Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Die Flüchtlingskrise
Konzepte aus der Wissenschaft
Von Doris Maull
Sendung: Mittwoch, 23.03.2016, 08.30 Uhr
Redaktion: Sonja Striegl
Regie: Autorenproduktion
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
O-Ton 1 - Angela Merkel:
Ich sage ganz einfach, Deutschland ist ein starkes Land und das Motiv, in dem wir an
diese Dinge herangehen muss sein, wir haben so viele Dinge geschafft, wir schaffen
das und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden und der Bund
wird alles in seiner Macht Stehende tun, zusammen mit den Ländern, zusammen mit
den Kommunen, genau das durchzusetzen.
O-Ton 2 - Olaf Kleist:
Ich denke, es war pragmatisch. Es war die einzige pragmatische Reaktion, die man
auf die Situation haben konnte. Denn man muss sich ja fragen, was wäre das
Gegenteil? Wäre das Gegenteil zu sagen, wir schaffen es nicht?
O-Ton 3 - Horst Seehofer:
Wir haben diese große Bitte und Forderung, dass wir weiter reden über diese
Obergrenzen neben all den anderen Fragen der Humanität und der Integration und
ich trage nach wie vor die Hoffnung im Herzen, manchmal auch ein Stück Gewissheit
– wir werden uns noch irgendwie verständigen.
O-Ton 4 - Steffen Angenendt:
Ich frag mich, wo denn die Weisheit geblieben ist in der Diskussion und das gilt für
die nationale Ebene wie auch für die europäische... Ich erinnere an die Debatte über
Obergrenzen im Asyl oder an Abschiebungsversprechungen, die komplett
unrealistisch sind.
Ansage:
„Die Flüchtlingskrise – Konzepte aus der Wissenschaft“. Eine Sendung von
Doris Maull.
O-Ton 5 - Collage:
Tagesschau / Berichterstattung Flüchtlingskrise
Sprecherin:
Europa 2016 – Die Europäischen Mitgliedstaaten sind mit einer historischen
Herausforderung. konfrontiert. Fliehende Menschen drängen nach Griechenland, in
die Türkei, nach Österreich, Frankreich und sogar bis in den europäischen Norden
nach Schweden, Norwegen und Dänemark. Mehr als eine Million Flüchtlinge sind im
vergangenen Jahr allein nach Deutschland gekommen. Viele Menschen in Europa
meinen, an der Flüchtlingskrise sei Bundeskanzlerin Angela Merkel Schuld. Für ihren
legendären Ausspruch „Wir schaffen das“ auf der Sommerpressekonferenz 2015 und
ihre Entscheidung, Flüchtlinge in Sonderzügen aus Ungarn nach Deutschland zu
holen, wird sie seitdem von Bürgern und Politikern verschiedener politischer Couleur
kritisiert. Auch Klaus Bade, einer der renommiertesten deutschen Migrationsforscher,
bewertet die Äußerungen Merkels skeptisch. Mit ihrem Willkommensgruß habe die
Bundeskanzlerin eine Lawine ausgelöst, die danach nicht mehr zu stoppen gewesen
sei.
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O-Ton 6 - Klaus Bade:
In den Ausgangsräumen ist angekommen, die Bundeskanzlerin sagt, ihr könnt´ alle
kommen und das haben die Werber dann übersetzt in: Ihr könnt alle aufbrechen, sie
werden Euch nehmen, denn sie wollen Euch haben. Das ist eine Sache, die man
sehen muss, von einer sehr vernünftigen Entscheidung ausgehend, die versehentlich
auf Dauer wirkte und dann in den Ausgangsräumen missverstanden wurde.
O-Ton 7 - Atmo (Tagesschau):
Willkommenskultur am Münchner Hauptbahnhof
Sprecherin:
Sommer 2015. Deutschland zelebriert die Willkommenskultur. Am Münchner
Hauptbahnhof empfangen freiwillige Helferinnen und Helfer die Flüchtlinge mit
Willkommenstransparenten und versorgen sie mit heißem Tee und warmen Decken.
Nur wenige Monate später sieht die Lage ganz anders aus. Kein Tag ohne neue
Vorschläge zur Abschottung, Abriegelung und Ausgrenzung: Asylpaket I und II, Plan
A2, sichere Herkunftsländer, Kontingentlösung, Begrenzung des Familiennachzugs,
Obergrenzen. Flüchtlings- und Migrationsforscher wie etwa Steffen Angenendt von
der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, sehen staunend zu, welches
Schauspiel da in Deutschland, aber auch auf gesamteuropäischer Ebene gegeben
wird. Appelle des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker verhallen
ungehört.
O-Ton 8 - Jean-Claude Juncker (drunterlegen):
„Unsere Europäische Union befindet sich in keinem guten Zustand… es fehlt an
Europa und es fehlt an Union in der Europäischen Union. – …action is what is
needed for the time being.“
O-Ton 9 - Steffen Angenendt:
Auf europäischer Ebene bin ich relativ entsetzt, wenn ich mir diesen Mangel an
Solidarität und diese Erosion des europäischen Gedankens, der europäischen
Politik, der europäischen Verantwortungsteilung eben anschaue. Dass da so
Sprengsätze in der Europäischen Politik lauern, das hätte ich so nicht erwartet.
Sprecherin:
War die Zuspitzung der Flüchtlingskrise, wie wir sie seit Sommer vergangenen
Jahres erleben, tatsächlich zu erwarten? Die Politiker traf es ganz offensichtlich
erschreckend unvorbereitet. Und die Flüchtlings- und Migrationsforscher? Die
Wissenschaftler haben die Probleme schon früher kommen sehen, meint etwa
Andreas Pott. Er leitet das IMIS, das Institut für Migrationsforschung und
Interkulturelle Studien in Osnabrück:
O-Ton 10 - Andreas Pott:
Wir betreiben schon sehr lange Flüchtlingsforschung und haben schon lange den
Dublin-Prozess sehr kritisch begleitet und darauf hingewiesen, dass das natürlich
auch ein Freikaufen ist der Länder, die im Zentrum Europas liegen wie zum Beispiel
Deutschland, durch diese ganzen Verabredungen der sicheren Drittstaaten, des
Grenzschutzes und so weiter. Also zu erwarten, dass die Flüchtlingsbewegungen
nicht Deutschland erreichen, das war von Anfang an ein Irrglaube und dass das ganz
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große Asymmetrien in der EU hervorbringt das ganze Dublin-System, das war auch
etwas, das wir sehr früh beklagt und kommentiert haben.
Sprecherin:
Das „Dublin-System“ begann 1990 mit der Unterzeichnung des Dublin-Abkommens
durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und trat 1997 in Kraft. Nach dem
Dublin-Abkommen ist jener EU-Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags
zuständig, den der Schutzsuchende zuerst erreicht. Faktisch waren durch dieses
System vor allem die südeuropäischen Staaten Griechenland und Italien belastet.
Am 21. August 2015 erließ das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das BAMF,
"Verfahrensregeln zur Aussetzung des Dublin-Verfahrens für syrische
Staatsangehörige". Damit wurden kurzfristig auch sämtliche Abschiebungen ins
Europäische Ausland gestoppt. Aber die neu aufgestellten Regeln waren nur knapp
einen Monat lang gültig – am 13.September 2015 trat der deutsche Innenminister
Thomas de Maiziere vor die Presse und erklärte:
O-Ton 11 - Thomas de Maiziere:
Deutschland führt in diesen Minuten wieder Grenzkontrollen an den Binnengrenzen
ein… Ziel dieser Maßnahme ist es, den derzeitigen Zustrom nach Deutschland zu
begrenzen… nach dem geltenden Recht ist Deutschland für den allergrößten Teil der
Schutzsuchenden gar nicht zuständig. Das Dublin-Verfahren und die Regelung über
die Registrierung gelten unverändert fort und ich fordere, dass sich alle europäischen
Mitgliedstaaten in Zukunft wieder daran halten.
Sprecherin:
Politische Klugheit und politische Weitsicht – eindeutig Fehlanzeige, kommentiert der
mittlerweile emeritierte Migrationsforscher Klaus Bade. Bade selbst hat viele Jahre
für gelingende Integration in Deutschland gekämpft. Wir sind kein
Einwanderungsland hieß es da gebetsmühlenartig, vor allem von konservativen
Politikern. Und heute?
O-Ton 12 - Klaus Bade:
Es wird mehr gehört, es wird mehr verstanden, es wird auch mehr selbst gewusst. Es
wird aber das, was man weiß, nicht unbedingt in die entsprechenden Handlungen
umgesetzt. Man erkennt, dass die sogenannte Flüchtlingskrise eigentlich kein
deutsches, kein europäisches, sondern ein Weltproblem ist. Dass es eine Weltkrise
ist, die gewissermaßen Flüchtlinge vor unsere Tore schwemmt. Dass man, wenn
man sich damit beschäftigen will, viel tiefergehende, viel weitergehende Fragen
stellen muss. Die Herausforderungen sind bekannt – die Antworten fehlen.
Sprecherin:
Antworten könnte die Forschung liefern. Deshalb ist der Migrationsexperte Steffen
Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik in den vergangenen Wochen
sehr häufig im Auswärtigen Amt zu Gast. Politik-Beratung funktioniere vor allem
durch direkte Gespräche mit Regierungsvertretern und Parlamentariern, erläutert
Angenendt. Wenn sie die Ratschläge der Wissenschaftler dennoch nicht umsetzen,
hat das seiner Meinung nach in erster Linie mit den Mechanismen zu tun, nach
denen Politik funktioniert.
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O-Ton 13 - Steffen Angenendt:
Was man sehen muss ist, dass Politik einer anderen Logik gehorcht – Politiker
entscheiden aufgrund von Ereignissen, die schon eingetreten sind. Was auf der
Strecke bleibt, ist das Denken in etwas längerfristigen Kategorien, das Denken in
Konsequenzen, in Szenarien. Und das ist was, was die Wissenschaft machen kann,
machen sollte, wenn sie denn politikberatend wirksam sein will, dann müssen diese
Fähigkeiten in der Wissenschaft noch gestärkt werden und sie müssen auch genutzt
werden. Wenn man dann kommt mit Vorschlägen, dann beachtet doch mal die
langfristigen Konsequenzen, dann dringt man damit oftmals nicht so richtig durch.
Sprecherin:
Beispiel Fluchtursachenforschung. Flüchtlings- und Migrationsforscher in
Deutschland hätten die Politik immer wieder auf die heikle Situation der syrischen
Flüchtlinge aufmerksam gemacht – ohne Erfolg.
O-Ton 14 - Steffen Angenendt:
Wir haben darauf hingewiesen, dass man sehr aufpassen muss, was in den
Erstaufnahmeländern geschieht, die schon so viele syrische Flüchtlinge
aufgenommen haben beispielsweise, Libanon, Jordanien – auch in der Türkei. Die
haben natürlich die gleichen Versorgungsprobleme wie wir, nur noch verstärkt, weil
da eben die Ressourcen nicht da sind und dass da natürlich Destabilisierungen
drohen, wenn man diese Länder nicht unterstützt. Das haben wir jedes Mal gesagt
und trotzdem, bei jeder internationalen Konferenz, die dann über Hilfs- und
Unterstützungsmaßnahmen für die Anrainer-Länder von Syrien entscheiden musste,
wurde klar, dass Ende des jeweiligen Jahres doch nur 40 oder 50 Prozent der
eigentlich erforderlichen Mittel zusammengekommen sind.
Sprecherin:
Aber es gibt durchaus auch Defizite auf Seiten der Flüchtlings- und
Migrationsforschung in Deutschland. Zu wenig Grundlagenforschung und eine zu
geringe Anzahl von Flüchtlings- und Migrationsforschern in Deutschland beklagt etwa
Wolfgang Kaschuba, der Direktor des Berliner Instituts für Empirische Integrationsund Migrationsforschung. Migration und die Folgen seien von der Politik lange Zeit
eher als „Grippe“ empfunden worden, die man möglichst schnell überstehen wollte.
O-Ton 15 - Wolfgang Kaschuba:
Die Migrationsforschung ist eine Forschung, damit hatte ich mal unseren
Bundespräsidenten ein wenig erschreckt, als ich sagte, die Bienenvölker in
Deutschland werden intensiver beforscht als die Wandervölker. So ist es in der Tat.
Wir bekommen immer dann, wenn es Probleme gibt, Projektmittel, aber die
Integrationsaufgabe in unserer Gesellschaft ist eine permanente Aufgabe und die
Forschung ist noch nicht so aufgestellt, weil die Politik nicht bereit war, diese
Forschung ausreichend zu finanzieren.
Sprecherin:
In anderen Ländern ist das anders, so die Erfahrung des Flüchtlingsforschers Olaf
Kleist. Er hat als Research Fellow am Refugees Studies Center der Universität
Oxford geforscht und unterrichtet. In Deutschland ist er am IMIS, dem Institut für
Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, in Osnabrück angedockt und hat das
Netzwerk Flüchtlingsforschung mitbegründet. Das Netzwerk ist ein interdisziplinär
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arbeitender Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die
sich mit Themen wie Zwangsmigration, Flucht und Asyl beschäftigen. Parallel dazu
betreiben sie einen Flüchtingsforschungs-Blog. Kleist spricht von deutlichen
Unterschieden zwischen der Flüchtlings- und Migrationsforschungskultur in
Deutschland und der in Großbritannien.
O-Ton 16 - Olaf Kleist:
In GB ist die Flüchtlingsforschung in den 1980er Jahren entstanden, (…) aus
Herausforderungen, die man in Afrika gesehen hat, also aus Flüchtlingslagern und
wo es hieß, wir müssen eigentlich auch die Perspektive von Flüchtlingen mit
aufgreifen und können das nicht alles den großen Flüchtlingsorganisationen
überlassen, also es hatte auch immer so´n bisschen so´n kritischen Impetus, zu
sagen, was kann die Forschung eigentlich beitragen, um eine größere, eine weitere
Perspektive auf die Herausforderung des Flüchtlingsschutzes zu bieten.
Sprecherin:
Ganz anders dagegen in Deutschland.
O-Ton 17 - Olaf Kleist:
Traditionell ist es in Deutschland so, dass sich Forschung, die sich mit Flucht
beschäftigt hat, immer sehr den Focus auf Deutschland selber hatte, seien es die
Heimatvertriebenen, was überhaupt die erste Gruppe war, die dazu geführt hat, dass
man sich mit Flucht hier in Deutschland beschäftigt hat oder dann die Debatte um
das Asyl in den 80er und 90er Jahren.
Sprecherin:
Dieser deutsche Focus ist mittlerweile einer internationaleren Ausrichtung gewichen.
Und auch die Grundlagenforschung wird sukzessive ausgebaut. Ein Beispiel ist das
Netzwerk Grundlagenforschung, das seit April 2015 ebenfalls am IMIS angesiedelt
ist. Es wird von der DFG, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, gefördert. In
diesem Netzwerk beschäftigen sich 14 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit
zentralen Konzepten und Begriffen der Flucht und Migration. Da geht es um
grundsätzliche Fragen wie: Was ist ein Flüchtling? Oder um das Thema
„Menschenrechte und Flucht“, erzählt IMIS-Direktor Andreas Pott.
O-Ton 18 - Andreas Pott:
Gegenwärtig interessieren uns besonders Fragen der „Aushandlung“ von Migration
und Flucht, wie wir das nennen. Flucht und Schutz, und der Zuspruch von Schutz ist
ja nicht etwas, das eindeutig feststeht, sondern etwas, das in spezifisch historischen
Kontexten immer neu bestimmt und ausgehandelt wird. Und das versuchen wir,
sowohl in Bezug auf Deutschland als auch in Bezug auf Europa und im
internationalen Vergleich zu untersuchen.
Sprecherin:
Die Genfer Flüchtlingskonvention unterscheidet zwischen schutzbedürftigen
Flüchtlingen und internationalen Migranten, die auf der Suche nach Arbeit oder
einem besseren Leben freiwillig in ein anderes Land gehen – und eben nicht durch
Konflikte oder Verfolgung zur Migration gezwungen wurden. In der politischen Praxis
werde hier aber nicht ausreichend differenziert, kritisiert Pott. Und das habe konkrete
Auswirkungen auf die Städte und Kommunen.
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O-Ton 19 - Andreas Pott:
In der Kommune sind Menschen da, sind Körper da, die Unterkunft finden müssen,
die Angebote, was Sprachförderung angeht, Schule usw., erhalten und die auch in
Kontakt mit der lokalen Bevölkerung treten. Diese Bevölkerung interessiert sich aber
nicht immer oder ist auch nicht immer informiert darüber, über diese ganz
unterschiedlichen aufenthaltsrechtlichen Bedingungen, unter denen die Menschen
dort sind und dieses Lavieren, dieses Austarieren zwischen diesen verschiedenen
Ebenen, das interessiert uns, das untersuchen wir konkret, nicht nur in Osnabrück,
sondern im Vergleich auch noch in einigen anderen Städten.
Sprecherin:
Klare Definitionen – die fordert auch der Migrationsforscher Klaus Bade. Gerade weil
das weltweite Wanderungsgeschehen immer komplizierter wird.
O-Ton 20 - Klaus Bade:
Wir müssen differenzieren zwischen Einwanderung, die nur nach den Maßgaben des
Aufnahmelandes zu gestalten ist und Asylwanderungen, die unter humanitären
Gesichtspunkten zu einer Pflicht der Aufnahme führen, ob auf Zeit oder auf Dauer,
das ist egal.
O-Ton 21 - Angela Merkel (Tagesschau vom 15.09.2015):
„Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu
müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist
das nicht mein Land.“
Sprecherin:
Angela Merkel auf der Pressekonferenz mit ihrem österreichischen Kollegen Werner
Faymann am 15. September des vergangenen Jahres. Merkel hält seither
konsequent an der humanitären Ausrichtung ihrer Politik fest. Doch Österreich hat
sich im Februar 2016 von ihr und von der deutschen Politik distanziert. 80
Asylbewerber pro Tag lässt die österreichische Regierung nur noch ins Land. 37500
maximal sollen es 2016 sein. Damit hat die Alpenrepublik im nationalen Alleingang
eine Obergrenze eingeführt. Für den Migrationsforscher Steffen Angenendt, der u.a.
den UNHCR, das Internationale Rote Kreuz und die EU-Kommission in Migrationsund Flüchtlingsfragen beraten hat, ein klarer Verstoß gegen die gültige Rechtslage in
Europa:
O-Ton 22 - Steffen Angenendt:
Das Problem ist, dass wir im Flüchtlingsrecht und das ist sehr eindeutig, keine
Obergrenzen haben für die Aufnahme von Flüchtlingen. Wenn jemand politisch
verfolgt ist, dann muss ich den aufnehmen bzw. darf den nicht zurückweisen in ein
Land, in dem ihm oder ihr Verfolgung droht – das ist ein Grundrecht – das geht in der
Debatte immer wieder durcheinander.
O-Ton 23 - Auszug Berichterstattung Tagesschau (15.02.2016):
Auftakt zum Visegrad-Treffen in Prag … Kernthema weitere Barrieren gegen
Flüchtlinge zu errichten… Selten waren sich die vier Staaten so einig, wie in der Kritik
an einer offenen Flüchtlingspolitik… keine Quoten, kein Diktat aus Brüssel, keine
Aufnahme von Flüchtlingen – Schutz der Grenzen.
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Sprecherin:
Keine Quote. – Die Regierungen der osteuropäischen Visegrad-Staaten wehren sich
gegen eine Europäische Quotenregelung für die Aufnahme von Flüchtlingen. Sie
wollen überhaupt niemanden aufnehmen. 160.000 Flüchtlinge sollten nach den
Plänen der EU-Kommission von Ende September auf die Europäischen Staaten
verteilt werden. Bis heute ist das nicht gelungen. Steffen Angenendt macht dafür
unter anderem den Kommunikationsstil verantwortlich. Die Quote werde abgelehnt,
weil im Vorfeld viel zu wenig darüber gesprochen worden ist.
O-Ton 24 - Steffen Angenendt:
Das Problem meines Erachtens war, dass es vorher keine Debatte über diesen
Verteilungsschlüssel und über das gegeben hat, was eigentlich faire
Verantwortungsteilung in der EU heißen soll. Was heißt denn eigentlich Solidarität,
wie kann man das messen, was ist klug, was sind gute Kriterien, die alle
unterschreiben können, welche Konsequenzen hat das dann eine solche
Flüchtlingsverteilung? Das ist eben auf der Strecke geblieben, das ist nicht
geschehen und das hat meines Erachtens auch dazu beigetragen, dass dieser
Widerstand der kleineren, gerade osteuropäischen Staaten, so groß geworden ist,
sich an einer gemeinsamen Verteilung zu beteiligen.
Sprecherin:
Eine Flüchtlingspolitik ohne Weitblick droht zu scheitern. Dabei könnten die
Wissenschaftler Konzepte dazu vorlegen, um etwa das Problembewusstsein der
Öffentlichkeit zu schärfen und wichtige Debatten anzustoßen. Am Anfang stehe in
jedem Fall eine realistische Analyse der gegenwärtigen Situation, meint Wolfgang
Kaschuba vom Berliner Institut für Empirische Integrations- und Migrationsforschung.
O-Ton 25 - Wolfgang Kaschuba:
Es macht heute wenig Sinn nach bayerischer Manier die Augen zuzumachen und zu
sagen, wenn ich den Kopf in den Sand stecke, wird’s wieder wie in den siebziger
Jahren, so wird es nie mehr werden. Also, die erste Erkenntnis ist, alle europäischen
Gesellschaften exportieren Autos und Wissen und auch zahllose andere Dinge, auch
Touristen, also wir muten uns ja auch den anderen Gesellschaften zu. Globalisierung
bedeutet eben, die Welt kommt auch bei uns an, wir können sie nicht raushalten.
Sprecherin:
Außerdem helfe ein Blick zurück. Die jüngere Vergangenheit Deutschlands zeige,
dass die aktuelle Situation keine so außerordentliche Herausforderung sei, wie viele
befürchten.
O-Ton 26 - Wolfgang Kaschuba:
Ich erinnere nur daran, dass wir ungefähr zwölf Millionen sogenannte Gastarbeiter
Mitte der 60er bis der 70er Jahre hatten und wir dürfen nicht vergessen, 14 Millionen
Heimatvertriebene und Flüchtlinge 1945/46, die ja keineswegs als Deutsche
empfangen worden sind sondern überwiegend auch als Fremde. Also, in der
historischen Einordnung ist das nicht so dramatisch – wir hatten schon dramatischere
Situationen, vor allem wenn man die ökonomische und soziale Situation in
Deutschland mit betrachtet. Uns geht es schon relativ gut, da würde ich Frau Merkel
zustimmen, das können wir hinkriegen.
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Sprecherin:
Aber wie? Eine Patentlösung hat zur Zeit niemand. Die Migrations- und
Flüchtlingsforschung plädiert für eine Politik der kleinen Schritte. Und die beginnt für
Wolfgang Kaschuba mit der dezentralen Unterbringung der Flüchtlinge.
O-Ton 27 - Wolfgang Kaschuba:
Am liebsten würde ich den Politikern mal nen Wochenende Massenquartier anbieten,
nur um mitzubekommen, was diese Menschen auch aushalten. Das ist ja das
Überraschende, das so wenig passiert. Bei massenhaftem Zusammenleben auf
engstem Raum. Diese Situation, die eben nur Apathie oder Aggression schaffen
kann, muss möglichst schnell aufgelöst werden und wir haben ja auf der anderen
Seite 1,5 Millionen Wohneinheiten, die leer stehen, auf dem flachen Land etwa.
Kulturzeit Jingle
O-Ton 28 - Auszug aus 3sat Kulturzeit (18. Februar 2016):
Das Dorf Manheim wird in den nächsten Jahren abgerissen. Bis auf ein paar hundert
Bewohner, sind bereits alle weg. Das Leben von einst, nicht mehr als Erinnerungen.
Vier Jahre war die Schule geschlossen, doch seit ein paar Wochen ist wieder Leben
hier… Atmo: Unterricht
Sprecherin:
Die Sendung Kulturzeit auf 3sat berichtet im Februar dieses Jahres über das Dorf
Manheim bei Köln. Als die Stadt Kerpen an der Grenze der Belastbarkeit war und
selbst alle Turnhallen belegt, kam die Verwaltung dort auf die Idee, das leer
stehende Dorf Manheim mit den Ankommenden neu zu besiedeln. Ein kreatives
Projekt mit besten Voraussetzungen für gelingende Integration. Aber die Schaffung
von Wohnraum allein reicht natürlich nicht aus, sagt Wolfgang Kaschuba.
O-Ton 29 - Wolfgang Kaschuba:
Wenn man vernünftige Pakete schnürt, also gerade auch in kleineren Ortschaften,
eben nicht nur Wohnungen anbietet, sondern auch Jobs im klassischen Bereich der
Migration. Das ist Service, das ist Pflege, das sind Infrastrukturen, die mit
Esskulturen und anderem zu tun haben, Stichwort die berühmte Dönerbude in Berlin,
das sind die Einstiegsjobs für die Migranten. Wenn man solche intelligenten
Konzepte entwickelt, entstehen Win-win-Situationen. Wir haben ja nicht nur überfüllte
Städte, wir haben ja auch sterbende Dörfer. Flüchtlingsfamilien können dort Kitas
und Schulen offenhalten und sie können Infrastrukturen wieder schaffen, die ihnen
Jobs bieten und teilweise der örtlichen Bevölkerung, die ja teilweise auch überaltert
ist, neue Zukunftsmöglichkeiten.
Sprecherin:
Ganz wichtig für eine nachhaltig gelingende Integration ist es, Vorurteile über Bord
zu werfen. Denn „den Flüchtling“ gibt es nicht.
O-Ton 30 - Wolfgang Kaschuba:
Wir wissen gerade aus Syrien, dass da gesellschaftliche Gruppen kommen, die uns
gar nicht so unähnlich sind. Das ist die Mittelschicht, die auswandert. Die Ärmsten
der Armen haben gar nicht das Geld für die Schlepper und es ist schon bestürzend,
wenn man dann mit einzelnen Flüchtlingen redet und dann hört, ich werde hier wie
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ein Barbar empfangen und behandelt, ich komme aus ner Eigentumswohnung, ich
hab einen bürgerlichen Beruf gehabt, also wir sollten im Grunde nicht nach den
Differenzen vor allem schauen, wo sind die ganz anders als wir. Das ist unser
Ratschlag an Politik und Medien, sondern sehr viel mehr auch Konvergenzen in den
Mittelpunkt stellen – wo sind wir ähnlich.
Sprecherin:
Das alles braucht Zeit. Die Integration der Flüchtlinge passiert nicht von heute auf
morgen – darauf weisen die Migrationsforscher immer wieder hin – auch Andreas
Pott vom IMIS in Osnabrück.
O-Ton 31 - Andreas Pott:
Da brauchen wir eine Nachhaltigkeit in der Problemanalyse und auch in der
Problembearbeitung und in der Debatte, das sehen wir zum Beispiel sehr deutlich bei
Fragestellungen der Integration. Man kann Integrationsbekenntnisse fordern, und
man sollte sehr schnell mit Sprachkursen und dergleichen beginnen, aber Integration
ist ein Prozess, der sich über drei Generationen erstreckt, das ist ein
intergenerationales Phänomen, was man nicht mal eben in den Griff bekommt und
entsprechend auch mit langem Atem sollte das Thema behandelt werden.
Sprecherin:
Wolfgang Kaschuba ist fest davon überzeugt, dass sich der lange Atem auch
ökonomisch lohnen wird. Nach einer Studie des IWF vom Januar 2016 wird der
Zustrom von Flüchtlingen nach Europa vor allem in Österreich, Schweden und
Deutschland zu einem zusätzlichen Wachstum von 0,5 bis 1 Prozent führen.
O-Ton 32 - Wolfgang Kaschuba:
Wenn wir jetzt sozusagen nur die Lastenseite der gegenwärtigen Einwanderung
durch Flüchtlinge betrachten, ist das viel zu kurzsichtig. Die Investitionen, die wir jetzt
tätigen in Wohnraum, in Bildung, Ausbildung, Sprache und anderes mehr sind
Investitionen, die wir vor acht oder sieben Jahren sowieso vor uns sahen und gesagt
haben, was machen wir in dieser alternden Gesellschaft. Wer finanziert unseren
Ruhestand, haben die etwas älteren Frauen und Männer gefragt und wer uns damals
angeboten hätte, eine Million junge Menschen kommt nach Deutschland mit der
Absicht, hier eine Existenz zu begründen, Jobs zu finden, sich selbst finanzieren und
ernähren zu können, wäre damals glaube ich willkommen geheißen worden.
Sprecherin:
Integration und Migration funktionieren nur, wenn die, die da sind mit denen, die
kommen, zusammenarbeiten und das Ganze als einen Prozess betrachten, der
gemeinsam bewältigt werden muss, betont Andreas Pott:
O-Ton 33 - Andreas Pott:
Es geht immer um die Migranten, es geht um die Flüchtlinge und deren Integration.
Das ist ein falscher Zugriff aus unserer Sicht, denn es geht um die
Migrationsgesellschaft und Migration als Phänomen, das alle Menschen dieser
Gesellschaft betrifft und auch mit all´ diesen Menschen muss gesprochen werden
und sie müssen eingebunden werden in entsprechende politische Maßnahmen.
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Sprecherin:
Migration und Flucht sind aktuelle Phänomene, die alle Menschen weltweit betreffen
– dieses Bewusstsein muss sich durchsetzen. Noch immer glauben viele Politiker
von Stockholm bis Rom, sie könnten die Flüchtlingskrise einfach aussitzen bzw. mit
Stacheldraht und Zäunen von sich fernhalten. Diese Abschottungs- und
Ausgrenzungspolitik wird nicht funktionieren, darin sind sich die Flüchtlings- und
Migrationsforscher einig. Und, so Steffen Angenendt, nationale Alleingänge sind
keine Lösung.
O-Ton 34 - Steffen Angenendt:
Das Wichtigste ist eine Koalition von Staaten zusammenzubekommen, die
gemeinsam an einem Strang ziehen. Man kann wirklich, und da würde ich der
Kanzlerin recht geben, immer nur klar machen, welche Konsequenzen sozusagen
ein atomisiertes, nationales Verhalten der EU-Staaten hätte und man muss vielleicht
auch noch klarer machen als bis jetzt, was passieren würde, wenn Deutschland
seine Grenzen zumacht.
Sprecherin:
Menschen, die versuchen Hindernisse und Hürden um jeden Preis zu überwinden Szenen, wie wir sie jetzt bereits aus Griechenland kennen, würden sich dann
wahrscheinlich auch an den deutschen Grenzen abspielen. Europa würde endgültig
zerbrechen. Um das zu verhindern, müssen auch die Flüchtlingsforscher
international stärker zusammenarbeiten, betont Andreas Pott.
O-Ton 35 - Andreas Pott:
Das ist extrem wichtig, dass man von diesem nationalen Focus wegkommt. Wir
arbeiten ganz eng zusammen mit 30 anderen Migrationsforschungsinstituten in
Europa im Netzwerk Imisco, da sind sozusagen die zentralen
Migrationsforschungsinstitute eng verknüpft und auf diesen Tagungen und in den
entsprechenden Workshops wird daran gearbeitet, eine vergleichende Perspektive
auf Migrations- und Integrationsprozesse zu werfen und eben über die nationale
Problemdefinition hinauszublicken und das ist auch für eine langfristige, eine
nachhaltige Migrationspolitik, enorm wichtig.
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