SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
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SWR2 Musikpassagen
Der Biss der Tarantel
Die Pizzica von Apulien
Von Anke Behlert
Sendung: Sonntag, 20. März 2016, 23.03 Uhr
Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff
Produktion: SWR 2016
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des
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Musik: Uccio Aloisi - "Stornelli"
Heute: Der Biss der Tarantel - Die Pizzica von Apulien. Am Mikrofon ist Anke Behlert.
Musik: Uccio Aloisi - "Stornelli"
Heute begeben wir uns auf eine Reise in den äußersten Südosten Italiens, in die Region,
die gemeinhin als der Absatz des italienischen Stiefels bezeichnet wird: das Salento in
Apulien. Begrenzt von Adria und Ionischem Meer gibt es hier traumhaft schöne
Küstenabschnitte, endlose Olivenhaine und unzählige Kakteen. Lange ist das Salento eine
der ärmsten Regionen Italiens gewesen, die Menschen waren hauptsächliche Bauern, die
sich in den heißen Sommern auf den Feldern abmühten. Dort kam es hin und wieder zu
Begegnungen mit einer eher unangenehmen Kreatur, der Tarantel. Der Biss dieser
mythischen Spinne konnte laut Legende nur durch ein Ritual aus Musik, Tanz und Farben
geheilt werden - dem Tarantismo.
Musik: Unbekannter Interpret - Pizzica
Für das Tarantismo-Ritual kommen die Musiker in das Haus der Betroffenen, der
sogenannten Tarantati, und spielen so lange, bis er oder, in den meisten Fällen, sie,
geheilt ist. Die Autorin Teresa de Sio beschreibt das in ihrem Roman "Lass den Teufel
tanzen" so:
"Don Vincenzo Epifani rückt das Handtuch über seinen Schultern zurecht, klemmt sich die
Geige unter das Kinn und beginnt mit einer Abfolge von Akkorden. Do, do, do fragt sich die
Geige mit einem zischenden Laut. Do, do, do kommt das Echo der Zieharmonika von Don
Luigi wie zur Bestätigung. Dann greift Uccio Blasi zur Gitarre und schlägt die ersten Töne
an. Donna Aurelia singt: "Alle Brünnlein sind versiegt, mein armes Lieb, es verdurstet."
Musik: Alla Bua - "Fior di tutti i fiori"
Bei Teresa de Sio wurde das 12-jährige Mädchen Archina gebissen. Da die Kur am ersten
Tag noch nicht den erhofften Erfolg gebracht hat, wird sie am nächsten fortgesetzt.
"An diesem zweiten Tag [...] werden von Neuem die Nachbarn kommen, um der Musik zu
lauschen, das von der Tarantel gebissene Mädchen zu bestaunen und zu sehen, ob der
Teufel und das Gift heute ihren Körper verlassen werden. [...] Heute schlägt Donna Aurelia
vor, das Konzert gleich mit der Pizzica des heiligen Paul zu beginnen, da das junge
Mädchen auf diese Tarantella besonders gut angesprochen und gleich mit dem Tanzen
angefangen hat. "Oh heiliger Paul von Galatina, schenk uns heute deine Gnade, oh
heiliger Paul von Galatina, schenk uns Gnade für diese Tochter."
Musik: Officiana Zoè - "Santu Paulu I"
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Diese Tradition hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert, wie auch der Musiker Angelo
Cordella zu berichten weiß. Er ist Jahrgang 1930, mit 12 Jahren hat er angefangen,
Akkordeon zu spielen.
"Ich bin oft auf Festen aufgetreten und auf dem Weg dorthin habe ich auch schon ein
bisschen gespielt. Wenn ich in die Nähe der Stadt Galatina kam, musste ich aufhören. Die
Tarantate haben die Musik gehört, sind auf den Wagen gesprungen und haben den Weg
versperrt. In Galatina habe ich vor der Kirche weitergespielt. Dort konnten sich die
Tarantate austoben, aber es durften keine roten Gegenstände in der Nähe sein, sonst
konnten sie gefährlich werden."
In Galatina steht die kleine Kirche des Heiligen Paul, dem Schutzheiligen für alle von der
Tarantel Gebissenen.
Musik: Angelo Cordella - Mazurka
Gesungen wurden die traditionellen Stücke im regionalen Dialekt, der stark vom StandardItalienisch abweicht. Außerdem wurde auch im Griko-Dialekt gesungen, der in der
sogenannten Grecia Salentina gesprochen wird und alt-griechische und italienische
Elemente enthält. Die starke Verwurzelung im Dialekt war unter anderem ein Grund,
warum Mitte des 20. Jahrhunderts die Popularität der Pizzica abnahm, erzählt Mauro
Durante. Er ist der Bandleader der Canzoniere Grecanico Salentino, einer der
bekanntesten Gruppen des Salento. Sie wurde 1975 von Durantes Eltern gegründet und
existiert heute in der zweiten Generation.
"1975 haben sich die Leute für ihre Wurzeln geschämt. Es gab eine Kampagne zur
Förderung des Standard-Italienisch, gegen Dialekte. Alles was damit zu tun hatte wurde
als ärmlich und ignorant betrachtet, also auch die Musik. In der Werbung hat man sich
über die Bauern lustig gemacht, die nicht richtig Italienisch sprechen konnten oder die
alten Lieder gesungen haben. Die Leute wollten deshalb dieses schlechte Image
loswerden. Canzoniere haben damit angefangen, die alte Musik wieder auszugraben. Und
sie haben sie auch live gespielt. Das Publikum hat junge Leute gesehen, die auf der
Bühne die Lieder ihrer Großeltern gespielt haben."
Musik: Canzoniere Grecanico Salentino - "Comu è bellu"
Canzoniere Grecanico Salentino waren Ende der 70er die erste Folkrevivalband, die den
alten Liedern neues Leben einhauchte. Seit Anfang der 90er gibt es eine zweite Welle von
Bands, die traditionelle salentinische Musik spielen. Eine davon waren zum Beispiel
Canzoniere di Terra d'Otranto. Hier sind sie mit dem Stück "Lu vecchiu".
Musik: Canzoniere di Terra d'Otranto - "Lu vecchiu"
Der Arbeitsraum von Mauro Durante ist vollgestopft mit dutzenden Instrumenten wie
Gitarren, Geigen und anderen Saiteninstrumenten, Akkordeons, Percussioninstrumenten
und dem Wichtigsten: dem Tamburello. Genauer gesagt hat er etwa 30 verschiedene. Das
Tamburello steht für die Pizzica und die Gegend von Salento wie kein anderes Instrument.
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Es sieht aus wie ein Tamburin und wird meist mit dem Daumen oder einem kleinen
Holzstock gespielt.
"Es gibt viele Leute, die großartige Tamburello-Spieler sind. Es gibt verschiedene
Techniken. Heute spielen die meisten mit dem Daumen und drehen ihren Arm, um diesen
kontinuierlichen Beat zu erzeugen."
Soundbeispiel Tamburello
Einer der bekanntesten Tamburello-Spieler war Uccio Aloisi, der auch als einer der besten
Sänger gilt. Als Aloisi 2010 im Alter von 82 Jahren starb, versammelten sich hunderte
Menschen in den Straßen zu seinem letzten Geleit und spielten ihre Tamburello. Hier ist
Uccio Aloisi mit seiner Gruppe und dem Stück "Pizzica degli Ucci".
Musik: Uccio Aloisi - "Pizzica degli Ucci"
Die starke Präsenz der katholischen Kirche, speziell im Süden Italiens, konnte dem
Glauben an die heilenden Kräfte des Pizzica Tarantate nichts anhaben, sagt Mauro
Durante.
"Die Kirche hat gar nicht erst versucht, diesen Volksglauben zu verbieten. Er ist
stattdessen ein Teil der Liturgie geworden. Der Heilige Paul ist der Beschützer der
Tarantate. In vielen Liedern bitten die Leute um seine Gnade."
Musik: Arakne Mediterranea - "Ci è Taranta"
Neben der Heilung, hat Pizzica auch noch andere Funktionen. Die Musik dient auch der
romantischen Werbung und wurde auf Dorffesten aller Art gespielt. Im sogenannten
Messertanz duellieren sich zwei Männer, zwei Finger stellen das Messer dar und um sie
herum steht der Kreis der Tamburello-Spieler.
Musik: Taranteye - La Pizzica di San Vito
Seit Mauro Durante die Canzoniere Grecanico Salentino von seinem Vater übernommen
hat, hat es einige Änderungen gegeben. Die älteren Musiker haben jüngeren Platz
gemacht und Durante hat die Musik in eine neue Richtung gelenkt.
"Ich möchte auch Musik für ein internationales Publikum machen, unsere Live-Auftritte
sollen auch auf Festivals funktionieren. Unsere Songs sollen eine Verbindung von der
Vergangenheit in die Gegenwart sein. Die Philosophie der Band hat sich nicht geändert,
wir spielen alte Songs, aber wir fügen ihnen etwas neues hinzu. Sie sollen nicht
angestaubt oder altbacken klingen. Und wir wählen auch nur solche Stücke aus, deren
Inhalt auch heute noch relevant ist. Bei den neuen Stücken beschreiben wir in den Texten
unsere Realtität. Es ist wichtig, dass traditionelle und moderne Folkmusik sich mit der
Wirklichkeit auseinandersetzt."
Musik: Canzoniere Grecanico Salentino - Tienime tata
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War für den Erfolg des Tarantismo-Rituals von jeher ein gewisser Aberglauben von Nöten,
werden Pizzica und die anderen traditionellen Genres heute kaum noch gespielt, um
jemanden von einem Spinnenbiss zu heilen. Aber ganz verloren ist der therapeutische
Aspekt nicht, findet Mauro Durante.
"Wenn du heute eine Pizzica Tarantate spielst, will niemand geheilt werden. Man muss ja
daran glauben, dass man die Musik braucht, um geheilt zu werden. Ohne den Glauben
daran, ist das Ritual sinnlos. Mit unserem letzten Album "40" beziehen wir uns auf diesen
Glauben. Wir haben heute mit unsere eigenen Dämonen zu kämpfen. Musik und Tanz
können helfen, Unterschiede zu überwinden. Sie können den Geist der Solidarität wieder
herstellen. Mir gefällt die Idee des Tarantismo, dass keiner zurückgelassen wird, auch
wenn man ein bisschen verrückt ist und diese seltsame Therapie braucht. Heute ist das
etwas komplizierter."
Musik: Canzoniere Grecanico Salentino - Nu te fermare
Für die Bewohner des Salento ist Pizzica wieder ein Bestandteil des täglichen Lebens.
Einst als hinterwäldlerisch verpönt ist es heute ein Verkaufsargument und damit für die
Tourismus-Industrie interessant. Jeden Sommer finden verschiedene Festivals statt, die
sich dieser Musik widmen. Das größte ist La Notte della Taranta, das im August an
mehreren Orten stattfindet und mittlerweile hundertausend Besucher anzieht. Heute gibt
es unzählige Gruppen, die mehr oder weniger traditionelle Varianten des Pizzica spielen.
Wie bei allen Genres findet auch hier eine Vermischung statt mit anderen Arten von
Folkmusik, zum Beispiel mit arabischen, südamerikanischen oder auch jamaikanischen
Soundelementen. Mit einem solchen Pizzica-Fusion-Stück des Künstlers Eugenio Bennato
geht die heutige Sendung zu Ende.
In den Musikpassagen hörten Sie "Der Biss der Tarantel - Die Pizzica von Apulien." Am
Mikrofon war Anke Behlert, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.
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