichen Entscheidungsfindung zu Nutze zu machen / nennt man Nudging (=Anstupsen) / macht sich jetzt auch die Politik zu eigen / das hat eine Debatte ausgelöst: Ist Nudging nur ein harmloser Stups, besser zu handeln, oder ist es Manipulation der Bürger? SPRECHERIN: Angefangen hat die Debatte wohl mit der Fliege im Klo. Es geht natürlich auch um die Intelligenz des Menschen, um Freiheit und um die Rolle des Staates. Aber auf den Punkt gebracht ist es doch die Fliege im Klo, denn sie soll uns strenge Verbote und Vorschriften ersparen. Und wer mag schon Verbote? Die Fliege funktioniert folgendermaßen: Am Flughafen Schiphol in Amsterdam ließ die Sauberkeit in den Herrentoiletten zu wünschen übrig. Anstatt strenge Schilder aufzuhängen, die zur sauberen Nutzung mahnten, klebten die Betreiber in die Pissoirs einen Aufkleber mit einer Fliege. Sie wollten damit zum Zielschießen ermuntern. Und siehe da: die Verschmutzung der Toiletten sei anschließend um 80% gesunken. Geräusch: ERFOLGSTUSCH SPRECHERIN: Verhaltensökonomen in den USA und Deutschland sehen in diesem kleinen Psychotrick viel Potential. Sie sind überzeugt: Menschen handeln oft spontan, ___________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 aus dem Bauch heraus, anstatt nüchtern und überlegt. Und genau da müsse man ansetzen. Dabei kann man nicht nur den Spieltrieb nutzen, um Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie sich Menschen sachte in die richtige Richtung stupsen lassen. „Nudging“ nennen das die Experten - "stupsen". Cass Sunstein von der Harvard-Universität hat sozusagen die Bibel des Nudgings geschrieben. Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, dass Menschen ihre Entscheidungen nicht immer rational treffen. 1. Zuspielung 35.58 – MENSCHEN FEHLEINSCHÄTZUNGEN It would not be right to say, people are irrational. They are human….sometimes blunder in the sense that we often focus on short term…80% of people think, they are a safer than average driver, 94% of college teacher think, they are better than average… SUNSTEIN-Overvoice: „Ich würde nicht sagen, dass Menschen irrational sind. Sie sind eben menschlich. Deshalb machen sie manchmal grobe Fehler in ihren Entscheidungen. So wiegen kurzfristige Folgen in unseren Entscheidungen oft schwerer als langfristige Folgen. Auch die Selbsteinschätzung ist häufig falsch: 80% alle Autofahrer glauben, sie fahren besser als der Durchschnitt. Und 94% aller Dozenten glauben, ihr Unterricht sei besser als der Durchschnitt.“ SPRECHERIN Diese typisch menschlichen Fehleinschätzungen auszubügeln, ohne dass die Menschen es selbst bemerken, bezeichnet man als Nudging. Anstupsen statt Vorschreiben. So kann man zum Beispiel Schulkinder dazu bringen, sich besser zu ernähren, indem man in ihrer Kantine Obst und Gemüse attraktiver platziert und hübscher beleuchtet als die Süßigkeiten. Das schadet sicher Niemandem und ist angenehmer als ein Schokoladenverbot. ___________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 4 Geräusch: ERFOLGSTUSCH SPRECHERIN: Auch die Politik will sich jetzt das Nudging zu Nutze machen. Obama hat damit angefangen. Ebenso die Briten: Sie haben bereits eine „Nudge-Unit“ mit 40 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Auch die Bundesregierung hat 2014 drei Verhaltensökonomen eingestellt, die in einer Projektgruppe namens „Wirksam Regieren“ neue politische Maßnahmen testen. Unauffällige Stupser in eine bestimmte Richtung – manche nennen das schlicht Manipulation: Und das gibt es in Werbung und Marketing schon lange. Aber neu ist, dass eine fundierte verhaltensökonomische Forschung dahinter steht und die Politik diese Methode gezielt einsetzt. Cass Sunstein findet das geschickt. 2. Zuspielung– GEGEN NUDGING SEIN GEHT GAR NICHT It is pointless to object to choice of architecture and nudging as such. The private sector does, government does. And to object to those 2 enterprises is like objecting to water if you are a fish. SUNSTEIN-Overvoice „Es ist sinnlos, gegen Nudging als solches zu sein. Also gegen eine Architektur der Entscheidungsfindung. Der private Sektor nutzt Nudging. Der Staat auch. Und gegen diese beiden Unternehmen zu sein wäre ja, als sei ein Fisch gegen Wasser als solches.“ SPRECHERIN: ___________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 Kritiker in Deutschland sehen das anders. Wie etwa Gerd Gigerenzer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Er findet: Wir brauchen keinen Staat, der für uns entscheidet, was gut oder gefährlich ist. 3. Zuspielung (10.24) GIGERENZER, RISIKOKOMPETENTE MENSCHEN Was wir wirklich brauchen sind risikokompetente Menschen. Und das sind Menschen, die informiert sind. Die auch moralisch Verantwortung übernehmen und sich da entscheiden. Das kann man sicher nicht bei jedem erreichen, aber da kann man noch viel viel tun. SPRECHERIN D.h., der Staat sollte offen an unsere Vernunft und an unser Verantwortungsgefühl appellieren und nicht versuchen, die Bürger zu manipulieren. Gerd Gigerenzer glaubt an die menschliche Lernfähigkeit. 4. Zuspielung: (3.25) GIGERENZER LÖSUNG Vor 200 Jahren etwa, haben viele gedacht, wir können nie jedem Lesen und Schreiben beibringen. Das haben wir geschafft. Und wie? indem wir in der Schule anfangen. Heute gibt es viele Verhaltensökonomen, die der Meinung sind, Menschen können nie risikokompetent werden. Wie wärs, wenn man in der Schule schon anfängt damit? (Wenn man jungen Menschen schon beibringt, mit Gesundheit umzugehen? Mit Geld umzugehen? Mit digitalen Medien umzugehen? Statt sich durch sie kontrollieren zu lassen. Das könnten wir schaffen.) SPRECHERIN Die Forscher des Max-Planck-Institutes haben damit bereits angefangen. Sie haben Kindern vor Augen geführt, wie sie durch Werbung dazu verführt werden, ungesunde Nahrungsmittel zu konsumieren. Dass, wie Gerd Gigerenzer beobachten konnte, den Kindern das Entlarven der Tricks auch noch Spaß bereitet, ist ein hübscher Nebeneffekt. ___________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Zuspielung Heinig Kritik Grundrechte Wir haben eine Fülle von Schutzinstrumenten, wenn der Staat Menschen dazu zwingt irgendwas zu tun oder zu unterlassen, wenn der Gesetzgeber irgendwas entsprechendes entscheidet, da haben wir Grundrechte, die schützen den Einzelnen in seiner privaten Freiheit. (x) Und wie ist das jetzt beim Nudging? Das ist in der Tat ein großes Problem, dass im Hintergrund zu viel Manipulation lauert und deswegen gibt es auch berechtigte Rückfragen, ob Nudging wirklich so attraktiv ist, wie die Ministerialapparatur sich das im Moment vorstellt. SPRECHERIN Der rechtliche Rahmen sei also noch überhaupt nicht geklärt: Wie tief greift der Staat durch Nudging in unsere Freiheit ein? ((Haben wir nicht auch ein Recht auf die Freiheit, uns ungesund zu ernähren - ein Recht auf freie Entscheidung, und sei sie noch so kurzsichtig?)) Und: Wer entscheidet denn, in welche Richtung der Stupser erfolgen sollte und was die „richtige“ Richtung ist? Denn ein Instrument wie Nudging kann, wenn es machtvoll eingesetzt wird, natürlich auch missbraucht werden. Und selbst wenn es wirklich nur für Ziele eingesetzt wird, die uns letztendlich allen nützen: Hans Michael Heinig bleibt vorsichtig: 6. Zuspielung Kritik Folgen ___________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Zuspielung Heinig Kritik: Rechtfertigung Entgegen der Behauptung der Leute die Nudging propagieren, meine ich, rechtlich betrachtet, aus einer liberalen Perspektive betrachtet, ist ein Nudge Verhaltensmanipulation und bedarf deshalb der Rechtfertigung. (Und wenn es nur im Eigeninteresse des Betroffenen ist, bedarf es besondern hoher Rechtfertigung, wenn wir meinen wir müssten den Einzelnen dauernd vor sich selbst schützen.) SPRECHERIN Wie Nudging rechtlich einzubetten ist, muss in jedem Land einzeln verhandelt werden. Die USA, woher diese Methode stammt, beschäftigen sich schon etwas länger damit. Die meisten Amerikaner legen aller größten Wert darauf, von staatlichen Richtlinien verschont zu bleiben. Auch deshalb haben ihre Vorfahren schließlich das alte Europa verlassen. Viele wollen frei entscheiden können, ob sie sich eine Waffe anschaffen oder nicht – selbst wenn sie nie eine Waffe tragen; sie wollen nicht dazu verpflichtet sein, eine Krankenversicherung abzuschließen – selbst wenn es gut wäre, eine zu haben. Besonders die Republikaner wollen sich vom Staat nicht ins Handwerk pfuschen lassen – und seien die Ziele auch noch so nobel. 8. Zuspielung HEINIG – USA, POLITISCHES UMFELD ___________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Zuspielung GIGERENZER USA BILDUNG In den USA sind viele Menschen mit dem Bildungssystem unzufrieden und es gibt viel zu viele, die nicht lesen und schreiben können. Man hat Probleme mit Fettleibigkeit und aller Art. Die Regierung weiß nicht so richtig, was sie machen soll. Und dieses Nudging ist sozusagen ein Versuch ohne Regulierung, ohne Gesetze und auch ohne Anreize die Menschen zu besserem Verhalten zu bringen. SPRECHERIN Wir müssen uns also gut überlegen, wo staatliches Nudging bei uns in Deutschland ethisch vertretbar ist und wo es überhaupt nötig ist. Die Fliege im Klo hatte in Amerika übrigens nur mäßigen Erfolg. Besser funktionierte etwas Anderes in den Pissoirs einer Universität: das Logo der Konkurrenz-Uni. Geräusch ERFOLGSTUSCH ___________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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