Schreiben von literarischen Kleinformen

Schreiben von literarischen Kleinformen
Beilage 1
STEPHAN NÄNNY, PÄDAGOGISCHE HOCHSCHULE THURGAU, KREUZLINGEN
Literarische Texte zeichnen sich unter anderem dadurch
aus, dass sie Leerstellen für das eigene Imaginieren
eröffnen. Dies gilt insbesondere für literarische Kleinformen: Mit wenigen Worten und Sätzen wird ein Imaginationsraum eröffnet (vgl. dazu auch den Buchtipp «Überraschung!» in diesem Rundschreiben).
Beim Schreiben von literarischen Kleinformen können
auch SchülerInnen, die sich mit dem Schreiben von längeren Texten schwertun, ihre sprachliche Kreativität und
Phantasie zeigen: Die Schreibaufgaben sind also per se
binnendifferenzierend. Der grundsätzlich spielerische
Umgang mit sprachlichen Formen erfordert jedoch auch
ein bewusstes Gestalten des Textes. Beim Um- und Neugestalten von literarischen Kleinformen können die
Schülerinnen und Schüler dabei einerseits selbst kreativ
Texte verfassen und erfahren andererseits die Wirkung
von verdichteten Texten im Austausch in der Klasse.
Produktionsorientierter Umgang mit literarischen
Kurzformen
Literarische Kurzformen laden zum Nachbilden ein.
Belke/Kasperek (2001) schlagen dazu zwei operationale
Verfahren vor, bei denen die Strukturen vorgegebener
Texte systematisch für die individuellen Ausdrucksbedürfnisse genutzt werden:
1) Bei der Substitution werden einzelne Elemente (Wörter, Satzglieder, …) bei gleichbleibender Satzstruktur
ersetzt.
2)Bei der Transformation werden Satzstrukturen bei
gleichbleibendem Wortmaterial umgeformt.
Für das Substitutionsverfahren eignen sich Minigeschichten, bei welchen die Satzstruktur vorgegeben
wird (vgl. Die Sprachstarken 4, 88):
1. einfacher Satz
2. Satzverbindung (Hauptsatz und Hauptsatz)
3. Satzgefüge (Hauptsatz und Nebensatz)
4. einfacher Satz
Sabrina besucht Renate nur, wenn Tosca eingesperrt
ist.
Sabrina hat Angst vor Hunden.
Auf dieser Grundlage lassen sich Alltagsereignisse kurz,
prägnant und wirkungsvoll erzählen. Gleichzeitig werden drei Satzbaumuster in einem spielerischen Kontext
produktiv geübt und kreative Lösungen sind durchaus
erwünscht:
Cems Motorrad heisst Gonzo.
Cem mag den Gesang seines Motors und er muss ihn
jeden Tag schnurren lassen.
Gonzo schnurrt nur, wenn er sein Benzin bekommt.
Gonzo kann dann so richtig aufheulen.
2) Für das Transformationsverfahren bieten sich Prosaund Gebrauchstexte an, mit denen vielfältig experimentiert werden kann. Hier wird kein Schema vorgegeben,
sondern das Wortmaterial. Die drei Sätze «Ich konnte
nicht schlafen. Der Mond schien ins Zimmer. Patrizia hat
geschnarcht bis morgens um sechs.» stammen aus einem
Text einer Schülerin. Sie eignen sich zum operationalen
Umgang, indem zum Beispiel mit Reihenfolge, Zeilenumbruch, Zeilenformatierungen, Wortwiederholungen,
Wortergänzungen und/oder Wortverschiebungen experimentiert wird (vgl. Die Sprachstarken 7, 76 f.):
Eine lange Nacht
Eine lange Nacht
Eine lange Nacht
Ich
Der Mond
Patrizia schnarcht
konnte
schien ins Zimmer.
und
nicht schlafen
Ich konnte
schnarcht
und
nicht schlafen,
und
der Mond
weil Patrizia
schnarcht
schien ins Zimmer.
geschnarcht hat –
–
Bis
bis morgens
bis morgens
morgens
um sechs.
um sechs.
um sechs
Den SchülerInnen soll aber nicht nur das Schema vorgegeben werden, sondern es soll auch an einem Beispiel
konrektisiert werden:
hat
Ich kann
Patrizia
nicht schlafen
geschnarcht.
und
der Mond
Renates Hund heisst Tosca.
Renate liebt Tosca und sie kümmert sich jeden Tag
um sie.
Rundschreiben Zentrum Lesen – Pädagogische Hochschule der FHNW – Institut Forschung und Entwicklung
scheint
ins Zimmer.
29/2015
Die Schülerinnen und Schüler sollen beim Lesen der
drei Textversionen erfahren, wie sich durch die Umgestaltung der vorgegebenen Sätze die Textwirkung verändert.
Es bietet sich an, verschiedene Möglichkeiten zur Neugestaltung von gefundenen Texten auszuprobieren und
zu reflektieren. Damit eröffnet sich eine weitere Dimension für den Umgang mit literarischen Kleinformen.
Wenn die SchülerInnen aufgefordert werden, literarische
Kleinformen – eigene oder fremde – zum Vorlesen vorzubereiten, können sie erfahren, wie sich durch die Umgestaltung von kurzen Texten Wirkung und Sinngebung
verändern lassen.
Ein Beispiel eines «vorgefundenen Gedichts» stammt von
Erich Fried (2003). Er hat ein Zeitungsinserat wortwörtlich übernommen und in Verse gegliedert:
Tiermarkt/Ankauf
Der Polizeipräsident
Gezahlt werden
in Berlin sucht:
bis zu
Schäferhundrüden.
750,– DM
Alter ein bis vier Jahre
Angebote an
mit und ohne
Der Polizeipräsident
Ahnentafel,
in Berlin W-F 1
Voraussetzung: einwandfreies
1 Berlin 42
Wesen
Tempelhofer Damm 1–7
rücksichtlose Schärfe
Tel 96 10 91
ausgeprägter Verfolgungstrieb
Apparat
Schussgleichgültig
27 61
und
Strich 64
gesund
Überprüfung
Erich Fried
am ungeschützten Scheintäter
Hund mit Beisskorb
• Fragen zu den Figuren: Wie sieht/sehen die Figur(en)
aus? Was denkt/denken und fühlt/fühlen die Figur(en)?
Was ist er oder sie für ein Typ?
Zum Beispiel: Wie stellst du dir den gesuchten Hund
vor? Was ist der Polizeipräsident für ein Typ Mensch?
Was denkt die Person, die auf das Inserat reagieren
will?
• Ort: In welcher Umgebung befinden sich die Figuren?
Wie sieht es dort aus?
Zum Beispiel: Wie sieht es im Büro des Polizeipräsidenten aus? Wie sehen die Orte aus, an denen der gesuchte Hund seine «Arbeit» tun soll? Wie sieht es dort aus,
wo der Hund im Polizeirevier untergebracht ist?
• Ich – meine Lebenswelt: Was hat das mit mir zu tun?
Habe ich auch schon so etwas erlebt? Kenne ich ähnliche Situationen? Wie habe ich mich dabei gefühlt?
Zum Beispiel: Worüber würdest du mit dem Polizeipräsidenten sprechen wollen, wenn du einen Hund
hättest, der infrage kommen könnte? Hast du auch
schon einen Text in der Zeitung gelesen, der dir nicht
mehr aus dem Sinn ging?
Damit man sich nicht in der eigenen Fantasie verliert,
hilft es, seine Gedanken mit anderen auszutauschen. Dadurch können eigene Vorstellungen durch Überlegungen
der anderen ergänzt werden. Gewisse Stellen in einem
literarischen Text können auch unterschiedlich verstanden werden, denn es gibt nicht immer nur eine Lösung.
Literatur
Belke, Gerlind; Kasperek, Justine (2001). Strukturen des kindlichen Sprachspiels. In: Grundschule Sprache 3. (2001), S. 22 – 30.
Die Sprachstarken Band 4 (2007). Zug: Klett und Balmer.
Die Sprachstarken Band 7 (2013). Zug: Klett und Balmer.
Fried, Erich (2003). 100 Gedichte ohne Vaterland. Frankfurt a. M.: Fischer
Taschenbuch Verlag.
Die Wirkung von verdichteten Texten erlesen
Literarische Kleinformen – eigene und fremde – können
auch als Grundlage für literarische Gespräche genutzt
werden. Das Besondere an literarischen Texten ist, dass
sie einiges offen lassen oder nur andeuten. Diese «leeren»
Stellen können mit eigenen Vorstellungen gefüllt werden.
Leerstellen lassen sich durch Fragen entdecken. Diese
zielen auf drei unterschiedliche Aspekte (vgl. Die Sprachstarken 7, 66 f):
Rundschreiben Zentrum Lesen – Pädagogische Hochschule der FHNW – Institut Forschung und Entwicklung
29/2015