Entstehungs-Geschichte

Die Entstehungsgeschichte:
Wenn sich die Kreise schliessen
Ein Blick aus dem Fenster genügte und es war jedem klar: Heute war kein
Tag, um die Bergwelt in Wengen zu geniessen. Der Direktor des Hotels
«Jungfraublick», wusste nur zu gut: Dieser Dauerregen war Wasser auf die
Mühlen der schlechten Laune aller Feriengäste.
Aber ... da hatte ihm doch gestern eine junge Frau von ihrer Arbeit erzählt. Sie
arbeitet, wenn er das richtig verstanden hat, für Leute, die nicht hören und
nicht sehen können. Nein, das hatte er noch nie gehört. Er hatte nicht einmal
gewusst, dass es taubblinde Menschen gibt. Und sie erzählte sehr engagiert,
und ihre Erzählung ging ihm gestern Abend nicht mehr aus dem Kopf. – Ja,
sie will er fragen. Das könnte doch andere Leute auch interessieren.
Und so kam es: Im Aufenthaltsraum des Hotels sassen interessierte Gäste,
vergassen den Regentag und lauschten den Worten von Frau Margrit Meili
(heute M. Widmer-Meili). Sie war Sozialarbeiterin beim Schweizerischen
Zentralverein für das Blindenwesen SZB in St. Gallen und zuständig für die
Taubblindenberatung der italienisch- und deutschsprachigen Schweiz.
Was sie erzählte, weiss ich nicht, aber...
Sie könnte von Menschen erzählt haben, wie dieser volltaubblinden Frau, die
in einem Altersheim lebte und in die Hand geschriebene Buchstaben nur ganz
mühsam zu Worte zusammensetzen konnte. Von Zeit zu Zeit verwechselte sie
Tag und Nacht, da sie keinen Anhaltspunkt mehr fand, um sich zu orientieren.
Was sich abspielte, können wir nur ahnen. Wenn sie mit Hunger erwachte und
ihr Wecker bereits nach 12 Uhr zeigte, musste sie annehmen, man habe vergessen, ihr das Mittagessen aufs Zimmer zu bringen. Sie rief um Hilfe und
klopfte an die Wand. Diese «Hilfe» musste ihr dann irgendwie erklären, dass
es Mitternacht war.
Sie könnte von Menschen erzählt haben, wie dieser geburtstauben Frau, die
nur mit kleinstem Sehrest dank einer starken Brille das Gesprochene von den
Lippen ablesen konnte. Sie lernte das Fingeralphabet - das Lormen - und
konnte sich damit und mit Hilfe ihrer eigenen Sprache gut verständigen. Sie
musste für eine kleine Operation ins Spital. Das Personal war angeleitet, das
Lormschema lag immer bereit auf dem Nachttisch und die Patientin war auf
den ärztlichen Eingriff vorbereitet. Die Operation verlief gut. Einen Tag später:
Das Personal hatte gewechselt und die Brille lag wohl versorgt in der
Schublade. Der Arzt und die Schwestern bemühten sich und sprachen mit ihr.
Voller Aufregung suchte die Frau nach ihrer Brille, sie war nirgends zu finden.
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Man versuchte sie zu beruhigen, sprach auf sie ein. Doch sie verstand nichts
und wurde in der Aufregung nicht verstanden. Sie bekam ihren Mantel und
wurde in einem Auto weg gefahren. Später erzählte diese Frau: «Ich wurde
zunehmend aufgeregter und sprach immer lauter. Die meinten sicher, ich sei
irr geworden. Ich war überzeugt, ins Irrenhaus gebracht zu werden, da ich auf
ihre Fragen gewiss völlig falsche Antworten gegeben habe. Ich habe Todesängste ausgestanden»!
Sie könnte von Menschen erzählt haben, wie jenem voll taubblinden Mann,
der viele Jahre nicht mehr sprach. Er war von Geburt an taub, besuchte die
Gehörlosenschule, erlernte die Sprache und das Sprechen, konnte dann das
Gesprochene von den Lippen der Gesprächspartner ablesen. Als er im Verlaufe seines Lebens immer stärker sehbehindert wurde, zog er in ein Blindenheim. Nach seiner vollständigen Erblindung konnte er wohl sprechen, aber die
Antworten nicht mehr ablesen – für ihn hiess dies: er bekam keine Antworten.
Vielleicht hat er geglaubt, er werde nicht mehr verstanden. Und er verstummte….
Durch viel Zuwendung gewannen wir sein Vertrauen. Mit seinen Fingern
schrieben wir grosse Buchstaben auf den Tisch und als er das erste Mal
A L O I S entziffern konnte, war er ausser sich vor Freu de. Er sprang auf,
tippte mit dem Finger auf seine Brust und sprach:«Alois -ich Alois - ich Alois!»
Von da an lernte er mühsam, aber voller Freude, Buchstabe um Buchstabe,
Worte, ganz kurze Sätze und er fand zu seiner Sprache zurück.
Die ZuhörerInnen staunten. So etwas hatten sie noch nie gehört. «Diese
Schicksale sind ja völlig unbekannt. Das muss doch an die Öffentlichkeit gebracht werden. Diesen Menschen muss man helfen.» Die Leute sprachen miteinander – sie waren zutiefst berührt.
Wie schon oft, haben Menschen interessiert zugehört und waren berührt. Sie
kehrten heim und der Alltag überdeckte ihre Gefühle und damit auch die guten
Ideen.
Nicht so in dieser Geschichte!
Frau Carola Schmidt war fest entschlossen, etwas zu unternehmen. Als Organistin der Heiliggeistkirche Bern organisierte sie im November desselben
Jahres zusammen mit Pfarrer Kupferschmid eine Abendfeier. Sie spielte die
Orgel, der bernische Blindenchor sang. Herr Huber erzählte von der Taubblindenarbeit und diesen so ganz speziellen und isolierten Lebenssituationen.
Die abschliessende Kollekte zur Unterstützung taubblinder Menschen brachte
mehr als 2'000 Franken.
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Ein halbes Jahr später, im Sommer 1968
Wir waren mit sechs taubblinden TeilnehmerInnen in einem Kurs für Gehörlose in Gwatt. Margrit Meili erzählte mir über Mittag diese Geschichte und vom
Geld, das gemäss dem Versprechen direkt taubblinden Menschen zufliessen
sollte. Unsere Idee, einen Verein als Vermittler dieser Spende zu schaffen,
fand bei den aktiven Initianten Anklang. Noch in der gleichen Woche sassen
wir mit Frau Rosmarie Erni-Wiget und Herrn Theo Huber in der kleinen Küche
von Carola Schmidt und ihrer Mitbewohnerin Frau Gfeller. Margrit Meili und ich
erzählten von unserer Arbeit, von unseren Kurserlebnissen in Gwatt und den
so unterschiedlichen TeilnehmerInnen. Die interessierten ZuhörerInnen waren
berührt und schon bald entschlossen, mit einem «Helferkreis» die Taubblindenarbeit des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen SZB
aktiv zu unterstützen. Die völlig isolierte Lebenssituation dieser taubblinden
Menschen soll möglichst weit publik gemacht, aktive BegleiterInnen sollen
gesucht werden und eingegangene Spenden sollen auf Anfrage der SozialarbeiterInnen des SZB direkt den Betroffenen zukommen.
Ein weiterer Gedanke fand regen Zuspruch: Die Taubblindenarbeit des SZB ist
zuständig für das Notwendige und dieser unterstützende Kreis für das „DAZU“,
das Besondere, das Freudebringende.
Ja, es ging rege zu in diesem kleinen Raum. Grundsätze und Ziele wurden erarbeitet, Lösungen erwogen, Punkte für künftige Statuten aufgelistet, der möglche Personenkreis in Gedanken erweitert, ein zeitlicher Rahmen gesteckt,
erste Aktivitäten geplant und Aufgaben aufgeteilt.
Der Gedanke war abgerundet.
Müde und überglücklich kehrten wir spät in der Nacht nach Gwatt zurück.
Die Aufträge wurden erledigt, die Pläne gediehen.
Am 14. Oktober 1968 fand in Bern – in derselben kleinen Küche – die eigentliche Gründungsversammlung statt.
Der Freundeskreis für Taubblinde war geboren!
Ich danke den noch immer Mitwirkenden und den Unterstützenden für ihr
grosses Engagement! Ich wünsche ihnen allen weiterhin ein aktives, positives
Zusammenarbeiten und für all ihr Tun ein gutes Gelingen.
Toni Bargetzi
Meisterschwanden
28. Februar 1998
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