Für das Besondere der Literatur

Germanistik und Lehrerbildung – Debatten und Positionen.
Nachtrag zu Heft 2/2012
Aufgrund eines redaktionellen Versehens wurde der folgende Beitrag leider nicht in
Heft 2/2012 der ›Mitteilungen‹ zum Thema »Germanistik und Lehrerbildung«
aufgenommen. Er gibt eine Antwort auf die Frage: »Wie sollen sich im Lehramtsstudium Sprach- und Literaturwissenschaft, Literatur- und Sprachdidaktik
zueinander verhalten?«
Für das Besondere der Literatur
Anja Saupe
Zu der Frage, ob und inwieweit Sprache und Literatur integrativ zu betrachten seien,
haben Fachdidaktik und Schulpraxis zunächst eindeutig Stellung bezogen: Ein
lernbereichsintegrativer Ansatz des Unterrichts wurde in der Didaktik mehrheitlich
in engagierter Weise vertreten und schließlich auch von der Bildungspolitik befürwortet. Infolgedessen wird ein integrativer Ansatz für das Fach Deutsch durch die
Rahmenrichtlinien einiger Bundesländer nicht nur empfohlen, sondern sogar vorgeschrieben. Diese Tendenz legt es nahe, auch für die fachwissenschaftliche und
fachdidaktische Lehrerausbildung entsprechende Angebote zu entwickeln.
Es gibt für eine solche Verbindung sachbezogene Argumente: Sprach- und Literaturwissenschaft können nicht säuberlich voneinander getrennt werden. Sie weisen
wichtige Bereiche der Überschneidung auf, so zum Beispiel die Analyse grammatischer Strukturen und rhetorischer Figuren, die von Gebrauchs- und literarischen
Texten genutzt werden. Es mag dementsprechend als sinnvoll erscheinen, die
Kompetenzen von Schülern ebenso wie von Studierenden nicht isoliert, sondern
integrativ für den Umgang mit Sprache und Literatur auszubilden.
Und doch – schon seit geraumer Zeit gibt es Hinweise darauf, dass eine solche
Integration erhebliche Nachteile und Gefahren mit sich bringt. So sind viele, womöglich die meisten Deutschlehrer in Sachsen mit dem vorgeschriebenen lernbereichsintegrativen Unterricht inzwischen äußerst unzufrieden. Nach ihrer Einschätzung leiden unter dem Zwang zur Integration die Klarheit der Zielbestimmung für
den Unterricht und die Möglichkeiten einer Kompetenzförderung. Werden Gebrauchs- und literarische Texte im Rahmen einer thematischen Einheit in unreflektierter Weise nebeneinander behandelt, so führt dies z. B. leicht zu einer unange-
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messenen Vereinnahmung der literarischen Texte. Sie erscheinen womöglich nur
noch als ›Lieferanten‹ bestimmter Inhalte.
Diese Bedenken können fachdidaktisch und fachwissenschaftlich gestützt werden.
So ist in der Fachdidaktik in jüngster Zeit auch Kritik an den bislang für den
Deutschunterricht empfohlenen Kompetenzmodellen geäußert worden: Diese Modelle – vom PISA-Modell bis zu kognitionspsychologisch fundierten Kompetenzmodellen – sollen übergreifend für den Umgang mit Gebrauchs- und literarischen
Texten geeignet sein. Tatsächlich werden sie aber den Anforderungen, die literarische
Texte an ihre Leser stellen, kaum gerecht. Stattdessen erscheinen vor allem für den
Umgang mit Literatur gerade solche Kompetenzmodelle als sinnvoll, die Strukturerkennung und Deutung getrennt voneinander berücksichtigen – wie es der literaturwissenschaftlichen und der schulischen Tradition entspricht – und die darüber
hinaus dem Wirklichkeitsbezug einen angemessenen Stellenwert einräumen.
Literarische Texte zeigen neben Gemeinsamkeiten mit den Gebrauchstexten
tatsächlich so grundlegende Unterschiede zu ihnen, dass einer integrativen Betrachtung deutliche Grenzen gesetzt sind. Literarische Texte sind anders als Gebrauchstexte intentional vieldeutig. Statt einer Rekonstruktion von Bedeutung fordern sie eine – durch die Textstrukturen begrenzte – auch subjektive Ergänzung durch
den Leser. Darüber hinaus bieten sie ihm die Möglichkeit, die dargestellten Einzelfälle zu einer Sicht auf Welt und Menschen zu verallgemeinern. Die in besonderer
Weise gedeuteten literarischen Texte soll der Leser dann auf seine eigene Lebenswirklichkeit beziehen – nicht nur im Sinne einer Reflexion und Bewertung, sondern
im Sinne einer Aneignung und Nutzung von womöglich neuen Sichtweisen für die
eigene Lebenswirklichkeit.
Ohne dass die gemeinsamen Grundlagen einer Erschließung von Gebrauchs- und
literarischen Texten zu vernachlässigen wären: Die besonderen Kompetenzen, die für
einen ergiebigen Umgang mit literarischen Texten notwendig sind, sollten auch besonders gefördert werden. Dazu erscheint eine grundlegende Trennung der Bereiche
Sprache und Literatur sowohl in der Schule als auch an der Hochschule notwendig. So
könnte der Grundsatz sinnvoll sein: Das fachwissenschaftliche und -didaktische
Studium soll integrative Elemente aufweisen, ohne dass die Trennung von Sprache
und Literatur im Prinzip aufgegeben wird. Ein weitgehend integrativer Ansatz
könnte sich dagegen für andere Bereiche als ergiebig erweisen, die grundsätzlich
ähnliche Rezeptionsanforderungen auf der Ebene der Deutung stellen: für die Literatur und fiktionale bzw. künstlerische Medienproduktionen auf der einen sowie
die Sprache und ›pragmatische‹ Medienproduktionen auf der anderen Seite.
Prof. Dr. Anja Saupe lehrt Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Leipzig. Email: [email protected]
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