Zweifelhafte Zertifikate Dämonisierter Putin Die Energiewirtschaft rühmt sich mit klimaneutralem Kongress. Seite 9 Am Kremlchef scheiden sich die Geister – und zwei Bücher. Seite 16 Umkämpfter Stammtisch Ein Kneipenbesuch mit dem SPD-Abgeordneten Raed Saleh zeigt die Entfremdung zwischen Politikern und Bürgern. Seite 11 Foto: 123rf/Michael McDonald Foto: 123rf/Hanna Slavinska Freitag, 10. Juni 2016 STANDPUNKT Das ist der Preis Uwe Kalbe über die Verstimmung zwischen Ankara und Berlin Wer meint, Rassismus sei eine deutsche Eigenart, sollte dem türkischen Präsidenten lauschen. Seine Empfehlung, die türkische Herkunft von deutschen Abgeordneten per Bluttest zu prüfen, lässt so viel völkischen Wahn erkennen, dass die Resolution zum Genozid an den Armeniern noch nachträglich allzu gerechtfertigt erscheint. Erdogans Vorwürfe gegenüber den »abtrünnigen« deutschen Abgeordneten mit türkischen Wurzeln heute, 100 Jahre später, lassen ahnen, wie es um die Achtung gegenüber »nichttürkischen« Minderheiten im Osmanischen Reich bestellt war. Die klaren Worte von Bundestagspräsident Lammert, mit denen er die betroffenen Abgeordneten verteidigte und der Solidarität des Parlaments versicherte, sind erfreulich und dem Anlass angemessen. Gleichwohl wirkt die Geste hilflos und zaudernd, weit entfernt von der Konsequenz, mit der in anderen Fällen internationaler Interessenskonflikte agiert wird. Kein Wunder. Die Abhängigkeit der Bundesregierung vom Flüchtlingsdeal mit der Türkei nimmt jeder ernsten Kritik sofort die Spitze. Umgekehrt kündigt Erdogan kraftmeierisch einen Aktionsplan gegen Deutschland an. Man stelle sich ein ähnliches Szenario im Verhältnis zu Russland vor. Insofern ist auch die Begeisterung der LINKEN nicht nachvollziehbar. Die Gelegenheit des Schulterschlusses mit den übrigen Fraktionen mag ein geschickter Schachzug für das eigene Renommee sein. Die Fragen nach den Konsequenzen für die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung bleiben so ungefragt. UNTEN LINKS Die Debatte über mehr soziale Gerechtigkeit schreitet planmäßig voran – dank des Historikers Sigmar Gabriel. »Die Vermögensteuer ist keine Erfindung von Rosa Luxemburg«, hat dieser jetzt herausgefunden. Potzblitz! Bisher dachte man ja, der Spartakusbund stehe hinter der Sache, weshalb seit längerem Vermögen geschont bleiben. Die Entdeckung könnte aber noch andere Folgen haben. Forscherkollegen von Gabriel weisen bereits darauf hin, dass auch die Idee eines höheren Spitzensteuersatzes nicht von der KPD-Mitgründerin ausbaldowert wurde. Viele fragen sich: Was fördern die Untersuchungen noch alles zutage? Womöglich kommt sogar heraus, dass sozialdemokratische Politik mit ein bisschen Umverteilung weder auf Lenin noch auf Walter Ulbricht zurückzuführen ist. Oder dass eine stärkere Besteuerung von Erbschaften doch nicht Teil der chinesischen Kulturrevolution war. Historiker Gabriel soll angeblich schon wieder im Archiv alte Akten durchforsten. Man darf gespannt sein. tos ISSN 0323-3375 71. Jahrgang/Nr. 134 Bundesausgabe 1,70 € www.neues-deutschland.de Der Ball ist bunt Lammert rügt Ankara für Drohung In Frankreich wird die Fußball-Europameisterschaft angepfiffen Streit mit Erdogan spitzt sich zu – Türkei bereitet »Aktionsplan« vor Berlin. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan kritisiert. »Die Verdächtigung von Mitgliedern dieses Parlaments als Sprachrohr von Terroristen weise ich in aller Form zurück«, sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert am Donnerstag. Dass ein demokratisch gewählter Staatspräsident sich so äußern würde, habe er nicht für möglich gehalten, so der CDU-Politiker. Erdogan hatte Abgeordnete türkischer Abstammung nach der Armenien-Resolution des Bundestages in die Nähe der kurdischen PKK gerückt. Auch sollten sich die Parlamentarier einem Bluttest unterziehen, um festzustellen, ob sie türkischer Abstammung seien. Die LINKE nannte Lammerts Erklärung »stark und treffend« und zog ihren Antrag auf eine Aktuelle Stunde zum Thema zurück. Unterdessen droht Ankara damit, Protestmaßnahmen gegen Deutschland zu ergreifen. Die zuständigen Behörden bereiteten einen »Aktionsplan« vor, erklärte Erdogan-Sprecher Ibrahim Kalin. Agenturen/nd Staat versagt beim Flüchtlingsschutz Amnesty International erhebt Vorwürfe gegen die Bundesrepublik Foto: Reuters/Juan Medina Berlin. Lange ist es her, dass der Begriff Nationalmannschaft bierernst genommen wurde. Er ist längst dem salopperen Team gewichen, was auch viel besser zur Ära des Fußballs als Milliardengeschäft passt. Nur politische Irrlichter befassen sich unverdrossen mit der fußballerischen Abstammungslehre und nahmen kurz vor der jetzt beginnenden Europameisterschaft Anstoß daran, dass »eine deutsche oder eine englische Fußball-Nationalmannschaft schon lange nicht mehr deutsch oder englisch im klassischen Sinne« ist. Da hat er was rausgekriegt, der AfD-Rechtsaußen Alexander Gauland. Ob es ihm passt oder nicht: 87 von 552 für das Turnier gemeldeten Spielern wurden nicht in dem Land geboren, für das sie nun antreten. Da ist der Fußball ein Abbild der gesamten Gesellschaft: Sie ist weitaus vielfältiger, als es schwarz-rot-goldene Fanmeilen vermuten lassen. Hinzu kommen noch viele weitere Fußballer aus Familien mit Migrationshintergrund. Zu ihnen gehört Jérôme Boateng, dessen Vater aus Ghana stammt und der neulich Gegenstand von rassistischen Überlegungen Gaulands war. Am Donnerstag teilte die Berliner Senatskanzlei mit, dass Boateng mit dem Moses-Mendelssohn-Preis ausgezeichnet wird; anerkannt werden damit sein soziales Engagement und seine Vorbildwirkung für Millionen Jugendliche, heißt es zur Begründung. Dass der Fußball tatsächlich verbindende Kraft über Grenzen hinweg hat, beweisen auch die vielen Flüchtlinge und Migranten, die – organisiert oder spontan – oft gemeinsam mit Einheimischen in europäischen Ländern dem runden Leder nachjagen. Sie zeigen, was Fußballlegende Sepp Herberger heute so formulieren könnte: Der Ball ist bunt. wh Alles zur Fußball-EM auf den Seiten 2, 3, 15 und 18 bis 20 Politisch verengter 360-Grad-Blick Ex-Verfassungsschutzchef Fromm wollte vor dem NSA-Untersuchungsausschuss nicht viel preisgeben Bundestagsabgeordnete versuchen, bei leitenden Beamten des Verfassungsschutzes mehr über Verbindungen zum US-Dienst NSA zu erfahren. Die zeigten sich am Donnerstag zugeknöpft. Von René Heilig Als nach den Snowden-Enthüllungen zahlreiche Spionageaktivitäten des US- Geheimdienst NSA öffentlich wurden, betonte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), man brauche bei der Spionageabwehr einen 360Grad-Blick. Das heißt, man müsse sich auch gegen die Neugier von Partnerstaaten wehren – zumal dann, wenn fremde Dienste sogar Kanzler-Handys abhören. Zwei Zeugen im NSA-Untersuchungsausschuss sollten am Donnerstag erklären, wie die von ihnen geleiteten Behörden ihren Auftrag zur Spionageabwehr umgesetzt hat. Heinz Fromm, zwischen 2000 und 2011 Chef des Inlandge- heimdienstes, räumte ein, dass man die Dienste der Verbündeten grundsätzlich nicht beobachtete. Darüber herrschte politisches Einvernehmen. Man pflegte fast ausschließlich Zusammenarbeit – vor allem mit Diensten der USA. So geschah es, dass die NSA – vermittelt über den Bundesnachrichtendienst (BND) – im Frühjahr 2011 dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die Spionagesoftware XKeyscore anbot. Der BND, der das US-System gemeinsam mit der NSA im großen Stil angewendet hat, half bei der Installation. 2012 schloss sich im BfV die Testphase an. Die Kölner Behörde setzt das System zur Auswertung von Kommunikationsverkehren aller Art ein. Die Abgeordneten fragten nach der Gegenleistung, die die NSA gefordert habe. Eine solche habe es nie gegeben, meinte Fromm. Der USDienst war offenbar mit der Übermittlung quantitativ und qualitativ besserer Informationen zu- frieden. Dass die Kontrolle der Geheimdienste nicht funktioniert, bestätigte der Zeuge mehrfach. Er wurde auf die Operation »Eikonal« angesprochen, bei der die NSA massenhaft Daten am Kabelknoten Frankfurt am Main absaugte. Da es sich dabei um Spionage einer fremden Macht in Deutschland handelte, hätte das BfV eingreifen müssen – tat es aber nicht, denn der BND trat als Partner der US-Amerikaner auf. 2010 berichteten Medien über die Tötung auch deutscher Staatsbürger in Pakistan und darüber, dass insbesondere vom BfV übermittelte Handynummern bei den US-Drohneneinsätzen verwendet worden sind. Er und seine Mitarbeiten hielten das für ausgeschlossen, erklärte Fromm. Man fragte beim vorgesetzten Bundesinnenministerium an. Auch dort wurden die technischen Möglichkeiten der US-Dienste nicht hinterfragt, wohl aber bestätigte man im November 2011 die Rechtmäßigkeit der Datenweitergabe. Die Informationen dürfe nur nicht »unmittelbar« für eine geografische Ortung von Personen verwendbar sein. Am Abend nahm BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen auf dem Zeugenstuhl Platz. Er hatte sich in jüngster Zeit mehrfach mit den Leistungen seines Amtes bei der Spionageabwehr vor allem im sogenannten Cyberraum gebrüstet. Kommentar Seite 4 } Lesen Sie morgen im wochen-nd In der Krise: Frankreichs alte Linke Margots Mails: Botschaften aus Chile Betonierte Zukunft: Ein neues Zeitalter Berlin. Amnesty International hat einen institutionellen Rassismus in Deutschland beklagt und dem Staat vorgeworfen, Opfer rechter Gewalt im Stich zu lassen. Die Zahl rassistischer Angriffe sei so hoch wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik, sagte die Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation in Deutschland, Selmin Caliskan, am Donnerstag in Berlin. Rassistische Ressentiments würden in erschreckender Hemmungslosigkeit ausgelebt, Asylunterkünfte nicht ausreichend gesichert, rassistische Taten oft nicht als solche erkannt. Amnesty legte einen mehr als 80-seitigen Bericht zu dem Thema vor. Die Autoren werteten verschiedene Zahlen zu rechter Gewalt aus, sprachen mit Opfern rassistischer Übergriffe, Anwälten und Behördenmitarbeitern. Hauptautor Marco Perolini sagte, der Anstieg von Hasskriminalität sei besorgniserregend. »Fast täglich kommt es zu rechten Übergriffen, werden Menschen beleidigt, bedroht, verletzt, wird eine Flüchtlingsunterkunft angegriffen.« dpa/nd Seite 6 Obama will die »Reihen schließen« Präsident legt Sanders das Aufgeben der Kandidatur gegen Clinton nahe Washington. US-Präsident Barack Obama hat seine Partei zum Ende der Vorwahlsaison zur Geschlossenheit aufgerufen. Bei einem Auftritt im Fernsehender NBC legte Obama am Mittwochabend (Ortszeit) dem demokratischen Senator Bernie Sanders nahe, die Kandidatur gegen die wahrscheinliche Präsidentschaftsanwärterin Hillary Clinton aufzugeben. »Für die Demokratische Partei war es eine gesunde Sache, einen wirklichen Wettbewerb bei den Vorwahlen zu haben«, sagte Obama. »Jetzt hoffe ich aber, dass wir in den nächsten paar Wochen die Reihen schließen können.« Obama zollte Sanders Respekt für den harten Kampf gegen Clinton. »Er hat eine enorme Energie und neue Ideen eingebracht«, sagte der Präsident. »Er hat die Partei vorangetrieben und sie herausgefordert. Ich glaube, Hillary ist dadurch eine bessere Kandidatin geworden.« Nun müssten sich die Demokraten aber ganz auf die Herausforderung durch den Republikaner Donald Trump konzentrieren. AFP/nd
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