gehört zu Text 7: Urteil 9C_899/2014

User-ID: [email protected], 22.09.2015 16:29:06
Dokument
SZS 2015 S. 385
Autor
Andreas Traub
Titel
Zu den Ausschlussgründen im Rahmen der
Rentenprüfung bei psychosomatischen Leiden
(Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni 2015 E. 2.2)
Urteilsbesprechung
9C_899/2014
Publikation
Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung
und berufliche Vorsorge
Herausgeber
Gabriela Riemer-Kafka, Jean-Louis Duc, Thomas
Gächter, Bettina Kahil-Wolff, Hanspeter Konrad,
Jacques-André Schneider
Frühere Herausgeber
ISSN
0255-9072
Verlag
Stämpfli Verlag AG, Bern
Neues aus den sozialrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts Actualités des
Cours de droit social du TF
Zu den Ausschlussgründen im Rahmen der
Rentenprüfung bei psychosomatischen Leiden (Urteil
9C_492/2014 vom 3. Juni 2015 E. 2.2)
Eine erwerbswirksame Funktionseinbusse kann nur soweit Arbeitsunfähigkeit nach
Art. 6 ATSG sein, als sie überwiegend wahrscheinlich auf eine versicherte
Gesundheitsschädigung zurückgeht. Deren Existenz wiederum folgt aus der ärztlichen
Diagnose, wie sie am Anfang jeder Prüfung von Rentenansprüchen steht. Im Hinblick
auf die Beurteilung einer Arbeitsunfähigkeit durch psychosomatische Leiden erinnert
der zur amtlichen Publikation bestimmte Entscheid 9C_492/2014 in E. 2.2 an (bereits
in BGE131 V 49 erwähnte) Fallumstände, die eine rechtserhebliche
Gesundheitsschädigung ausschliessen können (Aggravation und ähnliche
Konstellationen). Eine solche Situation ist im Wesentlichen dann gegeben, wenn die
Symptomschilderung der versicherten Person in sich schlichtweg nicht nachvollziehbar
ist oder wenn die geklagten Beschwerden eindeutig nicht mit dem (übrigen)
Gesamtverhalten der versicherten Person vereinbar sind. Vorausgesetzt ist freilich, dass
das aggravatorische Verhalten nicht auf eine krankheitswertige psychische Störung
zurückzuführen ist.
Im Urteil 9C_899/2014 vom 29. Juni 2015 hat das Bundesgericht diesen Punkt vertieft
behandelt. Vorweg grenzte es blosse Verdeutlichungstendenzen von der (teilweise oder
ganz) anspruchsausschliessenden Aggravation ab.1 Zum einen ist eine (unbewusste)
Symptomausweitung und -verdeutlichung gerade wesenstypisch für psychosomatische
1
E. 4.2 mit Hinweisen.
Ausdruckseite 2 von 2
Störungen, die ja begriffsnotwendig nicht vollständig mit einer organischen
Beeinträchtigung korrelieren. Zum andern liegt es bei «unklaren Beschwerdebildern»
nahe, dass die versicherte Person versucht ist, das aus ihrer Sicht invalidisierende
Leiden im Abklärungsverfahren besonders nachdrücklich darzustellen. Allein
deswegen kann die weitere Prüfung des Rentenanspruchs nicht abgebrochen werden.
Hingegen liegt ein Ausschlussgrund umso eher vor, je mehr Diskrepanzen darauf
hindeuten, dass das Ausmass dessen eindeutig überschritten ist, was im Fall einer
blossen Verdeutlichung vorkommen mag.
Die Ausschlussgründe beschlagen teilweise die gleichen Gesichtspunkte wie die
(Konsistenz-)Indikatoren, anhand derer (später) die Folgen einer festgestellten
psychosomatischen Störung abgeschätzt werden.2 Massgebend sein kann
beispielsweise der Umstand, dass die versicherte Person über längere Zeit hinweg
geeignete Therapievorschläge abgelehnt oder bei der Behandlung nur mangelhaft
mitgewirkt hat. Ergebnisse von Beschwerdevalidierungstests können ergänzend
herangezogen werden; die betreffenden Tests stossen allerdings, jedenfalls mit Bezug
auf Schmerzleiden, in der Fachwelt auf Skepsis. Im Aktendossier, welches dem
angezeigten Urteil zugrunde lag, fanden sich zahlreiche klare Hinweise auf eine
SZS 2015 S. 385, 386
erhebliche Aggravation. Die einlässlichen Beschreibungen stammten nicht nur vom
Gutachter, sondern auch von den behandelnden Ärzten. Das Bundesgericht hob das
mangelnde Interesse des Versicherten an einer Therapie hervor. Dokumentiert waren
sodann
gravierende
Diskrepanzen
zwischen
seinem
Verhalten
in
Untersuchungssituationen und objektiven Indizien, welche gegen eine annähernd
entsprechende Behinderung im Alltag sprachen (muskulärer Zustand der Extremitäten,
Hinweise auf fehlenden Gebrauch eines Gehstocks etc.). Sodann berichtete der
psychiatrische Teilgutachter von Übertreibungen, pauschalen Antworten und davon,
der Untersuchte habe auf Nachfrage hin fast alle psychischen Symptome
(undifferenziert) bejaht.3 Diese Auffälligkeiten waren eindeutig nicht mehr als blosse
Verdeutlichung aufzufassen. Am Gesamtbild änderte nichts, dass der Beschwerdeführer
mittlerweile sehr zurückgezogen lebte, das psychosoziale Umfeld mithin nicht mehr
intakt war.4 Die (über die nachgewiesenen organischen Einschränkungen hinaus
bestehenden) Befunde waren weitestgehend mit Aggravation zu erklären.5 Somit
verblieb auch kein Raum für eine daneben bestehende selbständige
Gesundheitsschädigung.6
Urteil 9C_899/2014 vom 29. Juni 2015
Andreas Traub
2
Urteil 9C_492/2014 E. 4.
3
Urteil 9C_899/2014 E. 4.3.
4
Vgl. Urteil 9C_492/2014 E. 2.2.1 mit Hinweisen.
5
Urteil 9C_899/2014 E. 4.4.
6
Dazu Urteil 9C_492/2014 E. 2.2.2; BGE127 V 294 E. 5a S. 299.