Ich spreche, also wer bin ich?

Manuskript
radioWissen
SENDUNG: 26.06.2015
9.05 Uhr/B2
AUFNAHME: Mi. 24.06.2015
10:00 - 17:30 Uhr
STUDIO: 6
15S0750
SOZIALKUNDE
Ab 9. Schuljahr
TITEL:
Ich spreche, also wer bin ich?
Wie Sprache unser Denken prägt
AUTOR:
Markus Mähner
REDAKTION:
Gerda Kuhn
REGIE:
Sabine Kienhöfer
TECHNIK:
Andreas Lucke
SPRECHER:
Armin Berger
V-O
Carsten Fabian (PS)
10:00 Uhr
VA 17.06., 11:15, Studio 6
INTERVIEWPARTNER:
Prof. Peter Gordon, Columbia University, New York
Prof. Dietmar Zaefferer, Institut für theoretische Linguistik, LMU München
Zuspielungen
Besondere Anmerkungen: Länge: 10:00
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SPRECHER:
Sprache ist die Grundlage der menschlichen Kommunikation. Mit ihr beschreiben wir die
Phänomene unserer Umwelt und ordnen sie in Kategorien ein. Wir denken zudem auch
ganz automatisch in Worten und Sätzen. Linguisten streiten deswegen schon seit langem
über die Frage, ob unser Denken von unserer Sprache beeinflusst ist und ob Denken
ohne Sprache überhaupt möglich ist.
Dietmar Zaefferer, Professor für theoretische Linguistik an der LMU München, beschäftigt
sich mit dem Aspekt, wie Sprache und Denken zusammenhängen:
Zaefferer 2: (1:21)
Das hängt von dem Denkbegriff ab. Es gibt ja den klassischen Platonischen. Platon sagt
ja: das Denken ist das Sprechen der Seele mit sich selbst. Und wir wissen alle aus
unseren Beobachtungen, dass wir zumindest einen Teil unseres Denkens tatsächlich
sprachlich vollführen. Wenn wir uns fragen: Denke ich grad auf Englisch, auf Spanisch
oder auf Deutsch, dann können wir uns das selbst beantworten. Das ist aber nicht das
ganze Denken. Wenn man diesen Teil des Denkens meint, dann ist natürlich die Frage, ob
das Denken die Sprache beeinflusst, trivialerweise beantwortet: Es beeinflusst sie nicht,
sondern es ist identisch. Wenn ich denke, indem ich Sprache benutze, ohne den Mund
aufzumachen, dann beeinflusst das sich nicht, sondern es ist einfach identisch. (0:50)
Gemeint kann nur sein, dass sprachliches Denken und Sprechen [...] auch das
nichtsprachliche Denken beeinflusst oder nicht. Und da gibt es eine Reihe von offenen
Fragen und interessanten Untersuchungen und es gibt eben auch ne Menge von
Vorurteilen - auch unter Wissenschaftlern. [...]
SPRECHER:
Der Streit unter den Wissenschaftlern ist zwar schon weit über hundert Jahre alt, aber
aktuell wie eh und je. Jährlich erscheinen neue Studien und Theorien zu dieser Frage.
Und so zahlreich diese Studien auch sind, so unterschiedlich sind auch die Aussagen
darüber , wie stark und ob überhaupt Sprache unser Denken beeinflusst.
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Zaefferer 1: (1:10)
Grob der gemeinsame Nenner ist der, dass die Einzelsprache, die man als Muttersprache
gelernt hat und vielleicht sogar als einzige Sprache, verschiedene kognitive Bereiche und
auch sogar Wahrnehmungsbereiche beeinflusst. Das heißt konkret: Die Art, wie zum
Beispiel in meiner Sprache die Begriffe sortiert sind, hat damit zu tun, wie meine Konzepte
im Kopf auch miteinander verknüpft sind.
Es geht sogar soweit, dass nicht nur Konzepte, sondern auch Perzepte, also
Wahrnehmungsinhalte, da beeinflusst werden. Ein berühmtes Beispiel ist die
Farbwahrnehmung: wenn man nicht unterscheidet zwischen Hellblau und Dunkelblau im
Deutschen, sondern zwischen galaboi und sini im Russischen, dann hat das einen
Einfluss auf das Farbsehen - das ist so eine der Teilbehauptungen, die mit der ganzen
globalen These verknüpft sind.
SPRECHER:
Sprich: Während im Deutschen unterschiedliche Blau-Schattierungen mit
zusammengesetzten Wörtern beschrieben werden, die den gleichen Stamm - „blau“ beinhalten, gibt es im Russischen ganz verschiedene Wörter - „galaboi“ für ein helleres
blau und „sini“ für ein dunkleres blau.
Und tatsächliche scheinen verschiedene Untersuchungen mit russischen und englischen
Muttersprachlern zu zeigen, dass Russen genauere und auch schnellere
Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen Blau-Abstufungen vornehmen.
MUSIKTRENNER
SPRECHER:
Auf der anderen Seite gibt es viele Sprachen, in denen zwischen den Farben Blau und
Grün gar nicht unterschieden wird. Sprich: Es gibt für beide Farben nur ein und dasselbe
Wort. Deswegen ist es in diesen Sprachen auch nicht möglich, einen Unterschied
zwischen den beiden Farben wahrzunehmen - so die Vertreter der These des
sogenannten „Sprachlichen Determinismus“; also der Vorstellung, dass unser gesamtes
Denken und auch unsere Wahrnehmung durch unsere Sprache bestimmt sind.
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MUSIKTRENNER
SPRECHER:
Ein anderes Beispiel dafür, wie sehr die Sprache unsere Wahrnehmung einschränken
kann, sind die Piraha, ein Stamm aus dem Amazonasregenwald: Diese machen offenbar
keinen Unterschied zwischen vier oder fünf Fischen, auch wenn sie direkt vor ihnen liegen.
Und das liegt an ihrer Sprache - das sagt zumindest der amerikanische Verhaltensforscher
Peter Gordon von der Columbia Universität/New York:
ZUS Gordon 1:
They have basically two words, that are almost the same. One is hoi and the other one is
hoi. They sound the same, but one´s got a falling term, and one´s got a rising term. These
numbers roughly mean one and two, [...]. And for any sort of larger numbers they say
baagi or baagi-so, which means roughly "many".
V-O:
Sie haben hauptsächlich zwei Worte, die nahezu identisch sind. Eines ist "hoi" und das
andere ist "hoi". Sie klingen fast gleich, nur eines wird mit abfallenden Ton gesprochen,
das andere mit ansteigendem Ton. Grob bedeuten sie: "eins" und "zwei". Für größere
Mengen sagen sie "baagi" oder auch "baagi-so". Das bedeutet: "viele".
SPRECHER:
Außerdem gibt es in der Piraha-Sprache keine Unterscheidung zwischen Singular und
Plural. Ausgehend von dieser sprachlichen Eigenheit hat Peter Gordon einige Tests mit
den Piraha gemacht.
ZUS Gordon 2: 3:40-4:30
The tests that I did: I was trying to see if they could perceive numerosities, if they didn't
have to use words. I did various tests where they have to line up numerical qualities of
batteries or nuts, that where around. And to put them in to different configurations, where it
became harder to perceive them.
And on one case I put some candy in a box and have painted say four fish on it. Then I put
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out two boxes, one was the original with four fish and the other had five fish on it. And see
if they could remember the original box, based on the number of fish.
V-O:
Bei meinen Tests kam es mir darauf an, heraus zu bekommen, ob sie eine exakte Anzahl
von Gegenständen erkennen können. So habe ich zum Beispiel eine bestimmte Anzahl
von Nüssen auf den Tisch gelegt und sie sollten die gleiche Anzahl von Nüssen auf ihre
Seite des Tisches legen.
In einem anderen Fall habe ich ein paar Bonbons in eine Dose gefüllt, auf der 4 Fische
abgebildet waren. Dann nahm ich die Dose kurz weg und stellte danach zwei Dosen auf
den Tisch: Die mit den vier Fischen drauf und eine, auf der fünf Fische abgebildet waren.
Sie sollten mir sagen, welches die Dose mit den Bonbons war.
SPRECHER:
Die Trefferquote war bei beiden Tests äußerst gering. Bereits ab einer Menge von 10
Nüssen war es den Piraha unmöglich, die gleiche Anzahl an Nüssen nachzulegen. Ein
ähnliches Ergebnis zeigte der Versuch mit der Dose: Genauso gut hätten die Piraha
schätzen können, welches die richtige Dose ist.
Das liegt daran, dass es in ihrer Sprache offenbar keinen Begriff für unterschiedliche
Mengen gibt - so die Schlussfolgerung von Peter Gordon.
Doch das schränkt die Piraha keineswegs in ihrem Leben ein:
ZUS Gordon 4: 3:00-3:35
The thing is: they don´t really have any situations where they need to count - because of
the way they live: They hunt together, they don´t do any sort of trading, they just do a
straight swop, but no trading on the basis of numbers. They may estimate an amount, but
there is no exact number they have to deal with in their life.
5:30-5:45
There´s no reason to qualify it exactly. Whatever they got, they put it on the fire and people
dig in. There´s no such situation, where they need to count what they have caught.
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V-O:
Der Grund ist: Sie kennen eigentlich keine Situationen, in denen es für sie notwendig
wäre, zu zählen. [Das liegt an ihrer Lebensweise: Sie jagen gemeinsam, sie betreiben
keinen Handel - zumindest keinen Handel, bei dem es auf das Zählen ankommt, maximal
tauschen sie mal etwas.]
Sie schätzen vielleicht mal eine Menge ab, aber exakte Zahlen benötigen sie in ihrem
Leben einfach nicht. Alles, was sie erjagen, hängen sie gleich über´s Feuer und jeder
nimmt sich ein Stück. [Es gibt einfach keine Situation, in der sie zählen müssten, wieviel
sie erjagt haben.]
SPRECHER:
Was ist also nun Ursache und was ist Wirkung? Haben die Piraha keine Wörter für "vier"
und "fünf", weil sie keine brauchen? Oder können die Piraha die Unterscheidung zwischen
"vier" und "fünf" nicht treffen, weil es ihre Sprache nicht zulässt?
Beides, meint Peter Gordon:
ZUS Gordon 5: 7:50It´s circular: If you need to count numbers your language will develop them. It´s kind of a
vicious circle, cause you cannot seperate these out.
V-O:
Das beeinflusst sich gegenseitig: Wenn eine Gesellschaft Zahlen benötigt, dann entwickelt
auch die Sprache welche. Es ist eine Art Teufelskreis: Man kann Ursache und Wirkung
nicht wirklich voneinander trennen.
SPRECHER:
Sind die Piraha also durch ihre Sprache dazu verurteilt, nicht zwischen vier und fünf
Fischen unterscheiden zu können? Dietmar Zaefferer ist da skeptisch:
ZUS Zaefferer 4: (10:00-10:25)
[...] ich bin ziemlich sicher: In dem Moment, wo das Bedürfnis entsteht zu zählen, dann
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werden irgendwelche Mittel auch dafür eingesetzt, um dieses Bedürfnis zu befriedigen.
(12:10-12:30)
Ich denke, dass alle Sprachen sehr sehr leicht erweiterbar sind und für unsere Bedürfnisse
reformulierbar und dass deswegen der Zwangscharakter der Sprache etwas ist, was
meines Erachtens geradezu grotesk übertrieben wird.
SPRECHER:
Denn letztlich ist jede Sprache durch neue Begriffe und Formen unendlich wandel - und
erweiterbar. Somit ist auch unsere Wahrnehmung - insofern sie wirklich so eng mit unserer
Sprache verknüpft ist - unendlich wandel- und erweiterbar, so Dietmar Zaefferer.
[Zaefferer 6: (0:40)
[...] Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, d.h meine Sprache ist
unbegrenzt, also ist auch meine Welt und damit mein Denken unbegrenzt.]
MUSIKTRENNER
SPRECHER:
Es ist also wohl kaum der Fall, dass wir von unserer Sprache beschränkt werden.
Wie aber sieht es mit den gemäßigten Thesen aus, z.B. dem sogenannten „Sprachlichen
Relativismus“ - auch bekannt als „Sprachliche Relativitätstheorie“?
Zaefferer 3: (1:00)
Also dass man sagt: Es gibt einen gewissen Einfluss, der mich dazu bringt, eher in einer
bestimmten Weise zu denken, wenn ich eine bestimmte Sprache habe, die zum Beispiel nehmen wir mal n konkretes Beispiel: Es gibt Sprachen, die haben eine sehr starke
Unterscheidung in den Genera - männlich, weiblich - das durchzieht die ganze Sprache
extrem zum Beispiel im Hebräischen. In manchen Sprachen gibt's gar keinen Genus, da
muss ich Frau sagen, wenn ich mich auf Frauen beziehe, d.h. ich muss das Lexikon
bemühen, in der Grammatik gibt's das gar nicht. [... ] Der Determinist würde sagen: Gut,
wer Hebräisch als Sprache hat, muss die Welt schwarz-weiß als männlich-weiblich sehen.
Und der Ungar muss halt gucken, was der Unterschied ist zwischen nem Mann und ner
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Frau, weil seine Sprache sagt ihm das nicht. Das wär halt so n krasses Beispiel. .. Der
Relativist würde sagen: Das hat einen gewissen Einfluss auf mein Denken.
SPRECHER:
Und dieser gewisse Einfluss scheint durch viele Versuche belegt - wie das Beispiel der
unterschiedlichen Blauwahrnehmung bei russischen und englischen Muttersprachlern
zeigt. Sollten wir also Russisch lernen, um die Farbe Blau in mehr Schattierungen und
Abstufungen wahrnehmen zu können? Dietmar Zaefferer:
Zaefferer 5: (0:53)
[...] Fremdsprachen lernen ist auf alle Fälle ne gute Erfahrung. Unter anderem deshalb,
weil man typischerweise auch in andere Kulturen hineinguckt. Manche Leute verwechseln
das gerne und sagen: Aha, jetzt hab ich die andere Sprache und damit auch die andere
Kultur und wenn in der anderen Kultur wichtige Unterschiede bestehen, dann wird das
wieder in die Sprache rüberprojektiert. (0:30) [Wichtige Unterschiede sind zum Beispiel:
Ökonomisches Verhalten. Im Kulturenvergleich ist das sehr sehr unterschiedlich. Aber
dass die Unterschiede den Sprachen geschuldet sein sollen, ist äußerst „unblausibel“ sagen wir mal so.]
SPRECHER:
Klar ist: Nur mechanisch fremdsprachliche Vokabeln zu pauken, ändert nichts an unseren
grundsätzlichen sprachlichen Fähigkeiten. Doch wir müssen gar nicht in die Ferne
schweifen, um richtige Farbkünstler werden, meint zumindest Dietmar Zaefferer:
ZUS Zaefferer 7: (23:17Und wenn Sie mich jetzt fragen würden: Um besser Farben sehen zu können, sollte ich
dann Koreanisch und Russisch lernen? Dann sage ich Ihnen: Lernen Sie lieber malen und
lernen die ganzen zusammengesetzten Adjektive im Deutschen wie Karmesinrot,
Scharlachrot und so weiter genau zu unterscheiden. (25:30-)
Sie können auf der Basis von Blau nicht nur taubenblau, tiefblau und hellblau, dunkelblau,
sondern auch „Augen-meiner-Freundin-Farben-blau“ entwickeln. Da ist jede Menge von
Kreativität drinnen. Das ist mein Ratschlag: Nutzen Sie die Kreativität, die in jeder Sprache
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eingebaut ist – (…) auch im Deutschen beispielsweise.
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