Beilage 1 Literarisches Lernen im Klassenverband

Literarisches Lernen im Klassenverband
Beilage 1
MARIA RISS
Bestimmte inhaltliche und formale Kriterien der Sprache machen ein Buch zu einem literarischen Werk und
unterscheiden so Literatur von anderen (Alltags- oder
Sach-)Texten. Diese Merkmale fungieren demnach als
«Normen des Literarischen», da sie Literatur überhaupt
erst ausmachen und definieren. Wichtigste literarische
Normen sind Stilmittel, mit deren Hilfe Sprache literarisch geformt wird.
Solche grundlegenden Normen zu kennen und anzu­
wenden, das müssen Schülerinnen und Schüler erst lernen. Am besten gelingt dies, wenn sie gemeinsam Erfahrungen sammeln können, wenn sie beim Erschliessen
solcher Texte von- und miteinander lernen und durch die
Lehrperson angeleitet werden. Verschiedene literarische
Normen und Stilmittel in unterschiedlichen Texten zu
identifizieren, ist nicht immer einfach und bedingt Interventionen durch die Lehrpersonen, welche den meist
noch unerfahrenen Leserinnen und Lesern einen Einstieg bieten, ihnen die Schönheit literarisch gestalteter
Sprache aufzeigen und ihnen mit verschiedenen Modellen und Aufgaben beim Verarbeiten und Reflektieren der
Inhalte und der sprachlichen Ausdrucksmittel helfen.
Mit Unterstützung der Lehrperson und geeigneten
Auf­gaben kann das gemeinsame Lesen im Klassenverband Basis sein, solch literarische Stilmittel zu erkennen, gestaltete Sprache zu geniessen und gut erzählte Geschichten auch auf verschiedenen Ebenen zu verstehen.
Im gegenseitigen Austausch werden Verstehenslücken
ge­schlossen und das, was zwischen den Zeilen steht,
ins Bewusstsein und zur Sprache gebracht. Gemeinsam
werden Bilder imaginiert oder Szenen nachgespielt. Die
Charaktere und Handlungsweisen der einzelnen Figuren
können interpretiert werden und miteinander kann herausgearbeitet werden, was man beim Lesen einer literarischen Sprache empfindet. Gemeinsames Reflektieren
und Verarbeiten ist immer Erfolg versprechender und
führt zu mehr Erkenntnissen als das Nachdenken über
Gelesenes im stillen Kämmerlein.
Um diese, auch im neuen Lehrplan fokussierten Kompetenzen zu üben, braucht es die Lektüre aktueller
Kinder- und Jugendliteratur, die diesen Normen entspricht. Sie bietet für Lernende einen weit besseren Weg
zu literarischen Bildungszielen als der traditionelle Weg
über klassische Texte, zu denen junge Leserinnen und
Leser kaum einen Bezug finden. Es geht nicht darum,
Schülerinnen und Schülern einen Literaturkanon zu vermitteln, sondern sie in das Lesen literarisch gestalteter Texte einzuführen, die ihnen nicht allzu fremd sind.
Ästhetische Erfahrungen sind vor allem dann möglich,
wenn sich Leserinnen und Leser subjektiv angesprochen
fühlen, wenn sie bei der Lektüre Figuren antreffen, deren
Gedanken und Handlungen sie neugierig mitverfolgen
können und zu deren sprachlicher Gestaltung sie Zugang
finden. Klassenlektüren bieten also nicht nur Grundlagen für Gespräche über aktuelle gesellschaftliche Pro­
bleme, sie haben auch das literarische Lernen, die Auseinandersetzung mit literarischen Normen zum Ziel.
Das Zentrum Lesen hat Beispiele aus der Sammlung
der Zentralstelle für Klassenlektüre ZKL ausgesucht, in
welchen sich solch literarische Normen gut nachweisen
lassen. Kurz zusammengefasst geht es dabei vor allem
um drei (Norm-)Bereiche:
(1) Es ist der bewusste Umgang des Autors oder der Autorin mit der Sprache und dem Wortschatz. Die Sprache
in Kinder- und Jugendbücher darf und muss oft einfach
sein, sie darf aber niemals banal werden. Rico aus dem
Buch von Andreas Steinhöfel beispielsweise bezeichnet
sich selber als «tiefbegabt». Ein Wort, das der Autor für
seine Figur neu geschaffen hat und das bereits sehr viel
über den Protagonisten verrät, vor allem auch dadurch,
dass sich die Figur selber so bezeichnet.
(2) Dann sind es die Leerstellen in Texten, das Geschriebene zwischen den Zeilen, Geschichten, die nicht
zu viel verraten und dadurch genügend Raum lassen, um
eigene Bilder entstehen zu lassen. Viele solcher Beispiele
finden sich im Tagebuch des Teilzeitindianers, exemplarisch sei hier eine Szene in der Schule des Reservats
erwähnt, in der zwar der alte skurrile Lehrer kurz und
prägnant beschrieben wird, das Schulzimmer aber, das
müssen sich Leserinnen und Leser selber imaginieren
(siehe Aufgabenbeispiel). (3) Und schliesslich ist es die
Aussage des Textes, welche Literatur ausmacht. In guten
Büchern geht es fast immer um Grundsätzliches, um
Menschliches, um Veränderungen auch. Da ist Junior, der
junge Indianer, der durch sein Handeln aufzeigt, dass
es möglich sein kann, dem Elend im Reservat zu entfliehen. Oft schimmert auch philosophisches Gedankengut
durch, etwa im Buch über Rico in der Figur des alten
Fitzke, der Steine zu züchten versucht.
Rundschreiben Zentrum Lesen – Pädagogische Hochschule der FHNW – Institut Forschung und Entwicklung
26/2014
Die Zentralstelle für Klassenlektüre ZKL hält eine breit
gefächerte Auswahl geeigneter Bücher für einen solchen
Literaturunterricht bereit. Das Zentrum Lesen hat zu einigen Titeln der ZKL eine Sammlung von exemplarischen
Aufgaben und Materialien erarbeitet. Sie stehen Interessierten als Download zur Verfügung:
www.bibliomedia.ch oder www.zentrumlesen.ch/blog.
Weitere Materialien sind in Arbeit.
Beispiel einer Aufgabe zum Buch von Sherman
Alexie «Das absolut wahre Tagebuch eines
Teilzeitindianers» (Bereich 2: Leerstellen füllen)
Das Buch eignet sich ganz besonders für die Lektüre
im Klassenverband, weil es nicht nur durch einen sehr
spannenden Plot überzeugt, sondern auch in einer ausdrucksstarken und doch einfachen Sprache geschrieben
ist. Der Autor lässt vieles weg, es gilt immer wieder, zwischen den Zeilen zu lesen. Diese Imagination kann mit
passenden Aufgaben angeleitet werden:
Solche und ähnliche Aufgaben können mithelfen, literarische Texte gemeinsam zu erschliessen und literarischen Normen auf die Spur zu kommen. Schülerinnen
und Schüler können sich auf diese Weise allmählich ein
Repertoire an Strategien zum literarischen Textverstehen aneignen.
Für die Schuleingangsstufe gibt es
Aufgaben zum Buch von Lorenz Pauli
und Kathrin Schärer «3 Freche Mäuse»
Bei dieser Aufgabensammlung geht
es vor allem um die Erarbeitung der
Grundlagen für das Verstehen von Geschichten.
Für die 6. Klasse gibt es Materialien
und Aufgaben zum Buch von Andreas
Steinhöfel
«Rico, Oskar und die Tieferschatten».
Eine Beispielaufgabe:
Sich einen Ort bildlich vorstellen
Damit man einen Text verstehen kann, muss man sich
die Orte und Figuren vorstellen können. Manchmal hilft
es, wenn man sich das Geschehen wie in einem Film
vorstellt.
1. Vorstellungen generieren
Stell dir das Schulzimmer im Spokane-Reservat wie
in einem Film vor. Lass die Kamera durch den Raum
schweifen: Was siehst du?
Zeichne und beschreibe das von dir «gefilmte» Schulzimmer so, dass die andern Schülerinnen und Schüler
es sich möglichst genau vorstellen können. Ein paar
Fragen können dir dabei vielleicht helfen:
–– Wie gross ist das Zimmer?
–– Wo gibt es Fenster?
–– Wie viele Bänke stehen im Raum?
–– Was gibt es für Dinge, die herumstehen oder auf Pulten liegen?
–– Was hängt an den Wänden?
–– Zeichne einen Plan oder eine Skizze des Zimmers.
2. Rückmeldung einholen
Such dir einen Partner oder eine Partnerin. Vergleicht
und diskutiert eure Skizzen und Beschreibungen.
3. Aufgabe überarbeiten
Nun überarbeitest du deine Beschreibung, die Pläne
und Skizzen noch einmal und hängst sie danach an eine
Wand im Schulzimmer.
Für die Sekundarstufe 1 gibt es Materialien und Aufgaben zum Buch von
Sherman Alexie «Das absolut wahre
Tagebuch eines Teilzeitindianers».
Rundschreiben Zentrum Lesen – Pädagogische Hochschule der FHNW – Institut Forschung und Entwicklung
26/2014