1 Manuskript radioWissen SENDUNG: 06.07.2015 9.05 Uhr AUFNAHME: STUDIO: Geschichte Ab 8. Schuljahr TITEL: Völkermord in "Deutsch-Südwestafrika" Namibias tiefe Wunden AUTOR: Matthias Hennies REDAKTION: Nicole Ruchlak REGIE: Martin Trauner PERSONEN: Sprecher: Andreas Neumann Overvoice (männlich): Carsten Fabian Overvoice (weiblich): Yvonne Hummel Musik, Atmo, Zuspielungen (O-Töne) Besondere Anmerkungen: ED 16.11.2012 ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 1. O-TON Kemandeo This tree, it was the hanging tree of the german Truppe… An diesem Baum erhängten die deutschen Truppen Herero-Krieger, die sie drüben an der Wasserstelle von Otjihenda gefangen genommen hatten. Wer sich ergeben wollte, weil er kurz vorm Verdursten stand, dem sagten sie: Keine Verhandlungen. Ihr habt nichts mehr, keine Rinder, kein Land, nichts. Und sie brachten ihn zu diesem Baum. ...no land, no cattle, nothing and just brought you to this tree. MUSIK: C112693 012 (00‘33‘‘) SPRECHER Die Sonne brennt vom Himmel, der Boden ist ausgedörrt, jeder Schritt wirbelt Staubschwaden auf. Kapehi Kemandeo <Kápehi Kemándo> , ein Farmer aus dem Örtchen Okakarara, steht an einem knorrigen, alten Baum in der Savanne OstNamibias. Er zeigt hier Orte, an denen vor gut hundert Jahren der Kolonialkrieg tobte. Die Erinnerung daran darf nicht untergehen, sagt er, denn sein Volk, die Herero, wäre im Sommer 1904 beinahe ausgelöscht worden – durch deutsche Soldaten, die Truppen der damaligen Kolonie "Deutsch-Südwestafrika". MUSIK ENDE SPRECHER Tiefe Spuren hat die Kolonialzeit in Namibia, dem kleinen Land an der Atlantikküste zwischen Südafrika und Angola, hinterlassen: Ein kollektives Trauma in der Erinnerung einheimischer Völker – und im Alltagsleben erstaunlich viele Elemente deutscher Kultur. ATMO 2 Fahrt mit deutschem Radio "Jingle. Sprecherin: Beim Duschen, beim Autofahren oder beim gemütlichen Abendessen: Radio gehört gehört…" ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 2. O-TON Schelkle Alle Fassaden sind noch so, wie sie 1909 mal gebaut wurden. Das Orangefarbene, das war das erste Fotoatelier von Fräulein Hoch, der kleine Laden da vorn war so’n Geschenkeladen. SPRECHER Geschwungene Giebel, Fachwerk-Imitat und Ornamente im Jugendstil: In Lüderitz, am Südlichen Wendekreis, sehen die Häuser aus wie in einer deutschen Kleinstadt. Nur die Farben sind kräftiger. Und in den Rinnsteinen und Hauseingängen sammelt sich der graue Sand, angeweht vom ewigen, eisigen Wind der Wüste. ATMO 2 Fahrt mit Radio: "Sprecher: Unser Sendegebiet erstreckt sich durch ganz Namibia…" 3. O-TON Schelkle Dann haben wir das Gebäude mit den Säulen, das war der Bäcker Becker. Ein Großonkel von mir, der hat das dann als seine Anwaltskanzlei gebraucht. Ganz unten sehen wir, wo Barrels drüber steht und heute die Jägermeisterfahne weht, das war ganz früher ein Gemüsegroßmarkt. SPRECHER Marion Schelkle ist in Lüderitz geboren und führt hier ein Touristik-Unternehmen. Sie gehört zu der kleinen Minderheit der Namibier, die von deutschen Siedlern abstammen und heute noch etwa 1% der Bevölkerung ausmachen. SPRECHER Vom Balkon einer alten Jugendstil-Villa aus, hoch über Häusern und Hafen, deutet Marion Schelkle hinaus aufs Meer. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber mindestens die Hälfte der Menschen aus den Völkern der Nama und der Herero, die aus dem heißen Landesinneren auf die HaifischInsel verschleppt wurden, ging dort während des Krieges zugrunde - eines Krieges um karge Böden und die darauf grasenden Rinderherden, die den Afrikanern gehörten. Das deutsche Reich hatte sich zu spät am "Wettlauf nach Afrika" beteiligt, in dem die imperialistischen Großmächte Ende des 19. Jahrhunderts den Kontinent unter sich aufteilten. Daher konnte es für sich keine reicheren Gebiete mehr ergattern. 5. O-TON Kößler Zunächst mal handelt es sich ja um ein Stück Land, das keiner wollte. Trocken, unzugänglich und für die, die da ankamen, sehr enttäuschend, keine Palmenhaine, sondern Wüste, wenig attraktiv. Auf der anderen Seite muss man das aus der Perspektive der deutschen Nationalbewegung sehen im 19. Jahrhundert, die eigentlich konsistent diese koloniale Perspektive im Auge hatte. SPRECHER Millionen Deutsche suchten im 19. Jahrhundert ein besseres und freieres Leben in Amerika, erzählt Professor Reinhart Kößler, Kolonialismus-Forscher am ArnoldBergsträsser-Institut der Universität Freiburg. In den Augen der Nationalisten waren diese Auswanderer verloren, weil sie nichts zur Stärkung Deutschlands beitrugen. Die Nationalisten wollten den Auswanderer-Strom auf deutsches Gebiet umleiten und ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 setzten den zögernden Reichskanzler Bismarck unter Druck. 1884 ließ Kaiser Wilhelm schließlich in dem kargen Land zwischen dem portugiesischen Angola und den Burenstaaten die Kolonie "Südwestafrika" gründen - von Rohstoffvorkommen Namibias wie Diamanten und Öl wusste man damals noch nichts. Die Einwanderer sahen sich meist als Farmer. Sie hofften wohl auf den Landbesitz, der für sie in der hierarchisierten Klassengesellschaft des wilhelminischen Deutschland unerreichbar war. Die Politik der Kolonialregierung zielte dann auch darauf ab – 6. O-TON Kößler 54-492, 12’10 Dass die Afrikaner das Land verlieren und dann als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Und natürlich auch ihre großen Viehherden den Besitzer wechseln. MUSIK: C112693 012 (00‘35‘‘) SPRECHER Gezielt spielte die deutsche Kolonialverwaltung rivalisierende Völker wie Herero und Nama gegeneinander aus, betrügerische Händler pressten verschuldeten Hereroführern große Landflächen ab und deutsche Siedler, die sich als Vertreter einer Herrenrasse fühlten, vergriffen sich an einheimischen Frauen. Im Januar 1904 erhoben sich die Herero zum Aufstand. Die Erinnerung an Helden und Opfer dieses Krieges gegen die hochgerüsteten deutschen Truppen wird von den Herero heute sorgsam gepflegt - während vorwiegend weiße Historiker die schriftlichen Quellen ausgewertet haben, halten sie nun die Erzählungen der letzten lebenden Zeitzeugen fest. ATMO 3 Schritte im Sand, Dialog auf Otjiherero SPRECHER Kapehi Kemandeo schreibt die Geschichten auf, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, und hält die Orte fest, an denen die Kämpfe stattfanden. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 7. O-TON Kemandeo We see here a big natural waterpan which we call Otjihenda… Vor uns liegt ein großes natürliches Wasserreservoir, das wir Otjihenda nennen. Es ist eine der Lebensadern für uns hier, seit vielen Jahren. Heute sammelt sich darin nur das Regenwasser, aber früher hatten die Herero eine unterirdische Wasserader hineingeleitet, so dass es das ganze Jahr über Wasser führte. ... to last through all the year. ATMO 1 Wasserloch SPRECHER Zwischen Bäumen und Dornbüschen liegt ein kleiner See. Morgens haben Rinder und Ziegen die matschigen Ufer zertreten, jetzt drängen sie sich im Schatten der Akazien. Nur das Summen der Insekten ist in der Mittagshitze zu hören. An diesem Wasserloch kämpfte der größte Teil des Herero-Volkes um sein Überleben. Die deutsche Armee, verharmlosend „Schutztruppe“ genannt, hatte die Herero einige Tage zuvor in der „Schlacht am Waterberg“ beinahe eingekesselt. Nur ein Fluchtweg war ihnen geblieben: Nach Osten, in die Omaheke, eine menschenfeindliche Sandwüste. Das Reservoir von Otjihenda war für Krieger und Alte, Frauen, Kinder und Vieh die letzte große Wasserstelle – aber deutsche Soldaten hatten sie schon besetzt. 8. O-TON Kemandeo They were shot shot shot, but then they decided … Die Deutschen schossen, schossen, schossen. Und dann beschlossen die Kämpfer der Herero, einen Teil ihrer Rinderherden zwischen den deutschen Soldaten hindurchzujagen. Sie versteckten sich zwischen den Tieren, beschossen die Deutschen von da aus und kämpften und kämpften und am Ende eroberten sie die Wasserstelle. … they fight and they fight and they take over the waterpoint. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Ein Häuflein Herero schaffte es ins angrenzende britische Betschuanaland, das heutige Botswana. Den skrupellosen von Trotha trieb nicht nur der Wunsch nach einem militärischen Erfolg, erläutert der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer: 9. O-TON Zimmerer Gleichzeitig besitzt er die Vorstellung eines Rassenkrieges zwischen der weißen und der schwarzen Rasse, bei der es nur eine überlebende Gruppe geben würde. SPRECHER Berüchtigt ist Von Trothas Proklamation vom Oktober 1904, als der Krieg längst entschieden war: ZITATOR Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Und dazu gehört also Tötung von Mitgliedern der Gruppe, Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden und eben, ich zitiere aus der UN-Konvention: „Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen.“ Und das ist zum einen in den Konzentrationslagern der Fall gewesen und zum anderen in der Omaheke-Wüste. SPRECHER Überlebende Herero sperrte man in Lagern auf der Haifischinsel bei Lüderitz oder beim Städtchen Svakopmund ein. Auch Männer, Frauen und Kinder aus dem Volk der Nama, das im Süden des Landes ebenfalls einen Aufstand begonnen hatte, schaffte man dorthin. Danach konnte ihr Land unter den Siedlern verteilt werden. Obwohl der „namibische Krieg“ mittlerweile gut erforscht ist, bleibt die genaue Zahl der Opfer unklar. Herero-Vertreter sprechen von bis zu 85.000 Toten, 85% ihres Volkes, in vorsichtigen Schätzungen rechnen Historiker mit 65.000 getöteten Herero. Kaum umstritten ist, dass die Nama rund 10.000 Menschen verloren, etwa die Hälfte ihres Volkes. Auf deutscher Seite starben cirka 1.400 Menschen. SPRECHER In der deutschen Bevölkerung ist der gesamte Namibische Krieg weithin vergessen. Die Nachkommen der Opfer, vor allem die Herero, empfinden den Völkermord jedoch als eine offene Wunde, einen traumatischen Einschnitt in ihrer Geschichte, der noch längst nicht aufgearbeitet ist. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 9 11. O-TON Muinjangue For us, it is not only to reflect and to remember… Wir wollen nicht nur an die Vergangenheit erinnern. Letztlich geht es uns darum, dass die deutsche Regierung sich offiziell für die Verbrechen entschuldigt. Und erklärt, welche Entschädigung sie dafür leisten will. ... and then says how they will repay for the damages. SPRECHER Nach den Bestimmungen der Vereinten Nationen muss bei einem Völkermord eine Entschädigung gezahlt werden, erklärt Ester Muinjangue <Muunjángue> vom Ovaherero Genocide Committee, dem Völkermord-Komitee der Herero. Doch die Bundesregierung, Rechtsnachfolgerin der Reichsregierung, weigert sich, diese Sichtweise anzuerkennen. So war es zuletzt wieder im September 2011, als eine offizielle Delegation aus Namibia in Berlin zu Gast war. Den Afrikanern wurden 20 Schädel ermordeter Herero und Nama zurückgegeben, die nach dem Kolonialkrieg als Forschungsobjekte an die Charité nach Berlin gebracht worden waren. Bei der Übergabe erklärte Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt: 12. O-TON Pieper Ich möchte ganz persönlich mein Bedauern und meine tiefe Scham für das, was Ihren Vorfahren zugefügt wurde, zum Ausdruck bringen. (Zwischenrufe) SPRECHER Den anwesenden Namibiern reichte diese Formulierung nicht. Sie forderten erneut eine formelle Entschuldigung für die Verbrechen der Kolonialtruppen, doch Pieper sagte stattdessen: 13. O-TON Pieper Ich bitte im Namen der Bundesregierung das ganze namibische Volk um Versöhnung. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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O-TON Muinjangue They inherited these farms from their ancestors... Sie haben diese Farmen von ihren Vorfahren geerbt – und wo haben ihre Vorfahren sie her? Sie sind nicht mit dem Land und den Rindern aus Deutschland gekommen. Das alles haben sie unseren Leuten weggenommen. ... these things were gripped from our people! MUSIK: C112693 019 (00‘40‘‘) SPRECHER Die deutsche Kolonialherrschaft endete 1915, nach 31 Jahren. Im Zuge des Ersten Weltkriegs übernahm Südafrika faktisch die Herrschaft und regierte Namibia, bis das Land 1990 nach einem blutigen Bürgerkrieg unabhängig wurde. Dass die südafrikanische Regierung auch hier die Apartheid durchsetzte, vertiefte die Spaltung der Gesellschaft, doch der entscheidende Einschnitt war die deutsche Kolonialherrschaft. Die Folgen kann man auch erkennen, wenn man durch die Hauptstadt Windhoek fährt. ATMO 4 Fahrt in Windhoek ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 11 15. O-TON Abe: Let me draw your attention to those gentlemen on the streetcorner… Sehen Sie diese Männer an der Straßenecke? Morgens um 4 Uhr brechen sie in den „informellen Siedlungen“ auf, um hierher zu kommen. Sie können nicht lesen und schreiben, sprechen weder Englisch noch Afrikaans. Und sie suchen Arbeit. ... they are our job seekers. ATMO 4 Fahrt in Windhoek Karte IX-6-510, 4’15 unterlegen SPRECHER Große, junge Männer warten an den Kreuzungen, dass ihnen jemand Arbeit gibt, wenigstens für einen Tag, erzählt Abe Karongee <Éybi Karongíi>, der bei Führungen in Windhoek über soziale Probleme des Landes aufklärt. Die Arbeitslosenrate Namibias liegt bei 51%, auf dem Land ist sie oft höher. Also ziehen die Menschen in die Städte und bauen sich Hütten aus Wellblech und Brettern im Umland. 16. O-TON Abe This area is called „informal settlement“, in the sense... Dieses Viertel nennen wir eine „informelle Siedlung“, weil sie nicht die übliche Versorgung hat: In den Häusern gibt es kein fließend Wasser und keinen Strom. Die Leute siedeln sich anfangs illegal hier an, später schließen sie sich zu Gruppen zusammen und kaufen von der Gemeinde ein kleines Stück Land. ... negotiate a small piece of land from the municipality. ATMO 5 Fahrt Windhoek, am Ende Hundegebell MUSIK: C112693 007 (00‘45‘‘) ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 12 SPRECHER Von "Slums" zu sprechen, wäre irreführend: Das wild gewachsene Viertel wirkt erstaunlich geordnet, mit improvisierten Zäunen und mehreren Metern Abstand zwischen den Hütten. Rund ein Drittel der namibischen Bevölkerung lebt heute in „informellen Siedlungen“, schätzen Forscher der Universität Windhoek. Doch sie sehen das größte Problem des Landes nicht in der Armut, sondern in der extremen Kluft zwischen Arm und Reich: Nirgendwo sonst auf der Welt ist der Besitz so ungleich verteilt wie in Namibia. Und eine wesentliche Ursache dafür liegt in der Kolonialzeit. Phanuel Kaapama <F'änjuel Kaapáma>, Politologe an der Universität Windhoek: 17. O-TON Kaapama Through the process of colonialism most of the indigenous… Im Zuge des Kolonialismus haben die meisten afrikanischen Gemeinschaften ihren Landbesitz verloren. Die Land-Frage ist heute der Schlüssel, denn viele Leute meinen, dass noch keine Gerechtigkeit erreicht worden ist. ...that justice has not been done yet. SPRECHER Als Namibia 1990 unabhängig wurde, hat die Regierung ein Umsiedlungsprogramm beschlossen - ein Projekt, das lange benachteiligten schwarzen Landarbeitern eigenen Grund und Boden verschaffen sollte. Die Regierung enteignet dafür niemanden, sondern verteilt nur Land von Farmern , die sich freiwillig zum Verkauf entschließen. Diese Eigentumsgarantie war Teil des „paktierten Übergangs“, der Absprachen bei der Machtübergabe an die schwarzafrikanische Bevölkerungsmehrheit. Sie sollten verhindern, dass die Weißen massenhaft ausreisten wie etwa Ende der siebziger Jahre im nördlichen Nachbarland Angola, wo dann Fachkräfte fehlten. Auch der katastrophale Niedergang des östlichen Nachbarn Zimbabwe, nicht zuletzt eine Folge der aggressiven Kampagnen gegen weiße Farmer, soll sich im friedlichen Namibia nicht wiederholen. Aber Kaapama übt Kritik an der Umsetzung des Projekts: ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Der Sozialwissenschaftler Volker Winterfeldt, Professor an der Universtität Namibias in Windhoek, sieht darin eine logische Folge von Kolonialismus und Apartheidsregime: 19. O-TON Winterfeldt Aufgrund der kolonialen Vergangenheit läuft Zugang zu Ressourcen, zu Kapital, zunächst mal über den Staat. Wenn Sie 1 1/4 Jahrhunderte ausgeschlossen gewesen sind von jeglichem Zugang zu Bildung und nennenswerten Arbeitsplätzen, Arbeitsplätzen, die Ihnen ein bestimmtes Einkommen ermöglicht hätten, dann bleibt zunächst mal nichts übrig, als die Kanäle zu nutzen in dem Augenblick, in dem Sie über einen Job beim Staat Zugang zu einem Gehalt haben, dann zu Möglichkeit der Korruption haben und Zugang auch zu Beschäftigungsbereichen haben, die Ihnen ein bestimmtes Einkommen erlauben. SPRECHER Ergebnis ist eine neue schwarze Bourgoisie, eine „Blackoisie“. Reichtum ist in Namibia nicht mehr von der Hautfarbe abhängig, eine Oberschicht wohlhabender Schwarzer entsteht – aber die breite Bevölkerung bleibt nach wie vor vom Wohlstand ausgeschlossen. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 14 20. O-TON Winterfeldt Die Entwicklung seit der Unabhängigkeit geht in die falsche Richtung, sie geht in Richtung einer Verschlimmerung der Situation. Namibia ist kein armes Land, Namibia rangiert irgendwo im Mittelbereich, was Pro-Kopf-Einkommen anbelangt- SPRECHER - aber daran haben nicht alle Namibier teil. Das kann sich nur durch offene soziale Auseinandersetzung ändern, meint Winterfeldt: 21. O-TON Winterfeldt In dem Augenblick, in dem die Perspektive bestünde, dass Armut sich organisieren kann, ist möglicherweise eine Perspektive für Entwickung im Entstehen. MUSIK: C112693 002 (00‘25‘‘) SPRECHER Bisher spielen die, die zu kurz kommen, in der namibischen Politik keine Rolle. Sie haben keine Organisation, kein Sprachrohr, keine Partei. Wenn das so bleibt, könnte sich im friedlichen Namibia ein bedrohliches Konfliktpotential ansammeln, warnt Kaapama: 22. O-TON Kaapama The key question is, for how long will they remain patient? Wie lange werden sie Geduld haben? ENDE ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de
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